Wire – Pink Flag Chairs Missing 154
Man sieht das gerne so: daß sich mit der Punk-Revolte vor 30 Jahren die Welt der Popmusik rundum und rummstipumms änderte. Die im Zeitalter der Reformideologie gern genommenen „Aufbrüche“, „Neubeginne“, „Neudefinitionen“, „Zukunftsgewinne“ weiden da beschworen; und wie das meistens so ist, stellt man hinterher fest, daß sich soviel auch wieder nicht getan hat, schon gar nicht aus dem Nichts, daß vielmehr die Vorlagen von Elvis über Roxy Music bis zu allen möglichen Glamrock-Rüpeln bloß aufgemöbelt und -gepöbelt wurden und sogar der schröckliche Progrock-Dinosaurier seine Pranken im Spiel hatte. Die Ausnahme, die die Regel bestätigt, waren Wire; wie solitär sie als „lebende Skulptur“ in der Landschaft herumragten und -ragen, wurde erst viel später richtig sichtbar.
Ob Wire eine Punk-Band waren, ist ein Streit um des Esels Schatten: Sie waren einerseits zu alt (wenngleich ein sauberes Stück jünger als zum Beispiel Charlie Harper von den U.K. Subs und der Trommler der Stranglers), andererseits schnell und kurzhaarig genug; sie waren viel zu intelligent und andererseits nicht ganz so clever wie der eine oder andere Selbstvermarktungskünstler. Sie konnten kein Instrument spielen, als sie anfingen, nach ein paar Monaten konnten sie es dann aber doch – dank einem Übungsmarathon, der dem heutigen „Saufen statt schuften“-Punk-Ethos komplett widerspricht. Den situationistischen Grundgedanken, der Sex Pistols und Clash prägte, verstanden sie ganz anders (vielleicht besser?). Wir könnten New Wave sagen, wenn dabei nicht manch Verblendeter an Blondie und The Knack dächte.
Aber egal wie man die vielleicht ungewöhnlichste Band ihrer (und unserer) Zeit einordnet: Es bleibt die Musik, die Worte überflüssig macht. Diese Musik hat in bald drei Jahrzehnten nichts von ihrer Energie, aufregenden Schönheit, Radikalität und Kraft, derenigmatischen Romantik, Strenge und kühlen Eleganz verloren – gegen das formatierte Einheitsgegröle, das heute aus Sendern, Hallen und Übungsräumen herausmülk, wirkt das 53 Sekunden lange „It’s So Obvious“ wie ein hochkonzentrierter Vitamincocktail für Ohren und Hirn; über die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie ist mit „FieldDay ForThe Sundays“ (28 Sekunden) alles gesagt, und „Map Ref. 4i°N 9J°W“ macht ganze Armeen von Eighties-Revivalisten auf einen Schlag zu obsoleten Adabeis. Magie, Genie und Strategie der Band entfalteten sich in drei gewaltigen Riesenschritten und dennoch kontinuierlich: pink flag ist eine nach wie vor gültige Lektion in Dekonstruküon, Eindampfung von 100 Jahren Popmusik auf Minimalkonzentrate, in denen scheinbar nicht viel, in Wahrheit alles steckt, und deren handwerkliche Urtümlichkeit äußerste Präzision hervorbrachte. CHAIRS MISSING, möglicherweise das perfekteste der drei perfekten Alben, fuhr die Dichte zurück, öffnete Räume, in denen manchmal (etwa in „Heartbeat“) scheinbar fest gar nichts passierte, was Spannung und Intensität ins Unermeßliche steigerte. Andererseits hatten Wire ihr Gespür für Hits immens geschärft: „French Film Blurred“, „Outdoor Miner“ und „I Am The Fly“ sind unsterbliche Popsongs, die den Charts ihrer Zeit ein halbes Jahrhundert voraus (oder seitwärts entrückt) waren. Auf 154 brachen dann alle Grenzen, geriet jede Bewegung zur historischen Geste und jeder Ansatz zum Extrem; es entstand ein Kaleidoskop faszinierender Höhepunkte zwischen architektonisch konstruierten Großgebilden, zerbrechlichen Kleinstmelodien, zwischen grandioser Erhabenheit, uneingeschränkt tobendem Gefühl und einem Wagemut, der vor der vollkommenen Zerstörung nicht zurückschreckte – auch der eigenen übrigens, die zwangsläufig erschien: Wenn „40 Versions“ verklungen ist, rätselt man vergeblich. wie Musik noch weitergehen sollte. Der Weg, den Wire gingen, war verschlungen, konsequent und immer überraschend, aber das ist eine andere Geschichte.
Ebenso wie die Tatsache, daß die initiale Trilogie, bei ihrem Erscheinen sperrig und kaum verkäuflich, sich als bis heute unerschöpfliche Inspirationsquelle erwies und dabei doch nach wie vor unerreichbar futuristisch erscheint: ein changierendes, unergründlich reizvolles, rundum vollendetes und dennoch explosiv gegenwärtiges Denkmal. Eine vollkommen andere Geschichte ist der unterhaltungsindustrielle Umgang mit diesem dreifaltigen Klassiker: Alle paar Jahre wird er aus den verschluderten EMI -Archiven ausgegraben; diesmal fehlen sämtliche ehemaligen Bonustracks (Unverzichtbarkeiten wie „Dot Dash“, „Former Airline“, „Go Ahead“, „Let’s Panic Later“) sowie die Lyrics, dafür sind Reproduktion und Verpackung ein unfreiwilliges Denkmal für die totale Umkehrung der „Besitzverhältnisse“ im Pop: Daß diese Musik nicht mehr „uns“ gehört, sondern nur eine gnädige, eingeschränkte Leihgabe der allmächtigen Industrie ist, kann deutlicher kaum noch werden. Man hat, wenn man die CDs den Digipacks entnimmt, um sie anzuhören, fast schon ein schlechtes Gewissen, als täte man da etwas höchstens Halblegales. Und wer die fragile Schönheit der Covers nicht nur „rahmt“ („Original Masters“), sondern den „Copy Controlled“-Kuckuckauch noch mitten hinein druckt und damit alles kaputthaut wie ein Elefant beim Mikado, der ist, sorry, ein ignoranter Barbar. Oder sollte derlei bürokratische Ramponiererei ein hämischer Vergeltungsschlag für den damaligen Bildersturm sein? Das wäre noch schlimmer, denn dann hätte der Moloch am Ende doch gesiegt.
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