„Rock Lexikon“ von Siegfried Schmidt-Joos und Barry Graves
Es ist irgendwie schon erstaunlich, dass gerade in Deutschland {‚wo ja nur kopiert wird‘) das bisher ausführlichste und umfassendste Werk über Rockmusik erscheint. Das spricht nicht unbedingt für die angloamerikanische Rockszene! Dank dem Spiegel-Archiv und einigen genannten und ungenannten Helfern haben die beiden Autoren es erreicht, ein annähernd kompetentes Lexikon über Musiker, Bands, ihre Musik und das ‚Bizniz‘ zusammenzustellen. Offenbar scheinen auch die Amerikaner dieser Meinung zu sein, denn Anfang 74 soll es drüben ebenfalls verkauft werden. Abgesehen von einigen kleinen und grösseren Schwächen ist es ohne Zweifel das beste in seiner Art, das je erschien. Laut dem Verlagswort am Anfang werden die letzten beiden Jahrzehnte Popmusik anhand von über 400 Gruppen und Solisten (ich hab‘ sie nicht gezählt) präsentiert. Alles was man wissen will, findet man, angefangen von biografischen Daten über Karrieren und Erfolge bis hin zur ausführlichen Discografie wurde nichts vergessen. Zusätzlich dazu werden ’seriöse‘ Kritikermeinungen in den Text eingebaut, so dass man sich letzten Endes einer treffenden und objektiven Analyse gegenübersieht, die sich nur ganz selten als unrichtig herausstellt. Eine ausführliche Fachworterklärung schliesst sich an, die bis heute ebenfalls ohne Konkurrenz dasteht. Etliche Fehler die sich einschlichen, sind bei einer so umfangreichen Arbeit wohl nicht zu vermeiden. Aus Platzgründen nenne ich hier nur die wichtigsten: Einige ‚Stud‘-LP’s fehlen, die Aktivitäten der Ex-‚Yes‘-Leute Banks und Kaye wurden nicht erwähnt, David Allen und R. Wyatt als „SoftMachine‘-Zweige wurden vergessen, von Gitarrengott J. Garcia fehlen 3 LP’s mit Merl Saunders und eine mit D. Crosby. Ebensolche Nachteile sehe ich im Fehlen einiger wichtiger skandinavischer, französischer und holländischer Bands. Dagegen kommen die deutschen Vertreter mit Can, Amon Düül II, Inga Rumpf und 4 weiteren Abschnitten sehr gut weg. An Oldies-Gruppen hätte man getrost noch Hermans Hermits, Troggs oder Corner erwähnen können und der Jazzbereich kommt ohnehin zu kurz. Die dicksten Hämmer bestehen aber aus dem Fehlen von wirklich stilbildenden Gruppen wie z.B. Man, Steamhammer, Exuma, Audience und den Van der Graf Generator. Der Hauptgrund dafür dürfte im Vorwort zu finden sein, wo zugegeben wird, dass die Anzahl der aufgeführten Musiker an der Umfangskafkulation des Verlages bemessen wurde. Und das ist echt ärgerlich! So etwas wäre bei einem Operettenoder Schauspielführer nicht mal in Betracht gezogen worden. Trotzdem bleibt das Buch einmalig und sollte in keinem Fan-Bücherregel fehlen. Oberaus wichtig und interessant erscheint mir (besonders für die sogenannten ‚Insider‘) eine 13-seitige Einführung in die Geschichte der Rockmusik. Sie erklärt, beweist und dokumentiert sämtliche Beeinflussungen im Laufe der Jahre, die Geschäftsmethoden früher und heute und die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, ohne die es heute wahrscheinlich gar keine rockähnliche Musik geben würde. Endlich wird einmal einer breiten Fan-Schar deutlich klargemacht, dass die Industrie letzten Endes jede Musikart (und Gegenkulturansätze) für sich verwertbar macht und sie vermarktet, dass nur ganz wenige Musiker Wirklich Kontrolle über ihre Plattenprodukte haben, dass die einzelnen Stilarten nie völlig neu waren, sondern immer gemischt mit Schon-Dagewesenem, erschienen: warum aus einfachen oder wild-naiven Sonqs mit der Zeit Superproduktionen entstanden und vieles andere mehr. In zwei Dingen kann ich SSJ aber leider nicht beipflichten: Erstens, was die Verdrängung der Single durch die Alben betrifft und zweitens, was die Musikerwünsche bei ihren Plattenfirmen angeht. Langspielplatten wurden deshalb vorgezogen, weil Improvisationen immer populärer wurden und die Käufer langsam begriffen, dass sie damit zu mehr Musik für weniger Geld kamen. Dass sich die Plattenindustrie zwangsläufig den Musikerwünschen- und Vorstellungen fügten, stimmt nur in den seltensten Fällen. Sie fügten sich (wenn überhaupt) den erfolgreichen Stilarten, die zufällig erfolgreich geworden waren und produzierten dann Musiker, denen sie irgendeinen Stempel aufdrückten. Der oft zitierte Satz von Sonny Bono ‚The beat goes on‘ mit dem SSJ seine Einführung schliesst, trifft ohne Zweifel zu, doch würde ich danach lieber ein C. Davis (Ex-CBS-Chef)-Wort setzen: „Das Rock-Universum hat sämtliche musikalischen Ausdrucksweisen vereinnahmt und expandiert nun nach allen Seiten“! Präziser kann man die nächsten Rockjahre wohl nicht auf einen Nenner bringen, und weitergehender Optimismus wäre meiner Meinung nach fehl am Platz. RoRoRo-Handbuch 6177 350 Seiten Preis: DM 7.80
Da zu diesem Lexikon eine ‚Grundstocksammlung‘ von 60 LP’s gehört, möchte ich noch kurz auf sie eingehen. Aufgeteilt wurden sie in Soft Rock, Soul, Blues, Westcoast usw. Nicht vertreten sind zwei nicht minder wichtige Sparten: 1. Solointerpreten z.B. mit D. Bowie, R. Newman oder R. Havens. 2. muss es die ‚Some American Highlights‘ geben, wenn auch die britischen Höhepunkte ausgewählt werden (u.a. Spirit, Rascals, Steppenwolf oder Grand Funk). Schändlicherweise wurde in der ‚Soul-Abteilung kein einziger Tamla-Motown-Künstler erwähnt, obwohl S. Wonder, die Supremes, oder Ir. Walker ebenso dazuzurechnen wären wie ein Sly Stone. Die Cream hätte man besser bei ‚White Blues‘, aber nie bei ‚Heavy Rock‘ unterbringen können, und statt den Blues Projekt wäre die Wahl mit Fleetwood Mac besser ausgefallen. Die ‚british‘ Highlights‘ gingen vollkommen in die Hosen und das Deep Purple bei ‚Heavy Rock‘ fehlt, kann nur ein Versehen sein! Die Beach Boys (die bei ‚Avantgarde‘ einen Platz fanden) gehören eher zu ‚Soft Rock‘, wobei King Crimson oder das Mahavishnu Orch. mit der ‚Avantgard‘ besser bedient wären. Kurz und gut, die Idee ist sehr lobenswert, aber mit nur 60 Alben ist absolut nichts anzufangen. Ausserdem habe ich bei einigen Scheiben (z.B. bei den Dead oder Soft Machine) das Gefühlt, dass hier Ladenhüter nachträglich an den Mann gebracht werden sollen. Immerhin verdanken wir den beiden Initiatoren die Wiederveröffentlichung einiger alter, hervorragender Meilen-Steine der Popmusik. „Na also, das ist doch wenigstens etwas!“
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