The Walker Brothers – Everything Under The Sun :: Der Sturm vor der Ruhe

„The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“, die zweite und zugleich auch letzte britische Nummer 1 der Walker Brothers im Februar 1966, nimmt auf prophetische Weise den Werdegang Scott Walkers vorweg. Die langsame Verdunkelung Scotts – die Mutation zum kaum mehr berechenbaren Phantom der Künste, der im Verborgenen düsteren Gedanken nachhängt. Nach der überraschenden Trennung der Walker Brothers 1967 schwört der Sunnyboy im hippen Carnaby-Street-Look aufwendig produzierten Teenage-Angst-Balladen ab. Interpretiert statt dessen eigenwillig Jacques Brei und komponiert Songs, die wie eine Pop-Art-Essenz aus schwer existentialistischer Kost von Albert Camus, Marcel Proust, Jean Paul Sartre und Francoise Sagans „BonjourTristesse“ tönt. Nicht gerade leicht nachzuvollziehen, doch seither blicken Pop-Außenseiter wie David Bowie, Elvis Costello, Nick Cave, Marc Almond, Jarvis Cocker und Dämon Albarn zu Scott Walker auf. Acid-Head Julian Cope benannte 1981 seine exklusiv kompilierte Songkollektion der ersten vier Scott-Soloalben gar FIRE ESCAPE IN THE SKY-THE GODLIKE GENI-US OF SCOTT WALKER. Eine ungeheuerliche Entwicklung, unterstrichen durch Walkers zurückgezogenen Lebenstil, der über Jahrzehnte hinweg Gerüchte wie Wahrheiten erscheinen, Legenden in den Himmel wachsen läßt.

Bei dem mythenumrankten Bohei völlig in den Hintergrund getreten sind die Anfänge von Scott Walker im Gespann mit seinen Brüdern im Geiste, John und Gary. Also jene 115 Songs, die Label-übergreifend komplettsieht man mal von einem raren, abermals ausgesparten Konzertmitschnitt und vier spanisch gesungenen Songversionen ab-eine ironisch everything UNDERTHE SUN betitelte Anthologie zieren. Ein spätes Wunder vor allem für Langzeitanhänger der Mersey-Beat-Ara, die sich weder mit dem frühen Solo-CEuvre von SCOTT 1 bis SCOTT 4 noch mit schwer goutierbaren Kunstbrocken wie CL1M ATE OFH UNTER, TILTIundTHEDRIFTanfreunden konnten. Auf fünf CDs enthält das Box-Set nicht nur alle Songs der sechs Alben der Walker Brothers, sondern auch sämtliche Singles, EPs und 14 Archivraritäten.

Als die Walker Brothers im Februar 1965 mit jener Single debütieren, die CD Nummer eins eröffnet, scheint derAufstieg in den Pop-Olymp kaum absehbar: „Pretty Girls Everywhere“ präsentiert John Walker als Solisten, der ohne Scotts vom Tenor in Richtung Bariton zielende Stimme stets etwas schal und farblos wirkt. Wesentlich berauschender klingt das wenige Monate später sich locker in der UKTop 20 plazierende „Love Her“. Eine noch von Studiocrack lack Nitzsche in den Staaten maßgefertigte Saccharin-Ballade mit sämtlichen Ingredienzen, die auch das bald folgende Hit-Triumvirat „Make It Easy On Youself‘, „My Ship Is Coming In“ und „TheSun Ain’t Gonna Shine Anymore“ kennzeichnen: Großorchestrierter Wohlklang mit Scotts unnachahmlichem Timbre im Vordergrund und Johns begleitender zweiter Chorusstimme. Geschmackvoll eingebettet im monströsen Wall-Of-Sound. Damit gelingt den Walker Brothers nicht nur, für kurze Zeit das britische Pop-Ruder an sich zu reißen, sondern auch eine verblüffende Umkehr: Amerikaner erobern das durch die British Beat Invasion verlorengeglaubte Pop-Terrain zurück.

Auch wenn die innerhalb von iS Monaten produzierten dTei Alben der Walker Brothers qualitativ nicht mit den Meilensteinen der Beatles, Rolling Stones, Byrds und Bob Dylan konkurrieren können – die facettenreiche Mixtur aus populären Coverversionen und frühem Songwriting von Scott und lohn hinterlassen mit dem Abstand von vier ahrzehnten keinen peinlichen Eindruck. Auf dem Debüt TAKE IT EASY with TH E WALKER BROTHERS sowie den beiden Nachfolgern PORTRAIT und IMAGES reiht sich Kommerzielles an Kitsch und Kunst: Im Mainstream etablierte Komponistenteams wie Bacharach/David („AnotherTear Falls“), Leiber/Stoller („Where’s The Girl“), Goffin/King („I Need You“) und Pomus/Shuman („Hcre Comes The Night“) liefern den Löwenanteil. Der gerade ins Nachfolge-Genre Soul mutierte Rhythm’n’Blues ist mit Wilson Picketts „Land Of 1000 Dances“, Martha &. The Vandellas „Dancing In The Street“ und Curtis Mayfields „People Get Ready“ vertreten. Ein Klassiker wie George Gershwins „Summertime“ lehnt sich zärtlich an Michel Leqrands „I Will Wait For You“. Der verquere Newcomer Randy Newman empfiehlt sich mit „I Don’tWanna Hear It Anvmore“ und „LookingFor Me“. Bobby Hebbs Jazz-Lounge-Evergreen „Sunny“ verträgt sich mit Bob Dylans „Love Minus Zero“ und Louis Armstrongs „(ust For AThrill“. Ein hochwertiges Konzept, das sich auch auf den 14 unveröffentlichten Aufnahmen fortsetzt, die Disc 3 beschließen.

Einen Ausblick auf Scott Walkers wenig später beginnende Solokarriere liefert die tiefsinnige Ode „In My Room“. Eindrucksvoll folgen selbstgezimmerte Jenseitshymnen wie „Young ManCried“, „DeadlierThanThe Male“, „Archangel“ und „Orpheus“. Unter völlig veränderten Vorzeichen stellt sich das Trio 1975 noch einmal seinen dem Teenalter entwachsenen Fans. Die künstlerische Reunion beginnt rustikal-countryesk mit dem Comeback-Werk NO REGRETS, setzt sich niveauvoll auf LINES fort und endet drei lahre später abermals abrupt. Scotts eigenwillige Philosophien scheinen auf dem letzten Album NITE FLIGHTS am intensivsten durch. Versponnenes in orchestraler Überlange mit exaltiert-morbiden Inhalten über Folterpraktiken südamerikanischer Diktaturen wie in „The Electrician“, eine elegische Studie über die archaischen Ursprünge von Todessehnsucht, Völkermord und Faschismus. Thematisch nicht minder Kontroverses findet sich mit „Death Of Romance“. „Fury And The Fire“ und „Disciples Of Death“. Eine schmerzvolle Einführung in die Zukunft des vom Abgründigen vollends faszinierten Ordensbruders Scott.

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