Lou Reed – Transformer :: Grell wie die Nacht

London, 1972. Der Höhepunkt des Glam-Rock. Die Bewegung zielte mehr auf soziale und gesellschaftliche als auf politische Inhalte. Die Enttabuisierung multisexuellen Rollenverhaltens, die Entghettoisierung von Schwulen, Lesben und Transsexuellen fand in der bunten, sich musikalisch am Rock’n’Roll und Pop der fünfziger Jahre orientierenden Glitter-Szene ihre Triebfeder. Erstmals seit der Ära des Rokoko war es auch heterosexuellen Männern wieder gestattet, sich in Samt und Seide, mit Make-up und Schmuck herauszuputzen. Am besten gelang das David Bowie. Seine offen zur Schau gestellte Bisexualität und sein Stileklektizismus verhalfen ihm binnen eines Jahres zum weltweiten Durchbruch.

Der maßgebliche Ideenlieferant lebte derweil 3000 Meilen entfernt in einer billigen Mietwohnung in Manhattan. Lou Reed hatte die Welt der Doppelgeschlechtlichen, der Drogensüchtigen und Ausgestoßenen schon knapp eine Dekade zuvor mit The Velvet Underground intensiv beleuchtet. Nach der Trennung der Band im August 1970 nahm sich Reed eine fünfzehnmonatige Auszeit, bevor er mit einem mediokren Solodebüt aus Loaded-Outtakes wieder auftauchte. Das begnadete Nachtschattengewächs schien ausgebrannt. Da kam Hilfe von unerwarteter Seite: David Bowie lobte nicht nur in Interviews Reeds Ausdruckskraft und Poesie, sondern bot dem künstlerisch Gestrandeten Schützenhilfe an, so wie er es zuvor schon bei Mott The Hoople und Iggy Pop getan hatte. Bei einem Wohltätigkeitskonzert am 8. Juli 1972 überließ „Ziggy Stardust“ einem in schwarzem Samt gekleideten, kontrastreich geschminkten Reed für drei Songs die Bühne. Vor allem aber erklärte er sich bereit, Lous zweites Album zu produzieren.

Als Bowie und seine rechte Hand Mick Ronson Anfang August Reed ins Londoner Trident Studio holten, um Transformer einzuspielen – in der Neuauflage um zwei Bonustracks („Perfect Day“, „Hangin‘ Round „) und eine Überraschung erweitert -, stand die Zusammenarbeit derart unter Hochspannung, dass sie zeitweilig zu kollabieren drohte. Wenn Lou nicht gerade Depressionen hatte oder aber Wutausbrüche ungeahnten Ausmaßes abließ, bekam garantiert Bowie einen stundenlangen Weinkrampf. Dennoch blühte Reed unter dem vor Kreativität sprühenden Duo Bowie-Ronson künstlerisch auf, schrieb der durch allerei Injektionen Getriebene in nur wenigen Tagen Songs, die zu den besten seines Repertoires zählen. Ronson übernahm die Rolle des Musical Director, schüttelte fantasievolle Klavier-, Streicher- und Bläser-Arrangements nur so aus dem Ärmel. Obwohl Transformer in einer mehrwöchigen Tour de Force in London entstand, ist das Album eine Hommage an New York und Andy Warhol. Die Faszination am Banalen, am Trivialen wird von Reeds gleichmütig-laszivem, emotionslosem Gesangsstil kongenial umgesetzt. Reed gab sogar zu, dass Warhol an diversen Songs direkt als Ideengeber beteiligt war, am offenkundigsten geschehen bei den pittoresken NY-Innenansichten „New York Telephone Conversation“ und „Make Up“. Auch das mit einem schneidend-trockenen Gitarrenriff Ronsons versehene „Vicious“ geht inklusive erster Textzeile ….. you hit me with a flower“ zurück auf eine Idee Warhols. Gleiches gilt für das pulsierende „Andy’s Chest“, ein Überbleibsel aus Velvet-Tagen, das Valerie Solanas‘ Attentat auf Warhol im Jahr 1968 thematisiert. Schließlich gipfelt der seltsame Einfluss des cleveren Pop-Art-Künstlers in dem wohl atypischsten Stück auf Transformer, Reeds einzigem Charthit: „Walk On The Wild Side“. Adaptiert von Nelson Algrens gleichnamigem Roman, aus dem ursprünglich ein Musical entstehen sollte, beschreibt der Song eine obskure Sightseeing-Tour durch das etwas andere New York bei Nacht. Angestecktvon Bowies Schwärmerei für die Factory entwarf Reed in dem Titel ein ironisches Porträt von Warhols wichtigsten Protagonisten: Holly Woodlawn, Candy Darling. Sugar Plum Fairy alias Joseph Campbell, Joe Dallessandro und Jackie Curtis, allesamt Superstars in Warhols realen Anti-Hollywood-Dokus, die vom Leben auf der Straße, auf dem Strich und der alles verzehrenden Drogensucht erzählen, werden in vierzeiligen Skizzen zu Ikonen der Popkultur. Dazu lieferte Ronsnn eine spartanische Inszenierung, die durch Herbie Flowers subtilen Stehbass, den Doo-Woop-Gesang der „Cotoured Girls zum wohl bizarrsten Charts-Hit der Musikhistorie avancierte. Das allerschrägste Songexperiment sparte sich das Triumvirat allerdings fürs Finale auf: In „Goodnight Ladies“ tönt Reed, eingebettet in Herbie Flowers zeittupenhaft-schwüle New-Orleans-Vaudeville-Kulisse, wie der von Mandrax zugedröhnte androgyne Conferencier aus dem Liza-Minnelli-Klassiker „Cabaret“. www.loureed.com