Der Über-Udo :: Rückkehrer des Monats
In den vergangenen Jahren war es schick, den Mann mit Hut nicht schick zu finden. Vergessen waren seine Verdienste als Pionier des deutschsprachigen Rock ’n‘ Roll, vergessen waren auch die immense Verehrung und Aufmerksamkeit, die ihm im Zenit seines Erfolgs beide Teile des noch ungeeinten Deutschlands entgegen gebracht hatten. Wer weiß, vielleicht hätte es ohne den „Sonderzug nach Pankow“ und ohne das „Mädchen aus Ostberlin (Wir wollen doch einfach nur zusammen sein)“ -für die Menschen in der damaligen DDR Zeichen des Aufbruchs – noch ein Weilchen länger mit der Wiedervereinigung gedauert? Und heute: „Udo Lindenberg? Das ist doch dieser abgehalfterte Sprücheklopfer aus längst vergangenen Zeiten“, ist es sogar aus berufenen Mündern zu hören, die es eigentlich doch besser wissen müssten. Dabei wären sowohl die Neue Deutsche Welle, als auch der derzeit aktuelle Neudeutsche Rap ohne die Feldarbeit des schnodderigen Veteranen inhaltlich ein ganzes Stückchen ärmer geraten. Schließlich verstand es Udo Lindenberg als erster Entertainer nach dem durch Drittes Reich und Zweiten Weltkrieg entstandenen künstlerischen Vakuum, sich mit einer gehörigen Portion Selbstironie, aber auch Selbstverständlichkeit an die doppelbödige deutsche Liedkultur der Zwanziger Jahre anzunähern. Überfällig war er schon lange, doch realisiert wurde der Karriere-Rückblick DAS 1. VERMÄCHTNIS – 50 SONGS AUS 30 JAHREN erst jetzt. Maßgeblichen Anteil daran hatte Wolfgang Michels, selbst Deutsch-Rock-Kultfigur (mit seiner Band Percewood’s Onagram sowie als Solokünstler), und heutzutage Spiritus Rector exzellenter Wiederveröffentlichungen des Telefunken/Decca-Backkatalogs. Dank seiner Initiative erschienen in den vergangenen drei Jahren schon Lindenberg-Raritäten wie dessen erstes, noch englischsprachiges Solowerk, das 1977 nur für den britischen und US-amerikanischen Markt konzipierte NO PANIC (ein von Michael Chapman eingeenglischter Querschnitt durch die frühen Erfolgsjahre), sowie zwei Compilation-Alben aus Lindenbergs Teldec-Ära erstmalig auf Silberling. Die Songauswahl für den in kühles schwarz-weiß verpackten, quadratischen Hardbox-Schuber trafen Udo Lindenberg und Wolfgang Michels, die sich noch aus den 60er Jahren in Hamburg kennen, gemeinsam. Über 6oo Titel standen für das 3-CD-Box-Set mit beigelegtem 48-seitigem, inforeichen und toll bebilderten Booklet zur Auswahl. Von den zunächst 100, dann 80 Tracks, die für den ersten Teil einer lose in den kommenden Jahre zur Veröffentlichung geplanten Retrospektive-Reihe ausgesucht wurden, blieben in der Endausscheidung schließlich 50 übrig. Inhaltlich entschied sich das Duo Infernale für eine vielseitige Mixtur aus Songklassikern („Alles klar auf der Andrea Doria“, „Cello“, „Jonny Controlletti“, „lch lieb‘ Dich überhaupt nicht mehr“, „Wozu sind Kriege da?“, „Reeperbahn“), hochwertigen Album-Tracks („Hermine“, „Gustav“, „Wo ich meinen Hut hinhäng…“,“Club der Millionäre“) sowie zahlreichen Kollaborationen mit anderen Künstlern und diversen Raritäten. Da staunt man über die Anzahl an einzigartigen Duetten, die in drei Dekaden mit so unterschiedlichen Kollegen und Freunden wie Selig („Riskante Spiele“), Esther Ofarim („Salomon – Das Hohe Lied“), Nina Hagen („Romeo & Julia“), Leatta Galloway („Baby, wenn ich down bin“) und der unvergessenen, verstorbenen Filmdiva Marlene Dietrich („Wenn ich mir was wünschen dürfte“, „Illusions“) entstanden sind. Im Obskuritätenkabinett finden sich Preziosen wie eine knackig rockende, von den Rolling Stones inspirierte Version von „Mädchen“, eine bislang unveröffentlichte harsche Abrechnung mit Nazi-Deutschland („Berlin – Father You Should Have Killed Hitler“), aber auch die herrlich hymnische Huren-Ballade „Sternentaler“.
Den Tabubrecher mit sozialkritischem Touch entdeckte der mittlerweile stets in Nadelstreifenanzug und mit braunem Hut ausgestattete Entertainer schon früh in sich: Udo Lindenberg bricht eine Lanze für verwegene Männerbünde („Ich bin Rocker“), propagiert mit der 1973er Hymne „Ganz egal (Ob Du ein Junge oder Mädchen bist)“ die Bisexualität und macht auch keinen Hehl aus seinem Hang für ganz junge Dinger („Sie war gerade 16 Jahr“). Seltsamerweise wurden Lindenbergs allererste Aufnahmen aus der Zeit um 1969/1970 („Come On.Let’s Be Together“, „AII My Love Girl“), als er noch musikalischer Stammgast im Hamburger Jazzhouse (heute: Knust) war, ans Ende von CD 1 angehängt – was das an sich streng chronologische Konzept der Box etwas durcheinander wirbelt. Die Halbwertszeit von Pop-Künstlern wird seit einigen Jahren immer kürzer: Es dominieren schöne Gesichter ohne was dahinter, und Unterhaltung ohne jegliche Haltung. Auch wenn Udo Lindenberg – man mag sich sicherlich darüber streiten – mittlerweile künstlerisch in die Jahre gekommen zu sein scheint, tut es gut, einen engagierten, routinierten und begnadeten Profi wie ihn unter uns zu haben. Denn noch immer können nachkommende Generationen von dem Propheten der deutschsprachigen Musikkultur profitieren.
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