Forever Changing – The Golden Age Of Elektra Records 1963-1973
Unsere Geschichte beginnt in New York, im Dezember 1950. Am Anfang stehen Hölderlin, Rilke, die Sopranistin Georginna Banister – und Jac Holzman, Jahrgang 1931, Sohn eines Arztes, Rebell wider sein gutbürgerliches Zuhause, Musikfan und bereits zu Collegezeiten in Annapolis/Maryland versierter Studio-Experte. Dort erlebt er auch einen Auftritt von Miss Banister, die Gedichte der deutschen Romantiker rezitiert, zur Musik des Komponisten John Gruen. Der 19-Jährige ist begeistert, überredet die beiden zu Aufnahmen in einem New Yorker Studio, wo an besagtem Dezembertag in einer Drei-Stunden-Session das Album NEW songs by john gruen entsteht, das im März 1951 erscheint. Von der 500er-Auflage ordert der Handel 100 Exemplare und verkauft – kein einziges. Doch Holzman, der mittlerweile auch den Plattenladen The Record Loft eröffnet hat, lässt nicht locker und hat im Jahr darauf mit der zweiten Veröffentlichung JE AN RITCH1E SINGING THE TRADITION AL SONGS OF HER KENTUCKY MOUNTAIN FAMILY, den erhofften Erfolg. Es folgen weitere Alben mit Folk, Blues und traditionellen Songs, doch die goldenen Jahre des Labels beginnen erst in den frühen Sechzigern und erstrecken sich exakt über jene Dekade, die jetzt von Rhino, dem Spezialistenlabel für spektakuläre Wiederveröffendichungen, in Form der wunderbarst aufgemachten und erlesenst ausgestatteten Fünf-CD-Box FOREVER CHANGING – THE GOLDEN AGE OF ELEKTRA RECORDS 1963-1973 präsentiert wird. 117 Songs, Gesamtlaufzeit sechseinhalb Stunden, dazu ein 76-seitiges, hinreißend bebildertes, mit informativen Kurzbiografien und Essays ausgestattetes Begleitbuch: Das sind lediglich die Eckdaten dieser göttlichen Wundertüte, in der Folk-Fans und Blues-Connaisseure, Psychedelic-Rock-Freunde, Prä-Punkrock-Aficionados und alle Liebhaber des Obskuren und Bizarren, des Verspielten und Verspulten nach Herzenslust wühlen dürfen. Interessant genug: Trotz all der gegensätzlichen Stil- und Spielarten verbietet sich bei dieser Kompilation jeder Gedanke an Beliebigkeit von selbst, bleibt jene nicht genau fassbare, indes allzeit deutlich spürbare Label-Identität stets erhalten. Die wunderbare Reise durch Songs und Sounds nimmt ihren Anfang mit Judy Collins‘ anrührender Lesung des Pete-Seeger-Klassikers „Turn! Turn! Turn!“. Ein schönerer und passenderer Auftakt ließe sich nicht denken, denn schließlich waren es der Vertrag mit der damals 22 Jahre jungen Folksängerin und ihr im Oktober 1961 erschienenes Debütalbum maid of constant sorrow, die das Elektra-Label endgültig aus der Nischenecke der Minderheitenbeschallung holten. Im weiteren Verlauf begegnet man lieben alten Bekannten wie Phil Ochs, dessen unsterbliche Antikriegs- und Bürgerrechtshymne „I Ain’t Marching Anymore“ hierzu hören ist, Geoff Muldaur,Tom Paxton, dem unvergessenen Tim Buckley („Wings“, „Once I Was“, „Sing A Song For You“), der unvergleichlichen Nico („Frozen Warnings“) oder dem schändlicherweise leider nur noch Spezialisten bekannten Mickey Newburv („The Future’s Not What It Used To Be“). Man freut sich an den verspielten Spinnereien der Incredible String Band und an den beizeiten wirren, aber stets spannenden Versuchsanordnungen von Obskuranten wie der Even Dozen Jug Band, The Zodiac Cosmic Sounds, Earth Opera oder Koerner, Ray & Glover. Dominieren auf CD 1 noch die eher puristischen Folkklänge, kommen später auch Blues, etwa von der Butterfield Blues Band und von Lonnie Mack, sowie Westcoast-Rock, düster poetisch von den Doors („Moonlight Drive“, „Light My Fire“, „Riders On The Storni“), hippiesk versponnen von Love featuring das durchgeknallte Genie Arthur Lee (deren berückend barock arrangiertes „Alone Again Or“ definitiv einer der Höhepunkte dieser Box ist) zu ihrem Recht. Man entdeckt die Holy Modal Rounders mit ihrem „Bird Song“ wieder neu (Stichwort: „Easy Rider“), kramt, nachdem man mit Iggy und den Stooges zu „I Wanna Be Your Dog“ und „Down On The Street“ gegen die Wand gerannt ist, endlich mal wieder FUN house aus dem Regal, erinnert sich daran, dass Queen-Platten (hier enthalten: „Keep Yourself Alive“) ja in den USA tatsächlich auf Elektra erschienen sind, freut sich an Carly Simons klassischem Nr.-1-Hit „You’re So Vain“ oder über „Don’t Be Long“ von den Beefeaters, wie sich Jim (noch nicht Roger) McGuinn, David Crosby und Gene Clark nannten, bevor sie Byrds wurden und abhoben. Und irgendwann erwischt man sich dabei, wie man sich eben das x-te Bier aufgemacht hat, zu „Crossroads“ von Eric Clapton St Powerhouse swingt, mit John B. Sebastians Lovin‘ Spoonful „Good Time Music“ trällert oder mit den monoton -derben Politpunks von MC 5 der Welt ein „lack out the jams. motherfuckers“ entgegenplärrt – und sich „still crazy after all these years“ fühlt. Ihren unwiderstehlichen Reiz erhalten diese heiß geliebten, halb erinnerten, halb vergessenen, mitunter peinlichen, aber immer wundervollen Songs durch ein überraschendes Paradoxon: Sie reportieren das Lebensgefühl von einst und klingen dabei oft heutiger als vieles aus der jüngeren Vergangenheit. Das Geheimnis dahinter? Vielleicht das, was Regisseur John Ford einen Protagonisten im Klassiker „The Man Who Shot Liberty Valance“ sagen lässt: „Unsere Legenden wollen wir uns erhalten, weil sie wahr geworden sind.
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