Rock-Spezial

Nun gut, so weit: Wir hatten —– was teutonische Frauenstimmen betrifft —– die Berliner Malaria und ihren kühlen Poesie-Rock, wir hatten die Hamburger X-Mal Deutschland mit ihrem finsteren Gotik-Rock, und wir hatten die norddeutschen Mimmies, die frech, naiv und minimal-rockig agierten. Das alles gehört der Vergangenheit an — denn nun kommen drei neue deutsche Fräuleins (aus Düsseldorf), die unter dem banalen Gruppennamen Trash Groovc Girls die wohl denkwürdigste Deutsch-Rock-Trash-Funk-Elektronik-Musik der Neu-Zeit spielen!

Die Drei beherrschen nicht nur alle Stilrichtungen der genannten drei Mädchencombos, nein, sie gehen noch einen Schritt weiter und schweben am bombastischen Pop-Sound-Himmel; die sechs Songs auf dem LP-Debüt ARBEIT SPORT & SPIEL (What’s So Funny About/EfA) könnten von Phil Spector oder Drafi Deutscher produziert sein — betörend selbstbewußt verbinden die Trash Groove Girls die elektronische Soft-Cell-Erotik mit der New-Order-Disco-Dramaük. wobei auch der pulsierende Beat eines Iggy Pop nicht zu kurz kommt (der Titelsong klingt sehr auffällig nach Iggys „Lust For Life“!). Ein geniales Album, das für Freude. Exzeß &. Esprit steht. (6)

Eine ganz andere Frau — was Typ & Musik betrifft — ist Virginia Astley; sie hat zusammen mit Richard Jobson (Ex-Skids. jetzt Armoury Show) und Troy Tate (Ex-Teardrop Explodes) gespielt und ist auf Piano. Gesang und Flöte trainiert. Vor vier Jahren veröffentlichte sie FROM GARDENS WHERE WE FEEL SECURE, ein beeindruckendes Debüt-Album; HO-ME IN A DARKENED HEART (WEA/T1S) heißt ihr neuestes Werk, auf dem die Engländerin u.a. von David Sylvian (Gesang) und Ryuichi Sakamoto (Keyboards) begleitet wird. Die impressionistische, atmosphärische Musik arbeitet mit japanischen Melodie-Strukturen und mehrschichtigen Rhythmuspassagen, wobei der helle/weite Gesang von Virginia Astley markante Zeichen setzt. Die Vorbilder liegen bei Michael Nyman. Laurie Anderson und Brian Eno. (4)

Das wohl seltsamste Album dieser Wochen kommt von Louis Philippe, einem französischen Sänger & Songschreiber, der auf APPOINTMENT WITH VENUS (Cherry Red/SPV) englisch singt und sich auf diversen Instrumenten selbst begleitet. Er vereinigt hier mit Leichtigkeit & Geschick die psychedelische Exzentrik eines Julian Cope. die kopfzerfressende Vitalität eines Syd Barrett und die Melancholie eines Scott Walker! Diese Songs vibrieren & faszinieren zwischen Folk. Psycho-Rock und Psycho-Chanson. (5)

Led Zeppelin, Sonic Youth und die Stooges bestimmen das Klangbild der Fläming Lips, die mit HEAR IT IS (Enigma/Intercord-Import) ihr erstes Album vorlegen. Hart-schlagende Rhythmen pflastern den Sound dieses US-Trios, deren Leidenschaft die Gitarre ist (elektronisch & akustisch!): „Man From Pakistan“ ist ein feuerspuckender Rocksong, der sich den pumpenden Grundrhythmus des Stooges-Klassikers „Loose“ (von der LP FUN HOUSE) gegriffen hat und nun mit aller Wucht neu interpretiert; und der „Charles Manson Blues“ erinnert mit seinen akustischen Jimmy-Page-Gitarren an das „Death Valley ’69“ der soundverwandten Sonic Youth; live spielt diese Band eine atemberaubende Sound-Montage aus“.Communication Breakdown“ (Led Zeppelin) und „Death Valley ’69“ — und genau dieses Gefühl vermittelt HEAR IT IS! (5)

Ganz aus dem Nichts taucht eine Band auf. die sich Nonfiction nennt und sich stolz als amerikanische Ausgabe der Smiths bezeichnen kann: Ihr eigenwilliger Gesang (zwischen John Martyn. Tim Buckley und Morrissey) klingt expressiv und die Song-Arrangements sind sowohl vom Jazz als auch von der Country-Musik beeinflußt. Das gleichnamige Album (Demon’TIS) von Nonfiction beinhaltet u.a. eine bezaubernde Version des John Hiatt-Klassikers „I Got A Gun“. wo die Gitarren schwer scheppern und der Rhythmus tief im Keller liegt. (5)

Wenn man sich TOP^ OF THE TOWN (Rattlesnake Records/Rough Trade) von der australischen Formation The Screaming Tribesmen anhört, werden wehmütige Gedanken wach an die vielleicht unterbewertetste Rockband der 70er Jahre — ich meine die Only Ones! Die Screaming Tribesmen spielen hier genau denselben, harmonisch-melodiösen Beat mit dem poetischen Rock-Einschlag, der den Sound der Only Ones einst so charakterisiert hat. Einfach schön & zeitlos! (5)

Country-Swing. Rhythm & Delta-Blues und Rock-Boogie bilden die brodelnde MLxed-Up-Quelle, aus der die Jet Black Berries ihre Speed-Nahrung beziehen; sie kommen aus Amerika, beherrschen die Hüsker-Dü-Rock-Dramaturgie und pendeln zwischen traditionellem Gitarren-Twang-Sound und manischer Psychedelic hin und her. DESPERATE FIRES (Enigma/Intercord-Import) sollte jedem gefallen, der nach einem eigensinnigen Gitarrensound sucht. (4)

Re-Work/Re-Model lautet das Motto, unter dem die elektronischen Heimwerker The Art Of Noise ihr Werk RE-WORKS (China Records/ Ariola Import) veröffentlichen: es handelt sich hierbei um ein Doppelalbum, das aus der letzten Studio-LP (INVISIBLE SILENCE) besteht und einer weiteren LP. die zum Teil Live-Material präsentiert, aber auch die Maxi-Single-Versionen von „Legacy“ und „Peter Gunn“. Interessant ist hierbei vor allem das ausgedehnte Space-Tech-Medley „Hammersmith To Tokyo And Back“ (Live), bei dem es den elektronischen Maschinen gelingt, das monolithische „In-A-Gadda-Da-Vida“ von Iron Butterfly mit der Deep Purple Ballade „Child In Time“ zusammenzuschweißen, zu einem würdigen Denkmal des Computer-Shuffle. (4)

Frische Rock ’n‘ Roll Impulse kommen wieder einmal von den Fetchin Bones, die vom bewährten Eddie-Cochran-Gitarrenriff bis zur einfachen Funk-Gitarre alles in ihrem Repertoire haben; BAD PUMPKIN (Capitol/ ASD) wurde von Don Dixon (R.E.M.) produziert, und wenn das wundersame Pärchen Hope Nicholls & Gary White im Duett singt, dann klingen sie so amerikanisch wie Grace Slick & Paul Kantner (Jefferson Airplane). (4)

Zu den musikalischen Vorläufern der US-Band Hüsker Du und Meat Puppets gehörten einst The Mission Of Burma aus Boston, die mit ihrem hart-zerrenden Rock-Spiel in die Geschichte eingegangen sind; ihr Sänger und Drummer — Peter Prescott — bildet jetzt den Kern der Volcano Suns, eine Band, die auf ihrem neuen Album ALL NIGHT LOTUS PARTY (Homestead’Et’A) die Mission-Tradition der schnellen, lauten und reißenden Gitarren fortsetzt; dabei singt Prescott wie ein zorniger Lou Reed und kollidiert mit seinen zwei Begleitern (Gitarre & Baß) permanent im Stakkato-Stil. Sehr interessant. (5)

Von zwei weiteren Gruppen, die das hiah-energv Gitarrenspiel beherrsehen und exzessiv ausbreiten, liegen neue Mini-LPs vor: Death Of Samantha kommen aus Cleveland und produzieren auf LAUGHING IN THE FACE OF A DEAD MAN einen schillernden Trash-Sound. der zwischen dem Psycho-Blue.s eines frühen Captain Beefheart und dem Attacken-Rock der legendären MC 5 liegt. Dicht und gespenstisch schwingen die drei Songs von Live Skull (aus New- York): Der gleichnamige Titelsong ihrer EP PUSHERMAN ruft mit seinen schreienden Slide-Fuzz-Gitarren düstere Halluzinationen hervor und lehnt sich themalisch an den Hoyt-Axton-Country-Blues „The Pusher“ (Steppenwolf machten den Song populär). Live Skull befinden sich hier auf einer nerven-sägenden Geisterbahnfahrt durch die Hölle der Großstadt-Nacht. (Beide Platten: Homestead/EfA) (Beide: 5)

Apropos Geister & Fahrt: „Rock-Spezial“-Kollege Michael Ruff spielt seit acht Jahren in einer Großstadtformation, die sich Geisterfahrer nennt und all die Musikstile schätzt, die Herr Ruff auch in dieser Rubrik mit Leidenschaft & Scharfsinn bespricht: klassischen Psychobilly-Rock, klassischen Birthday-Party-Trance-Blues und treibenden Country-Swing. FISH GOTT (What’s So Funny About/EfA) ist ihre vierte LP, sie singen deutsch, und es gefällt! (4)

Das rührige Berliner Label für innovative Cross-Over-Musik, Dossier, veröffentlicht immer wieder seltsame Perlen der Modernen Pop Musik; jetzt liegen zwei neue Werke aus diesem Hause vor: SEDUCING DECADEN-CE IN MORNING TREECRASH lautet der malerische Titel einer LP. die der irische Allround-Künstler Stano im elektronischen Psychedelic-Stil eingespielt hat: Minimalistische Keyboard-Multi-Rhythmen verbinden sich eingängig und majestätisch mit einem charismatischen Power-Rap. Dies alles strahlt die selbe Katakomben-Motorik-Stimmung aus, die Iggy Pops THE IDIOT ausgezeichnet hat. Differenzierter im Sound arbeiten Details At Eleven, eine New Yorker Art-Rock-Band, die viel mit Percussion-, Saxophon- und Stimmen-Passagen improvisiert — und trotzdem einen dichten/ wohl-organisierten Rhythmus-Rock auf dem gleichnamigen Album hervorbringt. (Beide: Dossier/EfA) (Beide: 4) Die historische Question Mark & The Mysterians haben mit ihrem markanten Orgel-Soul-Spiel den Sound der Lyres ebenso beeinflußt wie die frühen Rolling Stones. Kinks. Them und Who. Auf LYRES LYRES (New Rose/SPV) kommt jedenfalls die ganze Geschichte des Soul-Rhythm-Blues-Trashrock hoch: eingängige Rhythmen, schweißtreibende Melodien und faszinierende Otis-Redding-Hke-Gesangssequenzen! Sehr schön & sehr zu empfehlen. (5)

Einen Otis Redding-Song — „Bamalama“ — haben auch diverse Country- und Rockabilly-Musiker interpretiert, die sich unter dem Namen Mud Boy & The Neutrons versammelt haben: Ihr Album KNOWN FELONS IN DRAG (New Rose/SPV) wurde in den historischen Sun Studios von Sam Phillips (Memphis/Tennessee) eingespielt und besteht aus brillanten Cover-Versionen gestandener Chuck Berry-, Bob Dylan-, Bo Diddley-, Elmore James- und Buffy St. Marie-Originale. Dies ist der wahre Country-Billy-Rock. wie ihn die göttlichen Cramps schätzen (bei den Mud Boys spielt übrigens der Cramps- und Gun Club-Vertraute Jim Dickinson mit). (5)

Auch von der ewig-buddelnden Neo-Beatnik-Combo The Times gibt es ein neues Werk: ENJOY (Artpop Reeords/Rough Trade) beschäftigt sich inhaltlich mit dem Dollar, mit Coca-Cola und mit Vietnam — also mit Amerika. Trotzdem ist die Musik britisch; da wird John Lennon zitiert (mit seinem Plastic-Ono-Band-Hit „Remember“). da wird der näselnde Gesang von lan Hunter/Mott The Hoople imitiert, und da klingt es im allgemeinen nach 70er Jahre-British-Rock. Verspielt & ungemein poppig! (5)

Kommen wir. schließlich & endlich, zu den zwei Mega-Alben. die über den Stand des Dollars und die US-amerikanische Wirklichkeit mehr aussagen als irgendeine populäre Nachrichtensendung: Die Dead Kennedys haben sich inzwischen aufgelöst; es bleibt uns dennoch ein Ton-Testament dieser wichtigen Allround-Polit-Punk-Band erhalten – BEDTIME FOR DEMO-CRACY (Alternative Tentacles/EfA) bringt kurze Rock-Songs, die sich kamikaze-artig überschlagen und dennoch ihre Würde behalten. Sie hinterlassen uns einen schnellen, unruhigen Rock ’n‘ Roll, der irgendwann in die Geschichte eingehen wird. (5)

Auch Flipper aus dem sonnigen Kalifornien hinterlassen mit ihrer Live-Doppel-LP PUBLIC FLIPPER LIMITED (Subterranean Records) Spuren: Hart, inspirierend und unerbittlich spielen sie einen minimalistischen Rock-Sound, der sich kraftvoll ins Ohr legt. Hierbei handelt es sich um Aufnahmen, die live zwischen den Jahren 1980 und 1985 entstanden sind. Heavy-Rock mit Vision! Flipper haben ein Album veröffentlicht, das sich in seiner infernalischen Rock-Kakophonie glänzend ergänzt mit dem Mega-Hit der Velvet-Underground. mit „Sister Ray“! (6)