Rolling Stones


Wenn dieser Artikel erscheint, wir er vielleicht schon ein Nachruf sein: denn die Rolling Stones gibt es dann womöglich nicht mehr als Gruppe, weil Keith Richard wegen Handels mit Heroin in Kanada eventuell zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wird. Das Testament der Band wäre dann eine während der letzten Europatournee und in einem Club in Montreal mitgeschnittene Live-Doppel-LP. Ohne ihren Gitarristen sind die Stones undenkbar, denn er komponierte die Riffs ihrer besten Songs, war immer das musikalische Rückgrat und hielt die Gruppe mit Charlie Watts auch dann zusammen, wean auf der Bühne das totale Chaos auszubrechen drohte.Mick Jagger ist zweifellos der Showman der Band und als Textautor unentbehrlich. Aber so wenig wie man sich die Who ohne Pete Townshend, die Kinks ohne Ray Davies oder Led Zeppelin ohne Jimmy Page vorstellen kann, so wenig sind die Rolling Stones ohne Keith Richard noch die Stones. Chuck Berrys größter Schüler wird nie jemand ersetzen.

Die Stones wurden in fünfzehn Jahren Rock-Geschichte zum kollektiven Mythos und haben die Phantasie ihrer Anhänger mindestens so erhitzt wie die Beatles. Bubblegum-Produzent Jonathan King bemerkte kürzlich einmal, Mick Jagger hätte 1969 „das“ definitive Solo-Album ohne seine Gruppe aufnehmen und dann in Pension gehen sollen. Rock-Klassiker wie „Let It Bleed“ und das im Madison Square Garden aufgenommene Live-Album „Get^Yer Ya-Ya’s Out“, „Sticky Fingern*«, „Exile On Main St.“ und „It’s Only Rock ’n‘ Roll“ widerlegen ihn. „Who“-Chef PeteTownshend traf genau den Punkt, als er sagte: „Ich persönlich glaube, daß die Stones ganz einfach die größte‘ Rock ’n‘ Roll-Gruppe der Welt sind — und das ohne Einschränkungen. Das heißt nicht, daß auch ihre Platten immer groß sind… wie Glyn Johns über eine Aufnahme-Session der Stones erzählt: Man sitzt dort vielleicht und wartet wochenlang, und die bringen nur ’ne Menge Mist hervor“.

Das ist auch der Gurnd dafür warum die Produzenten Glyn Johns und Jimmy Miller schon seit langem nicht mehr mit den Stones arbeiten. Der Leerlauf während der desorganisierten‘ Sessions ist zweifellos für einen Mann wie Jimmy Miller entnervend. Leider sagt den Glimmer Twins (Jagger und Richard) niemand mehr, welche Ideen wirklich gut sind und welche Song-Ideen besser in den Papierkorb wandern sollten. „Goat’s Head Soup“ und „Black & Blue“ wurden so Musterbeispiele für die künstlerische Konfusion der Band.

Ideen für den Papierkorb m

Zu den Mythen, die die Gruppe umgeben, gehört auch die falsche Annahme, sie zähle zu den absoluten Bestsellern des Pop-Business. Ein Irrtum, der sich aufgrund der immensen Popularität und Publizität der Stones in den Köpfen der Fans einnisten konnte. Elton John und Led Zeppelin, Yes und Jethro Tull, die Beatles, Eagles und mindestens weitere zwei Dutzend Gruppen verkaufen international weitaus mehr Platten als die Rolling-Stones, die — von den Hit-Singles der sechziger und siebziger Jahre abgesehen —

Mythen ohne Ende Der Dollar rollt bei anderen

eigentlich immer eine Kult-Band geblieben sind! Die Stones unter Vertrag zu haben, war eher einte Prestige- Angelegenheit.DerDollar rollte nur richtig bei Stevie Wonder und Elvis Presley, Carole King und Simon & Garfunkel, Elton John und neuerdings Paul McCartney, die zu den Superreichen der Plattenindustrie zählen, weil sie nebenbei aueh die cleversten Geschäftsleute sind. Während ein Elvis Presley Oldies-Anthologien auch in der Bundes republik tonnenweise absetzt und ein Buddy Holly knapp zwanzig Jahre nach seinem Tod von jedem Album mühelos zehntausende Exemplare verkauft, entspricht der Plattenumsatz der Stones (Oldies-Sampler wie „Rolled Gold“ ausgenommen) bei weitem nicht der Publizität ihrer gigantischen Tourneen

Das Image der Stones wurde durch die Medien so überreizt, daß die negativen Überreaktionen mancher Kritiker-Lager beinahe verständlich sind. Allerdings nur beinahe. Denn die Rolling Stones spielen in den siebziger Jahren vielleicht nicht mehr die Rolle von Neuerern, sondern vervollkommneten nur ihren Stil mit Platten wie „Exile On Main St.“ (für mich ihre rundum gelungenste Meisterleistung) und „It’s Only Rock ’n‘ Roll“. Allein die Konsequenz, mit der sie sich allen Moden widersetzen und immer wieder zu Blues und Rhy thm & Blues als den Wurzeln ihrer Rock ’n‘ Roll-Vision zurückkehrten, ist schon bewundernswert.

Noch grün hinter den Ohren

Mehr als vierzehn Jahre sind vergangen, seit sie am 10. Mai 1963 in den Londoner Olympic Studios ihre erste Platte aufnahmen: Chuck Berrys „Come On“. Andrew Loog Oldham, Manager und Produzent der Rolling Stones bis zu ihrem vielpublizierten Rauschgift-Prozeß im Jahre 1967, erinnert sich folgendermaßen an die erste Session: „Wir nahmen ,Come On‘ auf einer Vierspur-Maschine auf. Ich hatte vorher nie eine Platte produziert, und am Ende der Session drehte sich der Toningenieur zu mir um und fragte: ,Wie sollen wir das abmischen?‘ Ich sagte: ,Was ist das?‘ Er schaute mich an, als ob ich wirklich dämlich wäre, und erklärte das langsam. Ich zuckte die Schultern: ,Ach, machen Sie das. Ich komme morgen früh zurück.‘ „

Großväter des Punk-Rocks

Verglichen mit den ausgefeilten Techniken und dem revolutionären Sound-Konzept, mit dem schon Jahre zuvor Jerry Leiber und Mike Stoller schwarze Vokalgruppen wie die Coasters und Drifters produziert hatten, waren Oldhams erste Versuche als Producer gewiß dilettantisch. Aber der Autodidakt lernte, unterstützt von Profis wie Jack Nitzsche, Phil Spector und den Toningenieuren der RCA- und Chess-Studios, sein Metier jedenfalls schneller als Jagger und Richard das Handwerk des Komponierens. Der Sound der frühen Stones-Aufnahmen wurde unzählige Male von neuen Gruppen in den letzten Jahren kopiert, imitiert und parodiert. Die meisten Punk Rock-Platten klingen beispielsweise wie frühe Stones-Aufnahmen, die statt mit 33 Umdrehungen pro Minute mit 45 gespielt werden.

Teenager-Lüste

Die Rolling Stones waren damals auch keine brillanten Instrumentalisten im Sinne von Virtuosen, auch wenn Keith Richard seinen Chuck Berry und den Rhy thm & Blues besser studiert hatte als George Harrison seinen Buddy Holly und Chet Atkins. Ein blutjunger Gitarrist namens Jimmy Page, der um diese Zeit als 15-jähriger ein vielgefragter Studiomusiker war, beherrschte sein Instrument virtuoser als Keith Richard, der oft Schwierigkeiten beim Stimmen der Gitarre hatte, auch Jahre später eine Menge von Ry Cooder lernte und sich die Gitarren immer noch von einem Spezialisten tunen läßt. Aber als Ensemble war die Gruppe einfach phantastisch und entfesselte in Tanzsälen und Kinos Tennager-Lüste so mühelos, daß sie ihre eigenen Instrumente nicht hörte.Und musikalisch waren die Stones zu keinerlei Kompromissen bereit.Genauso konsequent wie die Animals oder Yardbirds vor der Verwandlung in Pop-Bands griffen sie zurück auf das Erbe der schwarzen amerikanischen Musik, die den Jazz-Fans als zu unrein und nicht fein genug galt. Sie spielten Chicago-Blues a la Jimmy Reed, wie sie ihn von Alexis Korner gelernt hatten. Ihr musikalischer Nährvater wurde Chuck Berry, der in Großbritanien zum Rhy thm & Blues gerechnetwurde, weil er dort kaum populäre Hits gehabt hatte. Durch ihre

Cover-Versionen machten sie erstmals Komponisten in aller Welt bekannt, deren Namen erst mit dem Soul-Boom jedem geläufig wurden: Otis Redding, Solomon Burke und Marvin Gaye.

Stimmprobleme

Der Versuch, möglichst „originalgetreu“ zu spielen und trotzdem schnell populär zu werden, glückte nicht in jedem Fall. Barrett Strongs „Money“ zum Beispiel war sowohl in der Originalversion als auch in John Lennons Interpretation weit besser als die Stones-Fassung, die wie eine amateurhafte Probeaufnahme klingt. Auch war Jaggers Stimme für Songs wie Otis Reddings ,,1’ve Been Loving You Too Long“ zu wenig flexibel. Wie begrenzt seine Ausdrucksfähigkeit war, hört man daran, daß ihm der Stimmumschlag bei einer falsettartig zu singenden Strophe völlig mißglückte. Jagger muß sich dessen bewußt gewesen sein, denn diese Studioaufnahme vom Mai 1965 taucht ein Jahr später — als Live-Mitschrüt kaschiert, dem kontinuierlich hysterisches Teenager-Geschrei zugemischt wurde – auf der LP „Got Live If You Want It“ auf, eine Platte, die den Tiefpunkt in Oldhams Produzenten-Karriere markiert. Die Gospel-Balladen von Solomon Burke gewannen in Jaggers Interpretation nichts an Intensität hinzu. Rod Stewart meint kürzlich einmal in einem Interview zu mir: „Jagger ist kein großer Sänger, und er weiß das auch.“ Aber er nutzte in all den Jahren die begrenzte Modulationsfähigkeit seiner Stimme optimal aus und schrieb für sich zusammen mit Keith Richard die passenden Songs. Ein technisch besserer Sänger wie Rod Stewart hätte Stones—-Klassiker wie „Parachute Woman“ oder „Midnight Rambler“, „Stray Cat Blues“ und das legendäre „Memo Front Turner“ nicht annähernd so genial singen können. Andererseits muß ich sagen, daß ich nie eine hinreißendere Version von Robert Johnsons Blues „Love In Vain“ gehört habe als die, die Rod Stewart auf seiner ersten Tournee mit den Faces vor leeren Sälen sang!

„You’re all such lovely people Dancing gaily wund the floor But ifyou have to fight Please take your troubles out the door And now I say with sorrow Until this time tomorrow, oh We‘ 11 bid you all a fond adieu On with the show, good health to vou“ Stones, „On With The Show“

Blues-Feeling

Manchen Blues-Aufnahmen der ersten StonesJahre fehlt das authentische Blues-Feeling. Nicht nur Puristen dürften die ursprünglichen Muddy Waters-Singles Jaggers Imitationen vorgezogen haben. Aber bei schnellen Rock-Songs wie Bo Diddleys „Mona“, dem „It’s All Over Now“ der Valentinos und natürlich Chuck Berrys „Around and Around“ brillierten die Rolling Stones regelmäßig. Ihre Aufnahme von Lennon/Mc Cartneys „I Wanna Be Your Man“ ist definitiv und in jeder Hinsicht besser als die Version auf „With The Beatles“, die dank Ringo St am Stimme wie eine abstruse Mischung aus Twist und Country & Western klingt. Auch wenn die Stones in ihren Anfängen die Songs ihrer Vorbilder nicht unbedingt besser interpretierten, so bewiesen sie doch bei der Auswahl des Materials ausnahmslos einen exzellenten Geschmack. Schlager wie „Till There Was You“ oder „A Taste of Honey“, für die Paul McCartney immer eine Schwäche hatte, waren in ihrem Repertoire unvorstellbar. Nebenbei entpuppten sich die Rolling Stones bei der Behandlung von Songs anderer Komponisten als echte Autoren. Das Paradebeispiel dafür ist immer noch ihre dritte Single, „Not Fade Away“. Buddy Holly hatte das Lied nett, gefällig und durchaus unerotisch gesungen. Liebe war bei ihm noch gleichbedeutend mit Händchenhalten undMondschein-Romantik gewesen. Mick Jagger dagegen ,schrie“ die Verse im „shout“- Stil alter Blues-Aufnahmen. Die Instrumentalbegleitung war ungefähr doppelt so schnell, so daß der Song einen frenetischen Bo-Diddley-Beat bekam. Höhepunkt waren die Solo-Breaks von Brian Jones auf der Harmonika und Keith Richard an der Gitarre, in dem die beiden Instrumente aufeinander antworteten, also gewissermaßen Geschlechter-Rollen annahmen und die Sinnlichkeit des Inhalts unterstrichen. Diese „call-and-response“-Technik hatten sie der Gospel-Musik abgeschaut und in einem neuen, sexuell akzentuierten Zusammenhang ungemein effektvoll verwendet.

Rock-Klassiker

Die Lehrjahre der Rolling Stones endeten Anfang 1965 mit der „Veröffentlichung von „The Rolling Stones, Now!“. Zum gleichen Zeitpunkt brachten sie ihren ersten selbstgeschriebenen „Klassiker“ heraus, „The Last Time“, auf den in Abständen von jeweils wenigen Monaten die Singles „Satisfaction“, „Get Off My Cloud“ und „19th Nervous Breakdown“ folgten. Die Idee und sogar den Titel von „The Last Time“ hatten sie von „This May Be The Last Time“ der Gospel-Gruppe The Staple Singers entlehnt. Aber mit religiöser Endzeit-Problematik hatte dieStones-Komposition nichts mehrgemein. Sie beschwörten hier — parallel zu einigen sensationellen Songs der Kinks und der Who — erstmals das Tennager-,,Wasteland“ Mitte der sechziger Jahre. Abgesehen von „Have You Seen Your MotherBaby…“ waren die Lieder, die Jagger und Richard in der Folgezeit schrieben, nicht mehr schnelle Tanz-Nummern, wenn auch der Shake-Stil noch dominierte. Mit „The Last Time“ begann auch jene Tradition von Songs, die von der Women’s Liberation Front Ende des Jahrzehnts als „sexistisch“ gebrandmarkt werden sollte: „Under My Thumb“, „Stupid Girl“, „Stray Cat Blues“ und „Brown Sugar“. Die Verse von „The Last Time“ waren kaum mißzuverstehen, wenn Mick Jagger dem angesprochenen Mädchen bedeutete: You don’t try very hard to please me/ With want you know/ And it should be easy.

Alle Stones-Hits von „The Last Time“ bis „We Love You“ beginnen mit einem Instrumentalin tro, das die Stimmung des Songs perfekt ankündigt. Mick Jagger singt — allein oder zusammen mit Keith Richard und Brian Jones — die ersten Verse, bis alle Instrumente plötzlich an einem bestimmten Punkt in einem monströsen Akkord zusammentreffen und die aufgebaute Spannung in einem kontrollierten Chaos von Klängen explodiert. Charlie Watts‘ Baßtrommel steigert dabei so funktional wie möglich das Gefühl von unausweichlicher Katastrophe, die dann auch regelmäßig kommt. Ein Meisterstück an präzis kalkulierter Ökonomie ist „Satisfaction“. Die Nummer basiert im Grunde auf einem ständig wiederholten und kaum variierten Gitarren-Riff, während Jaggers Stimme zum Melodieinstrument wird. Ähnlich brillante Kompositionen, die einem dazu sofort einfallen, sind Smokey Robinsons „The Tracks of My Tears“ und Marvin Gayes „I Heard It Through The Grape Vine“, zwei Klassiker der Soul Musik, die nach demselben Prinzip geschrieben wurden. In Nummern wie diesen kündigte sich das totale Musik-Theater an, zu dem die Live-Auftritte der Rolling Stones schließlich wurden. Thematisch und musikalisch variiert und raffiniert wurde der Trend in den beiden nachfolgenden Alben, „Aftermath“ und ,,Between The Buttons“. In dem Drogen-Song „Lady Jane“ klangen Obertöne traditioneller britischer Folk-Music an. Anspielungen auf typisch britische Trinkspriiche finden sich in den Versen mancher Songs dieser beiden Platten, die insgesamt eine bizarre Stilisierung des Rhythm & Blues brachten, wie man ihn danach nie mehr gehört hat.

Michael, der Komödiant

Besonders „Between The Buttons“ enthält eher brillant skizzierte Entwürfe von Kompositionen als voll durchgeführte Songs. Jagger/Richards extremer Manierismus machte diese LP’s zu Kollektionen eines experimentellen R & B, der das Idiom „neurotisierte“ und es Jagger ermöglichte, so viele Rollen wie nie zuvor durchzuprobieren. In der letzten Nummer von „Between The Buttons“ tritt er als Vaudeville-Komödiant eines bierseligen Etablissements auf, der sein Publikum mit „God Bless!“ verabschiedet und ihm empfiehlt: „So if you’re out tonight/Don’t forget if you’re on your bike: Wear White!“ In dieselbe Rolle schlüpfte er nochmals auf der letzten Nummer von „Their Satanic Majesties Request“. Aber als ironischer Schlußpunkt hinter das psychedelische Welttheater dieses Albums war „On With The Show“ völlig deplaciert. Überhaupt zeigte sich hier, daß die Stones dringender denn je einen Produzenten gebraucht hätten, nachdem sie Andrew Oldhani persönlicher Differenzen wegen gefeuert hatten.

Riskante Experimente

„Aftermath“ und „Between The Buttons“ waren riskante Experimente gewesen, in denen die Rolling Stones die Wurzeln ihrer Musik in ganz individueller Weise ihrem Stil angeglichen hatten. „TheirSatanicMajestiesRequest“ war nur mehr ein ratloser Ausflug in die Gefilde exotischer Psychedelica, bei dem überdies ein fader Nachgeschmack übrigblieb. Science Fiction wie „2000 Man“ im erdhaften Idiom des Rhythm & Blues zu präsentieren, konnte unmöglich gelingen. Die Stones musizierten um der Klangeffekte willen so schlampig wie nie zuvor; Mick Jaggers Mimikry war zum erstenmal völlig unglaubwürdig, nur Charlie Watts‘ Schlagzeug rettete manche Songs aus ihrer Nichtigkeit.

Großes Comeback

„Jumping‘ Jack Flash und „Beggars Banquet“ bedeuteten wohl das eindrucksvollste Comeback, das je eine Gruppe gefeiert hat. Die Platten definierten nicht nur endgültig das Image der Stones, sie zeigten auch, daß diese Band immer noch die beste war und potentiell schon immer besser gewesen war als die Beatles. Auf „Beggars Banquet“ finden sich, wie auch auf der fast gleichzeitig aufgenommenen „Let It Bleed“, die unterschiedlichsten Stil-Einflüsse vom Delta Blues („Love in Vain“) bis zurCountry Music („Dear Doctor“). Jede der beiden LP’s war eine vollkommene Einheit wie vorher allenfalls „Rubber Soul“ von den Beatles, „Younger Than Yesterday“ von den Byrds und später „The Village Green Preservation Society“ von denKinks. Sie machten Jagger und Co. eigentlich erst zum kollektiven Mythos. Daß Ironie, Selbstparodie, irritierender Rollenwechsel und totale Sinnlichkeit, nicht aber pseudo-revolutionäre Pose in der Musik der Stones hervortraten, bemerkten die“Literaten“ und die Dogmatiker unter ihren Kritikern als letzte. Das haben sie Jagger bisher nicht verziehen. Als Party-Thema waren die Rolling Stones „out“, weil sie sich nicht in ein Klischee pressen ließen, und obwohl sie als Musiker seitdem nur noch besser geworden sind, haben viele die Stones als schöpferische Rock-Band abgeschrieben. Wenn alles nach dem Wunsch der Theoretiker verlaufen wäre, würde Jagger mittlerweile dem politischen Poseur John Lennon gleichen, der mit „Some Time In New York City“ in der Sackgasse rhetorischen Protests landete. Der Vergleich zwischen Lennons „Angela“ und Jaggers „Sweet Black Angel“ (beides Songs über Angela Davies) macht den Unterschied deutlich.

Bühnentheater

„Get YerYa-Ya s Out machte schließlich das Bühnentheater der Stones zu einer physisch erschöpfenden Tour-de-force, in der die Spannung nicht eine Sekunde lang nachließ. Produzent Glyn Johns mischte die Konzert-Mitschnitte aus New Yorks Madison Square Garden neu und nahm im Studio leichte Retuschen vor. Das Ergebnis war die technisch und musikalisch immer noch beste Live-LP, eine totale Erfahrung dessen, was Rock ’n‘ Roll von Chuck Berrys Anfängen bis zum Ende der sechziger Jahre bedeutete. Die Abfolge der Nummern gehorchte einem dramaturgischen Konzept, so wie ja auch die Auftritte der Stones theatralische Inszenierung wurden, in der — quasi als „Nebendarsteller“ — Pianist Ian Stewart (später ersetzt durch Nicky Hopkins), Trompeter Jim Price und Saxophonist Bobby Keys hinzugezogen wurden.

Back to Mono!

Stilistisch vielfältiger waren „Sticky Fingers“ und „Exile On Main St.“; aber die Tendenz zurück zum archetypischen Blues und Rock hatte sich schon seit „Beggars Banquet“ durchgesetzt, der ersten Stones-LP, die ein komplettes Konzept war und nicht nur eine Kollektion von willkürlich zusammengestellten Nummern. „Exile On Main St.“ durchzieht ein autobiografischer Faden, was um so erstaunlicher ist, nachdem Jagger vorher immer Rollen gespielt hatte. Der Eklektizismus des Albums ist ungewöhnlich, aber durchaus nicht „High Camp“, wie das Cover suggerieren könnte. Camp ist auch nicht der Hard-Rock-Song „All Down The Line“, obwohl Produzent Jimmy Miller hier Phil Spectors Devise „Back To Mono!“ folgte und die Aufnahme monofon mischte.

Das Ende vom Lied:

Muttis Söhne landen in der düsteren Welt der Fixer und Kokser Coca-Cola-Mensch

When the old men do the fighting And the young men all look on And the young girls eat their mothers‘ meat Front tubes of plasticon Be wary ofthese, my gentle friends Of all the skin you breed To have that tasty habit It ain ‚t the hands that bleed (Jagger/Richard, „Memo from Turner“)

Doppelgänger

Auf den letzten Platten sind die in den Songs dargestellten Personen leichter zu identifizieren als früher. Denn dem narzißtischen Image der Gruppe entspricht die Tatsache, daß viele Songs aus der Periode nach „Beggars Banquet“ thematisch Doppelgänger früherer Kompositionen sind. Keith Richard findet auf der Rhythmusgitarre immer wieder phantastische neue Riffs für Songs wie „Honky Tonk Woman“, „BrownSuggar“, „Soul Survivor“, „Can’t You Hear Me Knocking“ und andere, und Mick Taylors Kunst an der Leadgitarre verleiht den Stones-Aufnahmen eine musikalische Sensibilität, die im Widerspruch steht zu ihrem früheren erklärten Grundsatz,Platten möglichst „funky“ und irgendwie unfertig zu produzieren.Aber auch diese Entwicklung hat ihre innere Logik ;die auftretenden Personen sind älter, vielleicht auch weiser geworden. Die Blues-Barden der ersten Platten tranken Whiskey wie Wasser und stellten eine ungebrochene Vitalität und Sexualität zur Schau. „Mother’s Little Helper“ waren Pep-Pillen und Tranquilizer, während sich Muttis Söhne in der düsteren Welt von „Paint It Back“ und „Get Off Of My Cloud“ aufhielten.Dieselben Söhne probieren während der Ära von „Their Satanic Majesties Request“ ihre ersten Joints und LSD-Trips und fanden sich auf „Sticky Fingers“ als ausgebrannte Fixer und Kokain-Süchtige wieder.Die Stones-Songs spiegelten, indirekt kommentierend, die angelsächsische subkulturelle Entwicklung dieser Jahre wider. Ihre Phantasien brüteten Monster aus wie den „Midnight Rambler“ und den Coca-Cola Geschäftsführer, der 1956 noch ein rebellischer Lederjacken-Jüngling war ( „Memo From Turner“). Die Welt der Rolling Stones war 1971 zu einem realistischen Horrorfilm geworden.

Rückkehr im Stil der fünfziger Jahre

Fast wie um ihr Image herunterzuspielen, kehrten sie auf „Exile On Main St.“ als Rocker der fünfziger Jahre wieder, die an metallisch klirrenden Gitarren, heulenden Saxophon-Soli und sauffreudigen Bar-Pianisten eine naive Freude haben. Amerika wird als Wunsch- und Alptraum einer auf US-Tournee befindlichen Gruppe beschrieben:

Well the ballrooms And smelly bordellos And dressing rooms fllled with parasites On stage the band has got Problems They‘ re a bag of nerves on flrst nights He ain’t tied down to no home town And he thought he was wreckless You think he’s bad He thinks your mad Yeah and the guitar player gets restless.

Glaubensbekenntnis

Das folgende Album „Goat s Head Soup“ war wieder weit mehr Patchwork und ähnelte in seiner stilistischen Disparatheit mehr der „Sticky Fingers“-LP, von der Mick Jagger einmal sagte; „Vielleicht hätten wir die Platte auch ,Too Long in London‘ nennen sollen.“ Mit „It’s Only Rock ’n‘ Roll“ lief die Gruppe wieder zu alter Hochform auf, selbst wenn man sagen muß, daß die Platte längst nicht so experimentell ist wie „Between. The Buttons“ oder „Beggars Banquet“. Keith Richards Riffs waren brillant. Mick Jaggers Texte boshaft wie in alten Tagen und die Produktion (im Münchener Musicland entstanden) sensationell gut. Mit Reggae-Satiren wie „Luxury“, der puren Rock-Hysterie von „Dance Little Sister“ und „If You Can’t Rock me“, Soul-Hymnen wie „Ain’t Too Proud To Beg“ und „If You Really Want To Be My Friend“ und einem hellsichtigen Kommentar zur Rolle der Gruppe selbst (derTitelsong) formulierten die Stones ihr Glaubensbekenntnis: „It’s only rock ’n‘ roll — but I like It!“

Horror-Trip

Die Tour-de-force der Platte ist „Fingerprint File“, ein Song über einen Heroin-Dealer, der vom FBI überwacht wird und verzweifelt versucht, mit seinem Lieferanten zu telefonieren, ohne daß er dabei abgehört oder beim vereinbarten Treff fotografiert wird. Diese neben „Midnight Rambler“ spektakulärste Stones-Nummer ist ein akustischer Horror-Trip, der mit einem Gespräch zwischen dem Pusher und seinem Zulieferer endet, wobei Jagger gleichzeitig mit schriller Pimp-Stimme den gehetzten Dealer und mit sonorem Organ den beruhigend einredenden Pusher spielt:

Hello baby Mmm Mmm Who’s listenin‘ ?

But I don ‚t really know!

But you better teil this ass to keep out ofsight ‚cause I know they takin‘ pictures on the ultraviolet light Haha, yes, ah but these days it’s all secrey and no privacy Shoot first, that’s right…

Modische Trends

Für solch geniale Songs — und „It’s Only Rock & Roll“ hat nicht einen einzigen Tiefpunkt — kann man getrost ganze Langspielplatten von mittlerweile populäreren Handwerkern der Rockmusik verschenken. Umso enttäuschter erscheint mir auch nach häufigem Hören immer noch „Black & Blue“, die künstlerisch miserabelste und an Ideen ärmste LP der Stones, bei der sich die _Gruppe erstmals seit „Their Satanic Majesties Request“ an modischen Trends (Disco-Soul, Reggae, Nightclub-Jazz) orientierte, anstatt selber einen neuen Trend zu setzen. Die drei besseren Songs der LP sind Eigenplagiate im guten Sinne („Hand of Fate“, „Memory Motel“ und „Crazy Mama“), die Aufnahmen datierten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ausnahmslos mehr als zwölf Monate zurück. Fünf zur Diskussion stehende Songs, die ebenfalls fertig waren, fanden bisher nicht den Weg ins Vinyl, und ganz offensichtlich hatten die Stones selber nicht mehr viel Zutrauen zu dem damals produzierten Material. Ähnlich wie bei „Goat’s Head Soup“ waren die während der folgenden Europa-Tournee gespielten Live-Versionen weit besser als die Studioaufnahmen, ein Umstand, von dem Keith Richard einmal sagte, daß er darauf hinweise, daß man sich im Studio nicht die nötige Mühe gegeben habe.

Die Stones rollen weiter…

Ich weiß, daß es chic geworden ist, die Rolling Stones nicht mehr chic zu finden. Aber Moden werden noch alle Jahre neu erfunden, während die Stones immer sich selber treu blieben und Jagger auf der Bühne mehr Energie versprüht — und das mit mehr Charme und dekadentem Raffinement — als alle sogenannten Punk Rocker, die eine momentan gut vermarktbare Philosophie des Hasses propagieren. Was soll’s? Wenn die Rolling Stones bei einem Konzert richtig in Form sind, spielen sie alle momentan so populären Bands von den Eagles bis zu den Pink Floyd glatt aus der Halle. Man kann nur hoffen, daß das in Kürze zu erwartende Live-Album nicht ihr letztes sein wird.