Die Ärzte: Berlin, Cinestar-Kinocenter :: Extremvorlesing

Tief unten in den neuen Katakomben von Berlin sitzen die drei Oberpunks der Hauptstadt an einem Tisch mit Leselampen, Wein-und Wassergläsern. Sitzen da auf einer Kinobühne, grinsen breit, und Bela B. sagt: „Hochkultur statt Ficken.“ Einen schönen guten Abend mit den Ärzten! Und willkommen bei der besten Band der Welt! Nur dass die beste Band der Welt an diesem Abend, eine Woche nach ihrem vorerst letzten Gig auf Sylt, nicht Songs vorträgt wie „Schrei nach Liebe“ oder „Manchmal haben Frauen etwas Haue gern“. Nein, diesmal ist alles anders. Denn die Ärzte lesen vor. Und zwar aus ihrer Mitte September erschienenen Bandbiografie, die „Ein überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf“ betitelt ist, schwerer als ein Sixpack Schultheiss wiegt und unter anderem Zitate enthält wie etwa dieses Dankeswort Farins an die Fans: „Ihr habt uns drei Vollidioten reich gemacht.“ Das CineStar unter dem Sony Center ist ausverkauft – wie die gesamte Lesereise des Anarcho-Trios. Vor allem junge Mädchen sind es, die in die Polster sinken, um amüsiert zu hören, was die Ärzte mit 17 so alles getrieben haben. Das ist inzwischen auch schon wieder mehr als 20 Jahre her. In dieser Zeit scheint sich zwischen Bela B. und Farin Urlaub eine eheähnliche Beziehung entwickelt zu haben, die an diesem Abend einmal mehr offensichtlich wird: Der Eine sagt etwas, der Zweite wendet es, der Erste dreht es noch einmal, bis alle alten Witze ins vollständig Absurde kippen und am Ende immer wieder lustig sind. Dazwischen sitzt der stille Rod und lacht in sich hinein. Am Anfang lesen sie noch in verteilten Rollen Anekdoten von zerstörten Unterkünften, abgelegten Managern und ihren Pimmeln. Neben ihnen hockt der offizielle Ärzte-Fanbetreuer Markus Karg. Der Mann aus Wolfsburg glänzt vor Stolz, weil er das Buch geschrieben hat. Doch allzu lange währt die Andacht nicht, denn die Stars klagen über Langeweile, fordern zur La-Ola-Welle und zum Applaudieren auf. Dafür beschimpfen sie ihr Publikum, sich selbst, das Buch und Markus Karg. „Extremvorlesing!“ wünscht sich Farin Urlaub. Das bedeutet, dass einigermaßen bedauernswerte Fans an Stelle ihrer Helden auf die Bühne kommen und dort Schweinereien lesen müssen. Dass mal einer auf dem Tisch tanzt und ein anderer sein Glas zerschlägt. Dass Bela aus der Hosentasche ein zerknicktes Comic-Heft hervorzieht und die Ärzte daraus lesen. Schließlich wenden sie sich doch wieder der Ärzte-Bibel zu und lesen sogar Fotos vor. Und den stolzen Preis von 98 Mark. Den nimmt Bela zum Anlass für die Feststellung: „Ich bin käuflich, und das liegt in der Natur der Sache.“ Bandkumpel Farin mag da nicht nachstehen, erläutert: „Aus dem Osten holen wir uns das Begrüßungsgeld zurück.“ Am Ende fragt jemand, wie alt denn die Idee des Buches sei. Dies tut er in strengem Sächsisch, was die Ärzte sichtbar heiter stimmt. Doch Bela fasst sich und erklärt sehr würdevoll: Die „Gurkentruppe“ Ärzte sei dereinst nur gegründet worden, um nach 20 Jahren dieses Buch zu machen. Also habe die Band sich nach Kräften so benommen, dass es lesenswert und teuer würde. Denn der Markt sei arm an guten Büchern über Rock’n’Roll. Mag sein. Und arm an Extremvorlesern auch.

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