Television – Marquee Moon

Im Februar 1977 stand die erste Television-LP im Punk-Regal und war dort neben ultravoxi der einzige Andockungspunkt für den „normalen“ Musikhörer für den es außer ELP, Floyd. Yes, Genesis und, ähem, Rainbow auch noch was gab, aber nichts „Ernsthaftes“. Nick Kent hatte im NME behauptet, marouee moon habe mehr mit dem Westcoast-Sound der Sechziger zu tun als mit Punk und damit zwar verhornte Old-Fart-Ohren geöffnet, aber auch einem kleinen Nachwuchs-Punk wie diesem hier die Haare erst so richtig zum Stehen gebracht. Aber das Einzige, was Television und die LSD-getränkten Hippies gemeinsam hatten, war, dass sie Gitarrensoli spielten. Da könnte man auch behaupten, die Bay City Rollers hätten große Ähnlichkeit mit Velvet Underground. Aber gut: Richard Lloyd hat kürzlich erklärt wiesehr er von Quicksilver Messenger Service beeinflusst war, und die Gitarrenmelodie von „Days“ ist „Mr. Tambourine Man“, rückwärts gespielt. Vielleicht ist hier mal wieder Attitüde und Optik der Punkt auf dem i: körniges Coverfoto in Rinnsteinfarben (ganz ohne gebatikte Sonnenuntergänge und Blubberblumen!), hohe Backenknochen, tiefe Augenringe – hier sprach die Großstadt, der futuristisch-verwahrloste Beton-Moloch, der 1977 zum Rock-Thema wurde (im Gegensatz zu konsenten Versatzstücken und Denk-Leinwänden wie Landkommune, Blumenwiese, Hobbit-Dorf und fremdplanetarischen Tempeln). Die Realität. Aber es ist die Musik, die marquee moon 6 noch heute nagelneu, einzig, umwerfend, perfekt und gültig macht und Television von, sagen wir mal: Slaughter & The Dogs unterscheidet (die ähnlich aussahen): die verzwickten, so simpel wirkenden Rhythmen von Billy Ficca (den Patti Smith schon 1974 mit Charlie Watts verglichen hat), die Bassläufe, die Fred Smith als fragile Streben in ein grellblaues Gerüst schraubte. Die trotzig-verzweifelte Stimme von Tom Verlaine. Und die Gitarren: ultraprimitive Riffs und bis ins Mikro-Detail ausgefeilte Perlenketten von Melodiesoli, üppig, doch extrem reduziert, verschnörkelt, doch absolut schnörkellos. Und eben kein Improvisationsgedudel, Herr Kent. Alles zusammen ergibt die wirksamste Hypnosepackung, die die Popmusik vielleicht je hervorgebracht hat -ein makelloses, vom Zahn der Trendzeit nicht anzukratzendes Meisterwerk. Nicht zu überbieten, Punkt. Dazu gibt es die 75er Single „Little Johnny Jewel“, die Television in der Form zeigt, in der sie bei ihrem ersten Auftritt im CBGB hochkant durchfielen: wackelig, unsouverän; bereit, alle Brücken zur zeitgenössischen Musik abzubrennen, aber nur momentweise genialisch. Und das oft live gespielte, im Studio nie fertig gestellte Instrumental „A Mi Amore“. Es wäre wohl zu viel verlangt gewesen, die Zugaben auf einer Extra-CD unterzubringen, damit marquee moon bleibt, wie es ist? Man klebt doch Gemälden auch keine Vorstudien an den Rahmen! Darf ich noch eine Lanze für adventure 5 brechen, „eine der enttäuschendsten Platten, die je veröffentlicht wurden“ IMark Paytressl? Das zweite Album kam schnell, die Song-Decke war dünn; man konnte auch eine gewisse Ermüdung heraushören, wenn man wollte. Das wollten viele, die Zeiten waren so: Der New-Wave-Wirbelsturm beschleunigte sich exponentiell, da konnte man nicht dulden, dass die Pioniere nicht ebenfalls extremer, radikaler und rasender wurden. Stimmt ja auch, dass der „Foxhole‘-Refrain höchstens, ähem, erheiternd wirkt, wenn man sich gerade eine UK-Subs-Single ins Hirn genagelt hat. Aber man kann das auch andersherum sehen: adventure ist entspannter, verträumter, melancholischer als das Debüt, und das ist, wenn man gerade mal nicht vorhat, rauszugehen und die Welt zu ändern, bisweilen die schönere Variante. Im Vergleich der Opener „See No Evil“ und „Glory“ sieht Zweiterer doof aus, aber ein mordscharmanter Ohrwurm ist er halt doch. Wenn das dritte Strokes-Album nur annähernd so gut wird wie adventure, haben die Buben ausgesorgt, künstlerisch; und falls jemand wissen möchte, wo R.E.M. herkommen: hier. Oder: „Werdie Ohren aufsperrt, kommt bald dahinter, dass sich auch hier ein gänzlich neuer Klangkosmos auftut.“ Stand 1978 in dieser Zeitschrift. Und manchmal stimmt so was ja auch.