Bob Marley – Chancesare
Als Bob Marley im Mai dieses Jahres starb, geschah Überraschendes: Island-Records, seit 1973 seine Plattenfirma, teilte mit, entgegen allen branchenüblichen Gepflogenheiten wolle man aus der Trauer kein Geschäft machen. Keine Marley-Platte werde zusätzlich veröffentlicht, nicht mal ein „GreatestH its“-Album sei vorläufig geplant.
So weit, so gut. Die Konkurrenz aber schlief nicht, und der amerikanische Entertainment-Riese Warner Communications wurde fündig. Er grub eine LP aus, die Marley 1968 in Kingston unter der Regie des ehemaligen Managers von Johnny Nash, Danny Sims, aufgenommen, aber nie veröffentlicht halte. Mit gutem Grund: Nur die zwei Kompositionen „Reggae On Broadway“ und „Soul Rebel“ verraten die typische Marley-Handschrift, der Rest ist miserabel, ist das schlechteste Material, das er überhaupt jemals aufgenommen hat.
Die Produktion dieser LP fiel in eine psychisch labile Phase: Marley war aus den USA zurückgekommen, wo er zunächst in einer Autofabrik am Fließband gearbeitet und dann vor der Einberufung zur US-Armee die Flucht ergriffen hatte. Er hing orientierungslos in Kingston herum, und erst als er wenig später mit Marihuana geschnappt wurde und eine Zeitlang ins Gefängnis mußte, begann für ihn die intensive Auseinandersetzung mit der Rasta-Religion, die seine kreative Kraft vollständig weckte und vervielfachte. Die Platten, die er anschließend mit Lee Perry einspielte („Airican Herbsman“ und „Rasta Revolution“) dokumentieren den Wandel.
Wenn auf der Cover-Rückseite von CHANCES ARE kleingedruckt zu lesen ist, die Songs dieser LP seien „von 1968 bis 1972“ aufgenommen worden, so klingt das mehr als ungereimt. Anfang der Siebziger Jahre hat Marley so schlechte Titel nicht mehr produziert. Doch dies ist nebensächlich, angesichts anderer Machenschaften, die schlichtweg unverschämt sind. Obwohl die Aufnahmen dieser LP über zehn Jahre alt sind, wurde die Plattenhülle mit Fotos aus Marleys letzten Lebensjahren gestaltet. Die gesamte Hülle erweckt den Eindruck, hier würden Aufnahmen veröffentlicht, die er noch kurz vor seinem Tode hat einspielen können. Auch der Sound der acht Songs klingt stellenweise ganz modern: Alle Titel wurden im Studio überarbeitet und neu abgemischt, zum Teil sogar durch neue Instrumente angereichert (obwohl das Cover von diesem letzten „Kunstgriff“ nichts verrat). Marleys Stimme tönt meist zerquetscht im Hintergrund, und das macht selbst den für Marley-Spezialisten vielleicht interessanten Ska-Einschlag in „Soul Rebel“ zunichte.
Marleys Witwe Rita hat übrigens versucht, die Veröffentlichung von CHANCES ARE zu verhindern. Merkwürdig, daß Danny Sims im Hüllentext ihr ausdrücklich dankt, und darüberhinaus noch weiteren Personen aus Marleys engster Umgebung. Wer gewinnt da nicht unwillkürlich den Eindruck, hier habe eine ganze Familie mitgeholfen, Marleys kreativen Schlußpunkt der Nachwelt zugänglich zu machen?
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