Klang-Gebirge :: Radiohead – Kid A

Lange haben Radiohead auf den Nachfolger zu „OK Computer“ warten lassen. Jetzt legen sie die Latte wieder höher.

ROCK/EIECTRONICA 5 RADIOHEAD

Kid A

CAPITOL/EMIELECTROLA

Manche Bands schreiben Songs, gehen ins Studio und nehmen sie auf. Andere gehen ins Studio, entwickeln Songs und nehmen sie auf. Radiohead mieteten sich über ein dreiviertel Jahr in verschiedenen Studios ein, zuletzt im September ’99 im heimischen Oxford, arbeiteten bisweilen simultan an 50 bis 60 Songskizzen, verwarfen ganze Sessions, griffen Teile davon wieder auf, verwarfen sie wieder, schafften sich den Umgang mit allerlei elektronischen Apparaten drauf, kämpften mit Ego-Problemen und Kreativ-Blockaden, experimentierten hier, verzweifelten dort – alles, um einer Hypothek gerecht zu werden, die da heißt OK COMPUTER. Die Erwartungen an den Nachfolger von Radioheads ’97er-Grol?tat nahmen nicht gerade Druck von der ohnehin ambitionierten Band. Speziell Songschreiber Thom Yorke quälten Selbstzweifel, zudem hatte er-Sänger einer Gitarrenband sein Interesse an Gitarrenmusik und Gesang verloren, sich stattdessen in die elektronischen Avantgardismen des „Warp“-Labels versenkt. Hatte man sich während der Aufnahmen schon darauf verständigt, man werde sich trennen, sollte nichts Veröffentlichenswertes zustande kommen, ist es jetzt doch endlich da, das am heißesten erwartete Album des Jahres 2000: KID A. Wer die Fortsetzung der grandiosen Gitarrenstürme von OK COMPUTER sucht, wird wohl klar-nicht fündig werden. Aber auch das im Vorfeld beschworene synthetisch zischelnde Elektronik-Opus ist KID A nicht. KID A ist irgendwas dazwischen, wenn nicht revolutionär, so doch ein Entwurf davon, wie man Rockmusik weiterdenken kann, wenn man nicht der Ansicht ist, dass ein Drumcomputer zur Rockgitarre schon „modern“ ist. Modern ist KID A, doch nie futuristisch kalt oder glatt. Eher haftet dem Album über all seinen schimmernden Flächen, klanglichen Tiefen und dunklen Stimmungen etwas anheimelnd Analoges an. Schon beim Opener“Everything In Its Right Place“ umflirrt einen (trügerische?) Wärme in Gestalt eines E-Pianos, während Yorkes Stimme – von Jonny Greenwood zerhackt, geloopt, übereinandergelagert – sich im Laufe des Songs aufzulösen und mit dem sie umgebenden Klang zu verschmelzen scheint. Die Stimme als Klangfarbe-Yorkes neuer Ansatz, den er mit extremer Vocoder-Verfremdungauf dem sphärischen Titeltrack weiterführt, bevor das grandiose „The National Anthem“ erstmals mit so etwas wie „classic Radiohead“-Sound auffährt.“Everyone around here, everyone is so near“ singt Yorke, Klaustrophobie in der Stimme, zu einer monotonen Bass-Drum-Linie, über der drohend düstere Samples kreisen, während sich Greenwoods Ondes Martenot (eine dem Theremin verwandte Jaul-Maschine, die dem ganzen Album eine spukige Note verleiht) mit Jazz-Bläsern zu einer wüsten Kakophonie hochschaukelt.“HowTo Disappear Completely“ mit seinen Akustikgitarren zu sirrenden Ambient-Klängen und unheilvoll sich dehnenden Streichern pendelt zwischen Neurose und Wonne. Das Instrumental „Treefingers“ ist eine stimmungsvolle, wenn auch nicht sonderlich originelle Eno-Fingerübung, während „Optimistic“ am ehesten an OK COMPUTER anschließt.“In Limbo“ treibt wie im Halbwach-Zustand vor sich hin, bevor Yorkes Klagen und die blubbernden Gitarren im Strudel des Zerhackers verschwinden, und Platz machen für den trashigen Diso-Beat von „Idioteque“, dem am deutlichsten von Yorkes „Warp“-Studium gekennzeichneten Song. Bei „Morning Bell“ glimmt wieder dieses warme E-Piano, Yorkes Stimme verschmilzt mit vertrackten Offbeats und einem Labyrinthvon Klängen. Und zuletzt:“Motion Picture Soundtrack“, der älteste Song, ein Überbleibsel der OK COMPUTER-Sessions-. Yorke, waidwund, zum Harmonium, bevor sich ein Himmel aus flirrenden Harfen und überirdischem Chor öffnet. „I will see you in the next life“ – wer dieses Jahr noch ein berührenderes Lied hört, möge sich melden. Vielleicht ist KID A nicht schon wieder das Album des Jahrhunderts (das ist ja noch lang), aber auf jeden Fall eines, für das man dankbar sein darf.

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