Paranoid: 23 :: Film des Monats:

Hoch gelegt haben Tom Tykwer und LOLA RENNT die Latte für alle nachfolgenden Filme made in Cermany. Hans-Christian Schmids Hacker-Thriller 23 ist der erste, der diese Hürde nimmt, ohne sie auch nur zu touchieren. Bei Tykwer beeindruckte die Explosion an Bewegung, die Verbindung aus Dringlichkeit und philosophischem Konstrukt, nahm dafür aber auch eine gewisse Künstlichkeit in Kauf, die den dreifachen Anlauf gegen Zeit und Raum stets wie eine – wenn auch geniale – Fingerübung wirken ließ. 23 hingegen, Schmids erster reinrassiger Kinofilm, rüttelt nicht an den Grundfesten des Kinos, sondern überwältigt mit einer klassisch und unendlich clever inszenierten Story aus einem Guß, die den Zuschauer am tragischen Schicksal des Hackers Karl Koch nicht nur teilnehmen läßt, sondern ihn sogartig mitten hinein in seine sich zunehmend verschlimmernden Paranoia-Fantastereien reißt. Schon in seinem TV-Projekt NACH FÜNF IM URWALD überzeugte Schmid als aufmerksamer, präziser Geschichtenerzähler mit einem wachen Auge für echte Figuren.

Hier perfektioniert der ehemalige Dokumentarfilmer seinen Anspruch und führt den Zuschauer mitten in die 8oer Jahre, in die seltsame Welt seines labilen Helden, der sich zunehmend mit den fiktiven Rebellen des Kultromans „Illuminatus“ identifiziert und seine wachsenden Ängste um eine weltweite Verschwörung mit exzessivem Kokain-Konsum ins Bizarre verstärkt. Kein Wunder, daß Karls zunächst naiven Versuche auf dem Gebiet der Industriespionage zwangsweise in eine Katastrophe münden. Die Magie der geheimen Illuminatenzahl 23 läßt auch den Zuschauer nicht kalt. Immer wieder hat Schmid sie in seinem wunderbar ambivalent gehaltenen Film eingestreuten Hausnummern, auf Nummernschildern, in Telefonnummern, so daß man als Zuschauer ebenfalls zunehmend den Boden unter den Füßen verliert. Der Effekt ist verblüffend: Was ist wahr, was ist Fantasie? wird zur Sinnfrage bei Karl Kochs Höllenfahrt. Aber man würde 23 nicht gerecht, wenn man dieses energiegeladene, blendend unterhaltende Meisterwerk der Manipulation nur als Thriller, Porträt oder Zeitdokument betrachten würde. Dafür sind die Nebenfiguren zu ausgeprägt, ist die Geschichte zu vielschichtig: 23 gehört zu den seltenen Kinoerlebnissen,die alle Genregrenzen hinter sich lassen und direkt auf den Zuschauer wirken. Während Hollywoods Paranoiafilm des Monats DER STAATSFEIND NR. 1 sich im endlosen Ergötzen an High-Tech-Gimmicks gefällt, hat Schmids Film über ein hilfloses Child in Time mit seinem sensationellen Hauptdarsteller August Diehl stets das Leben im Visier – und trifft es voll zwischen die Augen!