Spezialfall: Exzentrik

45 Lenze zählte Deutschlands Enfant Terrible Klaus Kinski, als er so gut wie pleite seine Exilheimat Italien nach mehr als sieben Jahren verließ, um in Deutschland eine Welttournee zu starten, die dann nach nur zwei Stationen enden sollte. Der Plan: Er wollte die „erregendste Geschichte der Menschheit“ erzählen, wovon jetzt „Jesus Christus Erlöser“ (Deutsche Grammophon/Universal, 6) Zeugnis ablegt. Seit I%2 hatte sich der für seine manischen Rczitationsabende berüchtigte Mime nicht mehr auf einer Bühne blicken lassen, als er am 20. November 1971 in der Berliner Deutschlandhalle im kargen Scheinwerferlicht einen von ihm selbst umgetexteten Auszug aus dem Neuen Testament mit deutlichen Zeitbezügen zur Gegenwart deklamieren wollte. Doch während zu Glanzzeiten das Auditorium wie gebannt an seinen Lippen hing, fand Kinski ein von der 68cr-Rcvoltc radikal verändertes Publikum vor, das in seiner „linksideologisch verblendeten“ Verbissenheit lieber diskutieren wollte, als diesem „reichen, langhaarigen Schauspieler im Hippie-Look“ zuzuhören, der sich wie ein dekadenter Rockstar gebärdete. Es kam, wie es kommen musste: Mehrmals gestört in seinem Vortrag, platzte Kinski in der Rolle seines Lebens schließlich der Kragen, und er titulierte einen der penetranten Störer, dem er zuvor auch noch gestattete, die Bühne zu entern, in zügelloser Rage als „dumme Sau“. Vorhang! Lange nach Mitternacht, ein Großteil des Publikums war gegangen, sprach der heiser geschrieene Exzentriker dann im siebten Anlauf doch noch seinen wie einen Steckbrief der Terroristenfahndung formulierten Text vor einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter: „Gesucht wird Jesus Christus …“. In zumeist beklemmenden Nahaufnahmen von Kinskis Gesicht fixiert, gelingt der 84 Minuten langen Dokumentation, die Regisseur Peter Geyer in akribischer Detailarbeit über Jahre aus zahllosen Archiven filterte, eine Zeitreise in eine Bundesrepublik der Post-Wirtschaftswunderzeit – mit einer vehement gegen die Autoritäten revoltierenden Generation, die ironischerweise auch Klaus Kinskis eigenwillige Persönlichkeit widerspiegelt, mit der sich der Künstler den Ruf des Querulanten erobert hatte. Ein Mike Köhler künstlerisches Vermächtnis mit Langzeiteffekt. www.kinski.de