Grenzmusik

Zum Anfang die „härtere Haltte“ des knappen Dutzends schubladensperriger Platten, um die es hier gehen soll. Da wäre zunächst mal ganz starker Tobak: FUSION – Teo Macero Conducts The London Philharmonie Orchestra Featuring the Lounge Lizards. (Europa Records, EfA 08-8108) Kein „Fake Jazz“, sondern sinfonische Abenteuer, Maceros hochambitionierte „Film“-musik für abgehobene Melodramen – teils in den 50ern komponiert.

Die Lizards sind nur 15 wilde Minuten lang beteiligt. Ansonster herrschen verfremdete Gitarrensounds (Rio Kawasaki), verstörende Bläsersätze oder schwelgende Streicher. (4) Drei Frauen, für die Musik noch nie eine Etiketten-Frage war, haben in Paris LIVE AT THE BASTILLE (Sync Pulse Record 1789!) eine Platte aufgenommen, die belegt: Maggie Nichols ist eine Meisterin des Groteskgesanges, hinreißend komisch im Umgang mit alltäglichen Sprachgesten; Lindsay Cooper setzt das Fagott so überraschend ein, daß Klassiker und Jazzer gleichermaßen angesprochen bzw. verprellt sein dürften: mal lyrisch, mal elektronisch entfesselt. Einfühlsam am Krontrabaß: Joelle Leandre.(5) Ganz anders legen sieben Musiker aus der französischen Schweiz den Brückenschlag zwischen Uund E-Musik an: Debile Menthol haben – kurz vor ihrer Auflösung noch vor Ideen strotzend – BATTRE CHAMPAGNE (Rec Rec 06) eingespielt. Ein rhythmisch von Punk und Wave getriebener Umgang mit Rock, Jazz, Chanson und Klassik sowie einigen gänzlich unkonventionellen Klängen, der mich entfernt, aber aufs Angenehmste an die Honeymoon Killers erinnert. (5) Mittlerweile zehn Jahre lang hat das Duo Heiner Goebbels/Alfred Harth sich energisch und erfolgreich um Musik mit Konzept und Seele bemüht. Bildungsbürgers Sehnsucht nach Schönheit und punkverbundene Zerstörungslust: Für die politisch engagierte Weltmusik der Frankfurter gibt es keine Vorbilder; sie erinnern höchstens an sich selbst. So auch FRANKFURT-PEKING (Riskant 4011) – spannungsgeladenes Musiktheater für Kopf und Bauch. (4) Es wird beschaulicher: Da wäre zunächst der in Hamburg lebende Percussion- und Trommelspezialist Mark Nauseef. Auch auf seinem dritten Solo-Album WUN WUN (CMP 25) experimentiert er mit den Rhythmen exotischer Kulturen. Nicht im Sinne modischer Ethno-Trends; ohne ellenlange Klöppelarien. Seine an Stimmungen und Klangfarben reichen Kompositionen sind irritierende Begegnungen von Urwald und Elektronik, meditativem Gongspiel und hektischen Metren. Jack Bruce fügt sich mit Baß und Stimme chamäleongleich ins Konzept. (4) Fernost und Elektronik auch auf THE DREAMS OF CHILDREN (Teldec 6.25994) der amerikanischen Jazz(?)gruppe Shadowfax. Unverkrampft, aber leider auch ziemlich unverbindlich – was bei der esoterischen Richtschnur des Windham Hill-Labels nicht verwundert. (3) Wenn schon meditativer Schönklang, dann doch bittschön so konsequent wie bei dem SUNSINGER-Album (EfA 13-4701) des Sopransaxofonisten Paul Winter. Selbst harmonische Klischees gewinnen durch seine innige Spielweise neue Aussagekraft. Alles fließt, arpeggierte Akkorde (Piano, Orgel und Spinett) perlen, der Sound in der New Yorker St. John Kathedrale ist überwältigend. Ungetrübter Seelenbalsam, 1984 mit dem Preis der amerikanischen Independents ausgezeichnet. (4) Impressionistische Romantik: ein Feld, das Piano-Wunderknabe Joachim Kühn unermüdlich beackert. Arbeitstitel diesmal: DISTANCE (CMP 26). Wie wahr: Sowas läßt mich kalt. Das rauscht und plätschert – Klänge, die sich im Uferlosen verlieren. Eine Wohltat, wenn da mal ein kurzes „Theme“ für Konturen sorgt! Nur für unerschütterliche Sammler der eklektizistischen Alleingänge dieses beachtlichen Musikers auf nichtendenwollendem Irrweg. (2) Abschließend ein Schmankerl für Freunde der Computer-Musik, aber auch für alle, die sich über diesen nur in Ausnahmen wirklich experimentellen Bereich gern mal einen Überblick verschaffen wollen, ohne gleich beim ersten Anlauf einem musikalisch substanzlosen Maschinenklangler aufzusitzen.

Ulrich Rützel vom einschlägigen „Erdenklang“-Label hat ein Mammut-Doppelalbum zusammengestellt und ausführlich kommentiert: Rund zwei Stunden Musik von mehr als zwo Dutzend Interpreten. Schrilles und Banales, Klassiker und Entdeckungen von Laurie Anderson bis Yello, von Hubert Bognermeyer bis Eberhard Schoener (einer der lebendigeren Titel mit ’ner richtig menschlichen Stimme!) Die Geschmacksmuster dieses tönenden Kataloges haben für mich großenteils als Warnung vor ihren Urhebern Nährwert; erfreuliche Ausnahmen eingeschlossen. Musikalisch sind die Apparaturen augenscheinlich nicht sehr hoch entwickelt. Titel des Samplers: MUSIC FROM UTOPIA (Teldec 6.28650). Für die umfassende Information gibt’s eine (5).