Radiohead – In Rainbows

Vielleicht ist das größte Fehlurteil über die „neuen“ Radiohead, dass diese Band keine Songs mehr schreiben würde, seit sich Thom Yorke nach OK Computer vom 08/15-Britpop der 90er-Jahre verabschiedet und die Musik von Radiohead mit elektronischen Texturen versehen hat – in einer Art befreiendem und lebenserhaltendem Akt, so dass dieser Band das Schicksal erspart geblieben ist, in die Bedeutungslosigkeit (Oasis) oder in die scheinbare Bedeutsamkeit (U2) zu rutschen. „Everything In It’s Right Place“, „Pyramid Song“, „I Might Be Wrong“, „There There“ – alles keine Songs? Selbst Thom Yorkes Soloalbum The Eraser, das in seiner elektronischen Konsequenz die Kühnheit von Kid A, Amnesiac und Hail To The Thief bei Weitem übertrifft, hat mindestens einen Jahrhundertsong („Harrowdown Hill“) im Programm.

Mit In Rainbows relativiert sich allerdings das Bild von den unantastbaren Radiohead als Künstler, die von Platte zu Platte immer besser werden. Freilich ist dieses Album in seiner Verweigerung von Hip- und Coolness-codierten Musikerwartungshaltungen und in seinem erfüllten künstlerischen Anspruch Lichtjahre entfernt von den immer noch sehr beliebten Band-Recycling-Maschinen, die sich mittlerweile in der zweiten Generation am britischen Indie-Pop der 80er-Jahre abzuarbeiten versuchen. Aber gemessen an den eigenen Standards, mit denen Radiohead mit Kid A ins neue Jahrtausend gestartet sind, darf man In Rainbows die Stagnation auf allerhöchstem Niveau, aber auch die partielle Rückkehr in die Grauzone von OK Computer attestieren – kein Britpop mehr, nicht ganz der konsequente, elektroninzierte Art-Rock. Die Freiheit der Kunst gestattet es dem Künstler, zu tun, was er will. Aber die Freiheit des Rezipienten gestattet es, Radiohead eine gewisse Wagemüdigkeit zu unterstellen.

Die, denen die Gitarre schon immer näher war als der Synthesizer, werden dieses Album, das in über zweijähriger Arbeit mit den Produzenten Nigel Godrich und Mark Stent entstanden ist, uneingeschränkt bejubeln. Sie werden sagen, dass Radiohead „jetzt wieder Songs schreiben“, weil sie die Songs jetzt wieder hören können. „15 Step“ zum Beispiel, in dem sich aus einem tribalen Beat eine halbakustische Gitarre schält und eine beinahe beschwingte latin-jazzy Stimmung aufbaut. Oder „Bodysnatchers“, das von allen Tracks auf In Rainbows am nächsten am (Punk-)Rock-Song ist. Und „Nude“ in seiner atmosphärischen Larmoyanz, dem anzuhören ist, dass es einst auf ok Computer (unter dem Namen „Big Ideas“) hätte erscheinen sollen. „Faust Arp“, der kleine Folksong aus deinen psychedelischen Alpträumen mit dräuenden Streicherarrangements aus dem Computer. „Reckoner“, der archetypische Radiohead-Song, bei dem nach anderthalb Minuten die Tiefkühlatmosphäre aufreißt wie der Himmel nach einem Sommergewitter, nur um eine Minute später im bittersüßen Meer der Melancholie zu ersaufen.

Die kleinen elektronischen Soundeffekte, die Thom Yorke zur eigenen Standortbestimmung und der seines Publikums in der Musik von Radiohead installiert hat, sind nurmehr schmückendes Beiwerk einer lyrischen, im höchsten Maße impressionistischen und im besten Sinne künstlerischen Musik. So gesehen ist In Rainbows das missing link zwischen Ok Computer und Kid A – und ein gutes bis sehr gutes Album. Eine „Sensation“ ist es aber nicht, trotz der sensationsheischenden Vermarktungsstrategie. Vielleicht wird die Diskussion darüber die Musik überschatten, weil diese Art des Musikverkaufs Modellcharakter haben und der maroden CD-Industrie den Todesstoß versetzen könnte. Die Scheinsozialisierung des „Produkts“ Musik, die Radiohead durch den „Zahl was du willst“-Modus beim legalen Download von In Rainbows anbieten, ist in der Realität durch illegale Dowloads längst zur Selbstverständlichkeit geworden. In der Regel ist kaum einer mehr bereit, etwas für Musik zu bezahlen, wenn er sie auch kostenlos bekommen kann. Das geht nicht rechtlich, aber marktwirtschaftlich voll okay. Angebot und Nachfrage regeln den Preis. Aber diese Diskussion überlassen wir gerne den Kollegen von der Tagespresse und den Antikapitalismus-Experten in den einschlägigen Internetforen.

www.inrainbows.com