Wire – Object 47
47. Klangkunstwerk in 32 Jahren der ersten und wichtigsten Post-Punk-Band.
Wire haben sich -innerhalb ihres Kosmos-mal wieder komplett verändert: Wer eine simple Fortführung der brachial-mechanischen Wut und Raserei von send (2003) erwartet, wird schon vom Opener „One Of Us“ geplättet sein. Das Riff erinnert an den(u.a.von R.E.M. eher hilflos gecoverten) Klassiker „Strange“, die Stimmung an die kühle Wärme der Mitt-8oer-Wire. beides aber nur entfernt, und erstaunt bemerkt man, wie die Füße zucken und tanzen wollen und das auch tun, wenn man sie nicht mit Gewalt daran hindert. Das könnte ein richtig großer Hit werden, wenn’s nicht so egal wäre. Dabei sind Wire aber unverwechselbar Wire, sofort und für jeden, der auch nur einmal „Kidney Bingos“, „Outdoor Miner“, „In The Art Of Stopping“ oder irgend ein anderes ihrer vielen Tonkunstwerke gehört hat. Man hat ihre Musik als „mathematisch“ und „architektonisch“, als Avantgarde und Minimalismus bezeichnet und dabei oft übersehen, welch tiefes Meer an Wärme und Gefühl in dem scheinbar klar konstruierten Gebilde aus konkreten Kanten und Streben schwappt. Das wird diesmal deutlicher als zuletzt. Annähernd brutal tönt erst das abschließende „All Fours“ (mit einem „Feedback-Sturm“ von Page Hamilton), aber nicht als bedrohliche Pose, sondern aus der Logik der Musik heraus. Die klingt insgesamt und in jedem Detail zeitgemäß-wie auch anders bei einer Arbeitsgemeinschaft, die in den letzten 30 Jahren diesseits von Macho-Rock, Schlagerpop und Heavy Metal praktisch jede Band dieser Welt beeinflusst hat?- und vollkommen out of time, wie eine Flaschenbotschaft aus einer Welt, in der Intelligenz Voraussetzung von Coolness ist. Genau wie 1977 und 1988 und 1999 und doch völlig anders verbinden Wire Schönheit und Suche, verstanden als Versuch/Erkundung, zerlegen die Strukturen von Kreation und Rezeption und setzen sie neu zusammen. Bezeichnend ist, dass Gitarren-Experimentator Bruce Gilbert, inzwischen 62, nicht dabei ist (was in sechssaitiger Hinsicht erstaunlicherweise kaum spürbar ist und auch nichts für die Zukunft heißt), während andererseits die Stimme von Colin Newman so jugendlich, naiv und melancholisch-freundlich (und die von Graham Lewis entsprechend bohrend, zynisch und dominant) klingt, als wäre in drei Jahrzehnten kein Tag vergangen. Unabhängigkeit von Zeitläuften war immer ein Element dieser Kunst. Mal wieder klar zu machen, dass das meiste von dem, was junge Musiker seit zehn oder auch 20 Jahren recyceln und „neu erfinden“, auf Wire beruht und sich aus ihren Quellen speist, ist nur ein Aspekt dieser wunderbaren Platte. Ein anderer ist viel wichtiger: Sie ist, eben, wunderbar- die schönste Musik, die man derzeit bei Regen hören kann, wenn man auf Kitsch. Gefühlsduselei und Pathos allergisch reagiert. Sie ragt aus dem Urwald von Fabrikation, Imitation und Entfremdung heraus wie ein einsamer, kilometerhoher Fahnenmast. VÖ: 15.7.
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