Diverse – The Rolling Stones Rock And Roll Circus
Zeit: 10. und 11. Dezember 1968. Ort: Ein BBC-Fernsehstudio in Nord-London. Für zwei Tage bevölkern die Rolling Stones mit einer kunterbunten Truppe aus Musikern, Artisten, Fans, und Regisseur Michael Lindsay-Hogg (‚Ready, Steady, Go!‘) die Kulissen. Anlaß: die Aufzeichnung einer TV-Show, die in die Rockhistorie als ‚Rock And Roll Circus‘ eingehen soll. Doch der Spaß, der 30.000 Pfund kostet, wird nie ausgestrahlt und schlummert 28 Jahre im Archiv. Der Grund der Verbannung ist ebenso mythenumrankt, wie banal: Die Stones waren von ihrem eigenen Auftritt in der Manege wenig angetan. Pläne, ihren Set im Colosseum von Rom zu wiederholen, wurden durch den tragischen Tod von Brian Jones im Juni ’69 zunichte gemacht. Nach der gerichtlichen Trennung von Manager Allen Klein 1970 wanderten die Rechte am ‚Rock And Roll Circus‘ in dessen Besitz. Hie und da tauchten Teile des Spektakels auf Bootlegs auf. In den 90ern machten Gerüchte über einen baldigen CD-Release die Runde. Doch nichts passierte. Im Frühjahr ’95 schließlich kündigte Kleins Company ABKCO das Paket erneut für den folgenden Sommer an. Rechtliche Schwierigkeiten legten das Projekt auf Eis. Erst jetzt liegt es vor. Aufgemacht im graphisch verspielten Pappschuber mit ausführlichem Booklet erinnert der tontechnisch auf den neuesten Stand gebrachte ‚Rock And Roll Circus‘ an eine Ära, in der das Rockgenre ins Erwachsenenstadium überwechselte. Für die Glimmer Twins und Co. war jene Zeit der Studentenunruhen, des Vietnamkrieges, des exzessiven Marihuana-Konsums und der sexuellen Befreiung entscheidende Jahre. Mit der von Jagger und Lindsay-Hogg ersonnenen Show wollten sie nach dem Psychedelic-Ausrutscher ‚Their Satanic Majestics Request‘ ihre Rückkehr zum erdigen Rock’n’Blues zementieren. Befreundete Stars, Sternchen und Newcomer versammelten sich in Circus-Atmosphäre mit echten Tigern, Feuerschluckern, Liliputanern und Akrobaten. Eingeleitet wird die einstündige Show mit dem Einmarsch der Artisten durch einen offensichtlich bekifften, als Zirkusdirektor (die Rolle war ursprünglich Brigitte Bardot zugedacht) verkleideten Mick Jagger mit schulterlangen, dunkel gefärbten Haaren und schwarzem Kajalstrich. Die damaligen Newcomer Jethro Tüll eröffnen den musikalischen Reigen mit der an Captain Beefheart angelehnten Bluesparodie ‚A Song For Jeffrey‘. Den verhinderten Tull-Gitarristen Mick Abrahams ersetzte an jenem Tag übrigens der spätere Black Sabbath-Axemann Tony Iommi. Die in der Umbruchphase befindlichen Who brillieren bei der achtminütigen Mini-Opera „A Quick One (While He’s Away)“ durch energisch-druckvolles Spiel und verteilte Rollen. Ebenfalls Insiderthema war der farbige Blues-purist Taj Mahal mit seiner Band, die mit ‚Ain’t That A Lot Of Love‘ ihr Debüt gaben. Eine reichlich nervöse Marianne Faithfull zelebriert mit angekratztem Timbre den Goffin/King-Song ‚Something Better‘ fast als Poetry-Lesung. Fast originalgetreu klingt die Version von ‚Yer Blues‘, der von Lennon angeführten All-Star-Formation Dirty Mac (eine Anspielung auf Lennons damalige Lieblinge Fleetwood Mac), die sich aus Keith Richards, Eric Clapton und Mitch Mitchell (Jimi Hendrix Experience) rekrutierte. Wie immer avantgardistisch bis schrullig präsentiert sich Yoko Ono, die zu den von Dirty Mac sowie Geigenvirtuose Ivry Gitlis unerstützten selbstkomponierten Rock-Läufen von ‚Whole Lotta Yoko‘ markerschütternde, spitze Schreie absondert. Mit einem typisch nasalen „And Now!“ kündigt John Lennon den Auftritt der Fab Five aus Dartford an. Allen Befürchtungen zum Trotz klingen die Stones — zum letzten Mal mit Brian Jones — gar nicht so übel, wie ihre Selbsteinschätzung vermuten lassen würde: Dem kraftvollen, durch Keith Richards nervzerrendes Riff dominierten Opener ‚Jumpin‘ Jack Flash‘ folgt eine von Stones-Studiopianist Nicky Hopkins gestützte City-Blues-Version von ‚Parachute Woman‘. Brians wunderschöne Bottleneckeinschübe untermalen das akustische ‚No Expectations‘, einen weiteren Auszug aus dem gerade frisch erschienenen Comeback-Album BEGGARS BANQUET. Noch recht fragmentarisch klingt das um gut vier Minuten kürzere, erst im kommenden Jahr für LET IT BLEED eingegespielte ‚You Can’t Always Get What You Want‘. Rocky Dijons Percussion, Brians Maraccas, Keiths Gitarrensplitter und Jaggers satanisches Impersonationsgehabe verleihen ‚Sympathy For The Devil‘ eine magisch-ekstatische Aura. Das Schlußlicht ‚Salt Of The Earth‘ hingegen, bei dem die durch den löstündigen Studioaufenthalt schon reichlich überstrapazierte Gästecrew miteinstimmen durfte, ist allerdings nichts weiter als ein Sing-A-Long zum Halbplayback. Als verloren geglaubtes Puzzlesteinchen spiegelt der historische Artefact ‚Rock And Roll Circus‘ die hoffnungsvolle Aufbruchstimmung und den Community-Spirit der 60er Jahre auf originäre Weise wider. Jedenfalls hat man die Rolling Stones noch nie so locker vor laufender Kamera agieren sehen.