Rock-Spezial
Während heute Run DMC mit ihrer Mixtur aus typisch schwarzer/typisch weißer Musik die Charts stürmen, waren Bad Brains Ende der 70er Jahre die erste schwarze Band, die mit einer ungenierten, nie dagewesenen Mischung aus Harte-Punk und Dub-Reggae auftraten, zu hören auf ihrer genialen LP ROCK FÜR LIGHT. Aber die Brains weigerten sich jahrelang, die eigene Legende auszufüllen und hüllten sich konsequent in Schweigen.
Kurz vor dem Eintritt ins Land des Vergessens nun die überraschende zweite LP 1 AGAINST I —- um so größer die Überraschung, als hier weder Punk noch Reggae zu hören ist, sondern quasi ein Querschnitt durch populäre Rock-Spielarten der letzten 15 Jahre. Unglaublich die Wandlungsfähigkeit des New Yorker Quartetts: Sänger H.R. röchelt den Blues, wechselt im nächsten Moment in gekünsteltes Säuseln im Stile von Bowie/Bolan. ohne auch nur einen Deut an Überzeugungskraft zu verlieren. Gitarrist Dr. Know zieht ohne Bremse mit und spielt rauhe Power-Akkorde im Stile von Mick Ronson. coolen Rhythmus wie J. Geils. ausgeklinkte Soli wie Jimmy Page.
Bewundernswert, wie die Band es geschafft hat, aus diesen Einflüssen eine LP zu machen, die wie aus einem Guß klingt. (Line’Intercord, 5).
Über das Def Jam-Label und dessen Hausproduzenten Rick Rubin war bereits im ME/Sounds 11 ’86 zu lesen. Rubins neuester Streich ist das dritte Album der kalifornischen Band Slayer, deren ungemein aggressiver Sound selbst bei eingefleischten Heavy-Metal-Fans Ohrensausen hervorruft. Wer auf REIGN IN BLOOD fröhliche Hip Hop-Rhythmen erwartet, sei hiermit eindringlich gewarnt.
Auf der positiven Seite ist zu vermerken, daß Rubin als Produzent nicht den Fehler beging, der Band die urwüchsige Speed-Power auszureden, die nun einmal ihr Markenzeichen ist. Andererseits zeigt die LP einmal mehr die Schwäche dieser weitgehend melodielosen HM-Spielweise: Auch bei größtem Energieaufwand seitens der Band macht sich nach ca. drei Songs Langeweile breit, zumal die studiotechnische Feinarbeit an den Instrumenten zur Folge hat. daß Sänger Tom Arayas krächzendes Organ plötzlich zum Hemmklotz wird. (3).
Englands Alien Sex Fiend sind auch so eine Band, die mit Melodie und dynamisch aufgebauten Songs nichts im Sinn hat. Doch während ihrer 85er LP MAXIMUM SECURITY eine hypnotische Faszination innewohnte, ist ihr neues Werk IT (SPV) ganz bewußt schlecht, ein abscheuliches Comic-Schlachtfest mit endlosen Hammerschlägen aus der Beatbox, verzerrten Gitarren und dem röchelnden, stammelnden Ungetüm namens Nik Fiend, den kein normaler Mensch als Sänger bezeichnen würde. Wahrer Trash- (= Müll) mit Songtiteln wie „Smells Like Shit“ und“.Manie Depression“. ASF’s vierte LP klingt kaum anders wie ihre erste. Eine Band, die weiß was sie will? Für Trash-Fetischisten: (5). für Normalhörer: (1).
Nach dieser Tortur besticht der Sampler WHAT A NICE WAY TO TURN SEVENTEEN mit stimmigen, unverdorbenen, naiv losrockenden Beat- und Folk-Liedern — Popmusik wie aus der Zeit vor Shock und Video. Vertreten sind Bands aus England, Schweden. Neuseeland. Deutschland: am interessantesten die Beiträge Nikki Suddens sowie die bislang unbekannten Nebenprojekte der Waterboys-Leader Mike Scott und Anthony Thistletwaite. letzterer im Duett mit Holly Beth Vincent. Als Beilage erscheint das gleichnamige Fanzinc mit Interviews von Alex Chilton, Go-Betweens und mehr interessanten Stories. Ein Package für Liebhaber. (Rouah Trade Import. 5).
Wie der biblische LP-Titel THE GHOST OF CAIN schon vermuten läßt, sind New Model Army eher eine Kirche als eine Armee. Langhaarig zwar, aber moralisch einwandfrei, die Jungs aus der englischen Provinz. Trotz ihrer zahlreichen Tourneen keine Drogen, keine Exzesse, kein Rock ’n‘ Roll-Lifestyle. nur immer anklagende Zeigefinger in den Songtexten, Pathos auch in der Stimme.
Produzent Glyn Johns vermittelte den Ex-Punks einen kompakten, fast poppigen Sound. Die Riffs sind eingängig und fast jeder Song des Gitarren-Trios klopft an die Pforten der Hitparade, doch sie werden nicht hereingelassen, denn es fehlen dann doch ein paar zündende Ideen hinter ihrer großen Botschaft. Die bierernste Heavy-Version von Billy Bragg (EMI. 2).
Kaum eine der Aufnahmen, die Bassist Jah Wobble nach seiner Zeit bei PIL veröffentlichte, kann sich großer musikalischer Brillanz brüsten. Er ist einer der wenigen weißen Bassisten, der sich bei seinen Improvisationen ausschließlich auf sein Gefühl verläßt.
Die Studio-Seite der Mini-LP TRADE WINDS (RT Import) legt einen entspannenden rhythmischen Teppich mit allerlei perkussiven Feinheiten und schönen Melodien von Ollie Marland (Keyboards) und Harry Beckett (Trompete). Die live im Amsterdamer Paradiso aufgenommene B-Seite zeigt dagegen einige Schwächen und plätschert wie eine akustische Schlafpille dahin. Insgesamt: (3)
This Mortal Coil ist die All-Star-Band des britischen 4 AD-Labels. Formiert von Labelchef Ivo spielen Mitglieder der Cocteau Twins, Wolfgang Press, Dead Can Dance, Colourbox auf dem Doppelalbum FILIGREE & SHADOW stimmungsvolle Klänge für Ästheten, bestens geeignet für weihnachtliche Winterabende mit Zimttee und Kaminfeuer. Neben eigenem Material werden Songs von Van Morrison, Tim Buckley und sogar Talking Heads zu diesem alles umhüllenden Samtvorhang verwoben (Rough Trade. 3).
Mit der Auflösung der Sad Lovers & Giants verlor der englische Düster-Pop eine seiner Kult-Bands. Warum heute, kurz nach der Reunion, ein Live-Album mit Aufnahmen von 1983 erscheinen muß, bleibt rätselhaft, zumal ihr Soundteppich im Sendestudio einer holländischen Radio-Station weder von der Klangtechnik noch von Publikumsreaktionen Unterstützung findet. So klingt TOTAL SOUND dünn und mottenzerfressen. Nur für absolute Fans ein Muß (Rimpo-Vertr.. 2).
Altmeister Richard Thompson hat seine neue LP DARING ADVENTURES mit zahllosen Sessionmusikern in New York aufgenommen. Unverkennbar ein Abenteuer für den britischen Klasse-Gitarristen — und ein lohnenswertes dazu. Die neue Umgebung entfernt allen überkommenen Muff von Thompsons Folk-Roots und läßt seine Größe als Songwriter und Sänger heller strahlen als auf seinen letzten LPs.
Hier sind wieder powergeladene Songs vertreten. z.B. über eine New Yorker Party-Königin, die immer die neuesten Klamotten tragt, deren Freund bei Scritti Politti spielt, die aber keinen Knochen durch die Nase trägt, wie es eigentlich Stammesbrauch ist („A Bone Through Her Nose“). Insgesamt eine Klasse-Mixtur aus Folk und Rock (Polydor, 5).
The Oyster Band haben sich ebenfalls der Folk-Rock-Tradition verschrieben, wobei STEP OUTSIDE eher beschaulich klingt als engagiert. In England hatte die Band großen Erfolg im Vorprogramm von Billy Bragg, was in Anbetracht der Erdverbundenheit und Ehrlichkeit ihrer Musik nicht weiter verwundert. Punk-Einflüsse wie bei den Pogues, Mekons oder Men They Couldn’t Hang sucht man hier jedoch vergeblich. (Rough Trade Vertr.. 4)
GREETINGS FROM TIMBUK 3 — eine ansonsten unbeschriftete Vorabkassette landet auf dem Schreibtisch und erweist sich als erstklassige Alternative zu den Violent Femmes. Timbuk 3 wurden von Ex-Fleshtones-Sänger Peter Zaremba entdeckt und in seiner MTV-Fernsehshow „Cutting Edge“
vorgestellt, was sogleich einen Plattenvertrag zur Folge hatte.
Die Band besteht aus den beiden singenden Multi-Instrumentalisten Pat und Barbara McDonald. Ihre Vergangenheit als Straßenmusiker in Austin/ Texas erklärt die volksnahe Spielfreude, mit der hier zu Werke gegangen wird. Fast alle Spielarten populärer Ami-Musik sind hier vertreten; unaufdringlich und sparsam arrangiert bringt die Musik einen Hauch der schönen Seite Amerikas in die grauverhangene Gegenwart (CBS, 5).
Als extreme Steigerung von soft ist die Musik der englischen Weather Prophets zu charakterisieren. Ihre Version von Chuck Berrys „Downbound Train“ klingt, als seien im Studio alle Bandmitglieder samt ihrer Instrumente in Watte eingepackt worden. Peter Astors Flüsterstimme erinnert an AI „Year Of The Cat“ Stewart, doch die Band spielt bei aller Sanftheit mit angezogenem Tempo und zeigt auch mal ganz unverhofft die Zähne. DIESEL „RIVER ist eine Zusammenstellung bisher nur über Import erhältlicher Single-Tracks (Rough Trade. 4).
Frankfurts Lokalmatadore Cocks in Stained Satin werden mit ihrer neuen LP HEBEPHRENIA ihrem guten Ruf als Live-Band erstmals auch auf Platte gerecht. Klar besser als das Debüt kommt das Zweitwerk mit einer Mixtur aus Sing-along-Punk und Sixties-Flower-Power. Gute-Laune-Musik für wilde Parties (EfA. 3).
Zu guter Letzt noch zwei echte Spezialitäten mit historischem Charakter: Nur über verschlungene Importwege erhältlich ist eine Zusammenstellung obskurer Trash- und Billy-Singles aus den 50er und Ader Jahren, die allesamt im heutigen Repertoire der Cramps auftauchen. Wer einmal die Originalversionen von „Goo Goo Muck“ oder „Faster Pussycat! Kill! Kill!“ hören will, sollte SONGS THE CRAMPS TAUGHT US bis zur Erschöpfung jagen. (6).
Auch sehr gut und wesentlich leichter erhältlich die von der Hülle bis zum Papierlabel originalgetreue Nachpressung von Tony Sheridans „My Bonnie“, 1961 aufgenommen mit den blutjungen Beat Brothers (= Beatles). (Phonogram. 5)
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