Rock-Spezial

Der Sänger ist geboren! „All I knew to give you is song after song after song“, singt Nick Cave auf „The Singer“ -— einem Song, der so alt ist, daß er schon Traditional genannt werden könnte. Ein spartanisches Arrangement gibt der drohenden Melodie volle Wirkung, diszipliniert vermeidet der Sänger jede Extravaganz, legt stattdessen seine ganze Kraft in jedes Wort, das er singt. Dies ist der Blues: eine andere, wahre Welt (Intercord/ Mute, 6).

Das New Yorker Midnight-Label schickt ein neues Paket über den Atlantik. Doch was unter knisternder Spannung ausgepackt wird, entpuppt sich auf dem Plattenteller größtenteils als Beruhigungsmittel ohne die Qualität früherer Midnight-Entdeckungen (Fuzztones, Plan 9). Absolute Grey leiden auf WHAT REMAINS unter der variationslosen Tränen-Stimme ihrer Sängerin Beth Brown. die höchstens an grauen Wintertagen überzeugen kann (2).

The Cavemen spielen sich auf … YEAH durch ein wenig originelles Trash-Repertoire. Melodie spielt bei ihnen keine Rolle, und obwohl sie Birthday Party-T-Shirts tragen und vor Smiths-Postern posieren, fehlt den jungen Texanern meist auch der manische Drive echter Trasher, Bestenfalls: (3).

Schon besser in dieser Richtung die Mighty Mofos mit ihrer MIGHTY E.P., die — live und direkt auf 4-Spur eingespielt — mit „Untouchable“ einen echten Knaller enthält. Vielleicht Minneapolis‘ Antwort auf die Screaming Blue Messiahs (4).

The Wind stammen aus New Jersey und spezialisieren sich auf LIVING IN A NEW WORLD auf leichten, augenzwinkernden Ostküsten-Surf-Pop. Sie haben Humor, doch ihre Lieder kommen einem seltsam bekannt vor. so daß man beim Hören schnell das Interesse verliert (3).

Die vielleicht beste Platte des Midnight-Pakets stammt von Paid Vacation, die zumindest Songs schreiben können und ganz nebenbei mit „That Won’t Make You Love Me“ dem Nachwuchs zeigen, wie eine Trash-Nummer klingen muß, auch wenn die Band sich hier für ein sommerliches Medium-Tempo entscheidet. LP-Titel: I NEVER MET A GIRL I DIDN’T LIKE(4).

Kalifornien hat mehr zu bieten, und wer etwas wirklich ausgeflipptes hören will, dem sei das Duo Big Stick empfohlen: Die blonde Yanna Trance produziert den denkbar discofernsten Elektro-Rhythmus, darüber läßt John Gill seine Ascheimer-Gitarre heulen und verkündet neue Rock-Anarchie mit Titeln wie „Shoot The President“ und „I Look Like Shit“. Feinster Karamel-Bonbon für Leute, die der übliche US-Country-Beat zu langweilen beginnt (RTD-Vertr., 6).

The Residents haben eine neue limitierte Picture-Disc-Single als Vorläufer für ihr Hank Williams-Album: „Kaw-Liga“, wohl sein erfolgreichster Song, erfährt eine Transformation in Richtung tanzbarer Disco-Rock, der weder mit dem Original noch mit früheren Residents-Werken große Ähnlichkeiten aufweist. Nie waren die Charts so nah! (Ralph Recs., 4).

Vor ca. zehn Jahren war Miriam Linna Schlagzeugerin in der Cramps, bevor der großartige Nick Knox sie verdrängte. Unverhofft taucht sie heute mit neuer Band auf: The A-Bones debütieren mit einer liebevoll gestalteten 25-cm-EP, die vier Country-Standarts enthält. Unnötig zu sagen, daß die Band auf jeden Schnörkel verzichtet, keinen Ton zuviel spielt (Exile/ EfA-Vertr., 4).

Bislang nur als US-Import erhältlich ist die langerwartete neue LP der Feelies, deren Debüt-LP CRAZY RHYTHMS (1980) heute als Klassiker gilt. Damals ergänzte sich der minimalistische Folk-Beat der beiden Gitarristen/Songwriter Glenn Mercer und Bill Million mit den polyrhythmischen Percussion von Anton Fier, heute Chef der Golden Palominos. Auf THE GOOD EARTH wird Fier von zwei Schlagwerkern ersetzt, doch der Rhythmus bleibt unauffällig, fast unsicher im Hintergrund, wodurch den Songs jegliche Dynamik entzogen wird. So fließt die LP unauffällig, leicht farblos und eintönig am Ohr vorbei. (Coyote, 3).

Teuer, aber empfehlenswert zwei weitere US-Importe: Nennt eine Band sich Lonesome Strangers, so darf man Country-Einflüsse vermuten. Ihre LP LONESOME PINE ist eine abwechslungsreiche Revue aus Country mit Sixties-Pop, voller Schwung und Spaß an der Sache. Mit dabei: Ex-Wall Of Voodoo-Schlagzeuger Joe Nanini sowie die Byrds- und Flying Burritos-Veteranen Chris Hillman und AI Perkins (Wrestler, 5).

Die Band mit dem rätselhaften Namen Yo begann mit einer Musik, die klang, als würden The Ramones versuchen, ein Folk-Album aufzunehmen. Mit ihrer dritten LP ONCE IN A BLUE MOON ist es der Band gelungen, diese Idee fast perfekt umzusetzen: Drums und Rhythmus-Gitarre kommen mächtig in Fahrt, plötzlich schwebt geisterhaft eine Mandoline, Geige oder Trompete über die Klangmauer, dazu kommt Bruce Rayburns Stimme, deren klagendes Timbre irgendwo zwischen Neil Young, J. L. Pierce und dem frühen Roger Chapman schwingt und metaphorische Geschichten von schwarzen Rosen und Schlössern am Meer erzählt. Selbst ein Cat Stevens-Stück („Hafd Headed Woman“) klingt hier brillant. Muß man mehr sagen? (Restless/Enigma, 5)

Nach der letztjährigen Flop-LP haben sich The Monochrome Set bekanntlich aufgelöst, doch bleibt uns ihr begnadeter Sänger und Mastermind Bid als Solist erhalten. Alte Fans wird es freuen zu hören, daß seine erste Solo-Maxi „Reach For Your Gun“ kaum Veränderungen zeigt: Unverkennbar seine typische, coole Eleganz, selbst die Musiker sind dieselben wie zu Monochrome Set-Zeiten. Nett, but what’s the news? (Cherry Red, 3).

Nach langer Pause melden sich Eyeless In Gaza mit einer neuen LP zurück. Martyn Bates ist noch immer einer der besten Sänger Englands, seine introspektiven Melodien sind heute üppiger arrangiert als früher: Producer John Brand ist es gelungen, BACK FROM THE RAINS zur zugänglichsten LP der Band zu formen, ohne die geheimnisvolle Poesie der Songs anzugreifen. Musik für alte, zugewachsene Friedhöfe unter ewigen Eichen (Cherry Red. 4).

Was der irischen Folkmusik die Pogues, sind der englischen Traditional-Szene The Mekons. Junge respektlose Revoluzzer, die der Musik bärtiger Kneipensänger neue Größe geben. THE EDGE OF THE WORLD schließt nahtlos an die Klasse des Vorgängers FEAR & WHISKY an. Dem Rock-Spezialisten fehlen die Worte, die dieser Musik innewohnenden wahren Gefühle zu beschreiben — sie offenbaren sich spätestens nach dem siebten Bier. Dies ist Musik für alte Hafenstädte – hört „Hello Cruel World“ oder „King Arthur“ und ihr werdet verstehen (RTD-Import, 6).

Eine seltsame, experimentierfreudige LP namens WAQQAZ kommt von der britischen Formation Crawling Chaos. Trotz Standard-Besetzung ein mysteriöses Werk ohne einheitlichen Stil und dankenswert wenig abgekupferten Tricks. Die Insel ist immer noch das beste Heim für Unorthodoxe und Exzentriker (RTD-Import, 5).

Nach den Abgängen von Blaine Reininger und Winston Tong haben Tuxedomoon viel an dramatischem Gewicht verloren. Das Mini-Album SHIP OF FOOLS bringt auf der A-Seite zugängliche, fast eingängige Stücke, während auf der B-Seite der klassische Background der amerikanisch/belgischen Formation zum Tragen kommt (3). Demnächst erscheint ein Doppelalbum mit altem Material der Original-Besetzung (EfA-Vertr.) Die Musik von Attrition beschreibt man am besten mit rotem Samt, seidenen Kissen und dem Geruch schwerer Parfüms. Die überwiegend elektronische Klangwelt von IN THE REALM OF THE HUNGRY GHOST mit ihrer ins Ohr schleichenden Melodik ist das Bett für die (oft klagende) Alt-Stimme der Sängerin Cryzz, gelegentlich im Duett mit einer männlichen Stimme (RTD-Import, 5).

Greg Sages Wipers sind ein Fall für sich: In der amerikanischen Heimat so gut wie unbekannt, gelten sie in Europa als die US-Underground-Band. Auf der neuen LP LAND OF THE LOST setzen sie auf das bewährte Erfolgsrezept aus durchgehend straffem Rhythmus, melodischem Pathos und prächtig produzierten Gitarren-Spuren. Greg Sages Vision des modernen Amerika und dessen drohendem Untergang (vgl. Cover) mag die Erklärung dafür liefern, warum der Prophet im eigenen Lande nichts gilt (Enigma/ Intercord. 5).

Philip Boa läßt seiner ausgezeichneten PHILISTER-LP die Tanz-Maxi „No Mad’s Land“ folgen und verzichtet dabei auf das Streicherquartett zugunsten dichtgedrängter Voodoo-Atmosphäre aus dem Dschungel nebenan (4).

Während hier kein Schlag aus dem Computer stammt, schicken uns die belgischen Nachbarn jede Menge Maschinen-Disco-Rock: nach den Achtungserfolgen von Ministry, Front 242 und Revolting Cocks liegen nun LPs von Neon Judgement (MAFU CA-GE) und A Grumh (NO WAY OUT) vor, die klanglich zwischen Cabaret Voltaire und der letzten PIL-LP einzuordnen sind. Schwere, heulende Gitarren-Riffs gehören hier ebenso zum Tanz wie die charakteristisch angewiderten Gesänge. (SPV-Vertr, beide 3).