Hildegard Knef, Worum geht’s hier eigentlich?

Weitab von der üblichen Schlagerhaftigkeit erprobt sich Hildegard Knef auf den beiden Platten aus den 70er Jahren meisterhaft zwischen Gospel, Funk, Jazz, Falkund Elektro-Pop. „Die Knef halte ich für ziemlich bürgerlich“, höhnte der Regisseur Rosa von Praunheim 1971 ungewohnt oberflächlich, als er das deutsche Multitalent samt Produzentengatten David Cameron beim Christopher Street Day im New Yorker Central Park kennenlernte. Heute wissen wir, die Knef, bis zu ihrem Tod vor drei Jahren Narkotika wie Morphium, Alkohol und Nikotin nicht gerade abhold, waralles andere als bürgerlich. Eine Selfmadewoman, die in einem seltsam gespannten Verhältnis zum deutschen Durchschnitt lebte, dabei ihr eigenes Image – wie späterauch David Bowie und Madonna – immer wieder neu zu entwerfen versuchte. Radikal lebte sie wie in einer Reality Soap ein Leben in der Öffentlichkeit, gleich ob sie frisch verliebt war, den Krebs bekämpfte oder mal wieder pleite war. Ahnlich wie ihr Schauspielerkollege Klaus Kinski inszenierte sie schon in den 50er Jahren ihren andersartigen Lifestyle, der sich erst durch die 68er auch im Bürgertum allmählich etablieren sollte. Sie experimentierte vehement, wechselte kreative Zuarbeiter wie Komponisten, Produzenten und Musiker von einer Saison zur nächsten, wandelte sich von der etablierten Chansonette mit schlagerhafter Attitüde zur ersten und damals auch einzigen Singer/Songwriterin mit Faihle für surreale Poetik. Das sensationelle Herzstück der intensiven Knef-Offensive zum 80. Geburtstag sind nicht – obwohl sämtlich unbedingt empfehlenswert – das 4-CD-Set ICH BIN DEN WEITEN WEG GEGANGEN, nicht die wieder aufgelegte üppige 7er-Box FÜR MICH SOLLS ROTE ROSEN REGNEN und auch nicht die Doppel-CD schöne Zeiten ihre unvergessenen Singles. Der 1. Preis der Knef-Feierlichkeiten geht an zwei bislang auf CD unveröffentlichte Alben aus den frühen 70er Jahren, auf denen sich Madame von einer künstlerischen Schärfe zeigt, wie sie nur im kurzen Zeitfenster der Ära des Psychedelik- und Prog-Rock möglich war. Auf dem schlicht KNEF (5) betitelten Werk aus dem Jahr 1970 ex- und implodiert. was die weite Welt behäbigen Entertainments bot, in einer halluzinogenen Klangorgie: gephaste Gitarren, suitenhaft Großorchestriertes, der intensive Rare Groove von „Im 80. Stockwerk“, die Folk-Moritat von der wandernden Birke in „Ich brauch‘ Tapetenwechsel“ – die Knef grenzenlos eklektizistisch im pelzwestigen und schlapphütigen Hippie-Gewand des Wassermann-Zeitalters. Ein Jahr später übertrifft sie die Erwartungen noch mit dem Meilenstein WORUM GEHT’S HIER EIGENTLICH? (5), einer mehr als kühnen Zusammenarbeit, abgehoben mitinszeniert vom seinerzeit erfolgreichen Les Humphries und seinen Singers zwischen dem sarkastischem Gegospele von „Was? Dir geht ’s gut?‘, urwüchsigem Jazz-Funk mit Sprechgesang („Ferienzeit“] und um gut eine Dekade vorweg genommenen Elektro-Pop im Titelsong – je nach Quelle rein zufällig im Kreativhimmel oder aber von der gemeinsamen Plattenfirma gestiftet. Warum beide Alben damals untergingen? Die Deutschen taten und tun sich halt schwer mit dem Experiment, zumal wenn es zuerst von einer charismatischen Frau präsentiert wird.

www.hildegardknef.de