Lou Reed – The Bells
Der Kerl ist ein arrogantes Aas. Aber eins mit Niveau. Trotz eines runden Dutzends veröffentlichungsreicher Rockjahre schüttelt Reed immer noch originelle Platten aus dem Ärmel wie nur ganz wenige Veteranen der Sechziger. Und der morbide Reiz seines schrägen Sprechgesangs verschleißt sich kaum: er durchtränkt jede musikalische Stilrichtung, der er sich in schmetterlingshafter Unberechenbarkeit zuwendet, mit unverwechselbarer Personality, erfüllt sogar längst totgespielte Soundmaschen mit neuem Reiz. So im neunminütigen Titelsong seiner dritten Arista-LP, welcher in weitausladender Früh-Floyd- oder Crimson-Manier sich am düsteren Pathos der Projekte des Herrn Parsons glatt würde messen können. Gleichzeitig ruft dieser Song Erinnerungen wach an die Velvet-Vergangenheit, indem er streckenweise wie eine nebulöse Neuauflage von „The Ocean“ wirkt. Free-Jazz-Trompeter Don Cherry – auch bei anderen Titeln dabei – sorgt im Hintergrund für irrlichternde Akzente.
Überhaupt markiert „The Bells“ über weite Strecken eine Abkehr sowohl von den Garagenrock-Experimenten der Marke „Street Hassle“ als auch von der Minimal-Musik des jüngsten, exhibitionistischen Livealbums. Dreimal assistiert von Co-Autor Nils Lofgren wartet Onkel Lou auf der ersten Plattenseite mit handfestem Rock’n’Roll auf, in dem Anklänge auch an die weit zurückliegenden „Transformer“ und Schwermetall-Zeiten mitschwingen. Die Bläser besorgen hier allerdings nicht den letzten Schliff wie üblich, sondern bürsten die Songs kräftig gegen den kommerziellen Strich. Vordergründig kommerziell ist auch das nach bester Münchner Machart gestrickte „Disco Mystic, ein repetitiver Stumpfsinn mit gelegentlich eingestreuten Textkürzeln. Die Instrumente, die das musikalische Nichts zu Ballongröße aufblasen müssen, jaulen und klagen allerdings zu demonstrativ, als daß falscher Verdacht nachhaltig aufkommen könnte. Bravorös: Reeds Begleitband mit Suchorsky/Fonfara/Boles/Fogel und Cherry. Das Ganze ist wieder in Wüster/Holstein in 3D aufgenommen. Und kommt (man beginnt sich daran zu gewöhnen) leider auch wieder ohne Texte heraus.