Saxofon: Das Comeback des Glitzerdings


Eine Spurensuche: Wie kommt das Saxofon in den Indie-Rock von heute?

Die Adjektive, die ihm und seinen Sound in der Literatur zugeschrieben werden, reichen von „glorreich“ über „verraucht“ bis zu „sexy“ und „muskulös“. Die Bilder, die wir ihm verdanken, sind von Videos aus den 80er-Jahren geprägt: Whams 
„Careless Whisper“ mit diesem segelyachtweißen Sex-Appeal und Glenn Freys „Miami-Vice“ -Soundtrack-Beitrag „You Belong To The City“. Oder gleich von der TV-Werbung für Wet-Gel und Shampoo. Mit dem samtweichen Gebläse aus dem Off sind wir als Style-Helden in den Tag spaziert. Am eindrucksvollsten war aber die Szene, in der SIE sich IHN schnappt und zum Saxofon macht, wild knutschend in einem Nightclub: Nichts geht über einen Mentos-Kuss!

Der Mentos-Kuss ist in der Kiste für Bad-Taste-TV gelandet. Das Saxofon war die Zeitgeist-Ikone dieser Jahre. Das Glamour-Ding mit der glitzernden Oberfläche, welches Kenny G. das Entree zu den Fahrstühlen der Welt verschaffte und spätestens dann in der Versenkung verschwinden musste, als die Grunge-Jugend ein neues Drehbuch für den Rock schrieb. Das Saxofon konnte nicht der Soundlieferant für Geschichten über gebrochene Typen und apathische Helden sein. Aus dem kollektiven Gedächtnis entfernt, ruhte das Instrument als Schickimicki-Tröte bis vor ein paar Jahren in Frieden. Das Comeback hat sich über mehrere Spielzeiten angebahnt, jetzt wird offen wieder Saxofon gespielt auf unseren liebsten Indie-Rock- und -Pop-Platten. Sehr beliebt: das Sax-Solo im komplexen Elektro-Folk- oder Rock-Ambiente.

Der Kanadier Colin Stetson, der für die Sax-Parts auf den jüngsten Alben von Arcade Fire und Bon Iver verantwortlich ist, erklärt die Beliebtheit des Instruments mit den zyklischen Entwicklungen in der Rockmusik: „In den Neunzigern kam der Backlash, alles wurde auf Gitarre, Bass und Drums runtergefahren, die Rock-
Basics. Die Leute sind heute wieder offener, was Musik angeht. Die Wiederauferstehung des Saxofons hat damit zu tun, dass graduell wieder mehr Orchestrierung in die Musik gekommen ist.“

 

Als „Radical Chic“ im Sinne von Tom Wolfe dürfte sich das Halten eines Saxofonisten für die experimentierfreudige Indie-Band empfehlen: Im No-Go von gestern lauert der Glamour von heute. Im Disco-Banger How Deep Is Your Love auf dem neuen Album von The Rapture dreht das Saxofon ein paar unverschämt gut geölte Runden, als wäre es nie verschwunden gewesen.

In Destroyers „Chinatown“ erinnert es eher an den AOR aus den Vereinigten Staaten des Mainstreams der Siebziger, bei den einstigen Folkies von Iron And Wine markiert das Saxofon die Öffnung zu R’n’B, Soul und Jazz. Die letzten Bon-Iver-Songs mit Sax brachten Blogger dann aber derart auf die Palme, dass sie den Songwriter mit Phil-Collins-Vergleichen konfrontierten. Bei Ariel Pinks Kollaboration mit den Added Pizzazz („Hot Body Rub“) verweist das Holzblasinstrument auf die Historie des Instruments in Jazz und afro-amerikanischer Avantgarde. Es geht auch drei Nummern unspektakulärer: Clarence Clemons’ (Saxofonist von Bruce Springsteens E Street Band; 1942-2011) letzter großer Sax-Auftritt fiel in zwei Songs von Lady Gagas jüngstem Album: „Hair“ und „Edge Of Glory“.

Nicht noch einmal wird das von Adolphe Sax erfundene Instrument die große Wirkung produzieren, die Bruce Springsteens „Jungleland“ oder Gerry Raffertys „Baker Street“ zu Klassikern machte. Colin Stetson, der auf seinen Solo-Alben intensive Sound-Forschung mit dem eher seltenen Bass-Sax betreibt, setzt auf die unbekannten Seiten des Instruments: „Das Bass-Saxofon besitzt einen universellen Klang, der das Instrument von dem in den letzten Jahrzehnten erworbenen Stigma befreien kann. Der Bass ist das archaische Relikt des Instruments.“

Aber gleich ob Bass, Tenor oder Bariton: Die Nadelstiche, die allzu prätentiöse Saxofon-Soli in der Sozialisation hinterlassen können, sind prägend. Wer das Saxofon auf seinem Pop-Höhepunkt erlebte, hat Pech gehabt. Ich zähle zu den Leuten, die fluchtartig den Raum verlassen müssen, wenn  aus der Anlage ein Supertramp-Stück mit John Helliwell am Saxofon kommt. Wer mit dieser Musik nicht die Fake-Melancholie der 70er-Jahre assoziieren muss, kann sich womöglich noch an einer Greuel-Tat wie „Give A Little Bit“ erfreuen.