Kritik

Serienauftakt von „Snowpiercer“ auf Netflix: Klassenkampf ohne Biss


Der gleichnamige Filmhit von Meisterregisseur Bong Joon-ho („Parasite“) wurde noch einmal als Serie aufgewärmt. Die Neuauflage weiß zwar zu unterhalten, bleibt aber deutlich hinter dem Original zurück.

Eiseskälte, alles in Schnee gehüllt. Menschen drängen sich am Bahnsteig. Sie schreien einander panisch an, um vor den anderen einzusteigen. Sie reißen aneinander, werden sogar handgreiflich, Fäuste fliegen. Nein, das ist keine Beschreibung des ganz normalen weihnachtlichen ICE-Reisewahnsinns, sondern die erste Szene der neuen Serie „Snowpiercer“. In dem dystopischen Drama haben die Menschen ein chemisches Kältemittel in die Atmosphäre geschossen, um die Erderwärmung zu stoppen. Doch es kommt, wie es kommen muss: Der Versuch geht nach hinten los und eine neue Eiszeit bricht herein, die den Planeten unbewohnbar macht. Beinahe alles Leben wird ausgelöscht – nur diejenigen, die sich auf den gigantischen Zug des ominösen Visionärs Wilford retten können, überleben.

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Die zehn Folgen der ersten Staffel, die ab dem 25. Mai wöchentlich auf Netflix ausgestrahlt werden, verstehen sich als Reboot des gleichnamigen Films von Meisterregisseur Bong Joon-ho („Parasite“). Wie in der Vorlage geht es vor allem um das Zusammenleben der Menschen nach der Apokalypse. So wie übrigens auch in der französischen Grapic Novel „Le Transperceneige“ aus dem Jahr 1982, auf den die Adaptionen zurückgehen. Die neue Weltordnung findet streng in Klassen unterteilt statt: Während eine kleine Elite in der ersten Klasse allem erdenklichen Luxus frönt, lebt der Großteil der Passagiere am Ende des Zuges zusammengepfercht unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Die Abteile dazwischen führen ein halbwegs komfortables Dasein, solange sie sich qua ihrer Arbeitskraft als nützlich erweisen. Man ahnt es: „Snowpiercer“ ist zwar in der Zukunft angesiedelt, aber vor allem eine Parabel auf die soziale Ungleichheit in der Gegenwart.

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Visuell abenteuerlich

Seit der Filmvorlage aus dem Jahr 2013 ist die soziale Ungleichheit weltweit noch gewachsen und der Klimawandel als drängende Menschheitsaufgabe weiter in den Fokus gerückt. Die Möglichkeiten der Computeranimation sind größer geworden und visuelle Effekte noch täuschender. All das merkt man der neuen Serie allerdings nicht an. Von außen sieht der Zug der Superlative immer noch aus, als wäre er einer Mission aus dem Videospiel „GTA San Andreas“ entsprungen. Während die visuellen Effekte damals schon nicht State of the Art waren, sticht die Künstlichkeit der glücklicherweise nur selten zu sehenden Eislandschaft heute richtiggehend ins Auge.

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Auch bei der Kostümausstattung macht sich bemerkbar, dass es sich um eine knapper budgetierte TV-Produktion (von TNT in Auftrag gegeben) handelt. Gerade das Zugpersonal bewegt sich in erstaunlich uninspiriert designten und schlecht sitzenden Uniformen durch die Gänge. Die schlichte Aufmachung der türkisen Jäckchen und deren wenig passable Passform ist aber nicht einfach der Tatsache geschuldet, dass gute Schneider auf der Arche „Snowpiercer“ Mangelware wären. Allzu detailversiert sind die Serienmacher*innen hier generell nicht. Da wechselt die Wagonbreite schon mal von durchschnittlichem ICE-Abteil zu der eines normalen Nachtclubs mit Bar und Tanzfläche. Wie das alles durch die Tunnel passen soll und warum die Anhänger (stolze 1001 übrigens!) von außen alle gleich aussehen, bleibt ein Mysterium.

Die Probleme haben sich verschärft, die Kritik hingegen nicht

Kleinere optische Zumutungen und Logikfehler spielen gegenüber Idee und Plot der Serie aber natürlich eine untergeordnete Rolle. Nicht nur das Grundkonzept ist, wie gesagt, geblieben. Ebenfalls wie im Film, beginnt die Handlung mit der Planung eines Aufstands. In den knapp sieben Jahren, in denen der Zug bereits unaufhörlich durch das Eis prescht, wäre es bereits der Neunzehnte. Erwählter Anführer der unterdrückten „Tailies“ (vom Englischen „tail“ für „Schwanz“, „Ende“) ist Layton (Daveed Diggs), der seiner Rolle als Revolutionär aber jäh entrissen wird. Im vorderen Teil des Zuges gibt es eine Leiche und um Panik an Board zu verhindern, muss der brutale Mordfall umgehend geklärt werden. Da Layton in seinem früheren Leben als Detective tätig war, wird sein Können von Zugsprecherin Melanie Cavill (Jennifer Connelly), gleichzeitig die vermeintliche rechte Hand Wilfords, in Anspruch genommen. Die Serie nutzt seine Ermittlungen in den verschiedenen Abteilen geschickt, um Aufbau und Regeln der Zugwelt vorzustellen. Durch die Augen Laytons lernen wir so Wagons kennen, die allein zum Anbau von Erdbeeren genutzt werden, als Rinderställe und Metzgereien, als schlichte Bordbistros der dritten Klasse, dekadente Nachtclubs oder schicke Sterne-Restaurants. Je weiter es nach vorne geht, desto größer der Luxus.

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Was eine spannende Kriminalgeschichte in außergewöhnlicher Rahmenhandlung sein könnte, entpuppt sich aber leider als halbherzig erzählter Alibi-Plot, um den Stoff eines zweistündigen Filmes auf zehn 50-minütige Folgen auszuweiten. Dieses künstliche Strecken einer eigentlich engmaschigen Dramaturgie geht auf Kosten der Intensität der Message. Der Mordfall, die Ermittlungen und das folgende Tribunal rücken das Augenmerk weg von dem, was „Snowpiercer“ eigentlich ist: geballte Kapitalismuskritik. Dass die im Reboot zu kurz kommt, dürfte nicht daran liegen, dass heute weniger Kritik am wirtschaftlichen Wachstumsgebot angebracht wäre – zu Lasten anderer politischer Ziele, wie Klimaschutz und Reduktion sozialer Ungleichheit. Wahrscheinlich verlangt das Fernsehformat einfach nach etwas leichter verdaulichem Stoff.

Es geht vor allem um „ganz nette“ Unterhaltung

Trotz aller Schwächen weiß „Snowpiercer“ zu unterhalten. Das liegt vor allem daran, dass die Serie vom einzigartigen Setting eines dystopischen Kammerspiels zehren kann. Außerdem punktet sie zumindest teilweise durch herausragende schauspielerische Leistungen. Während Daveed Diggs („Blindspotting“) mal wütender, mal besonnener Layton etwas zu holzschnittartig geraten ist, überzeugt Jennifer Connelly („Alita: Battle Angel“) als pflichttreue, reservierte Taktiererin. Auch die in Deutschland weitgehend unbekannte Mickey Sumner (Tochter von Trudie Styler und Sting) entspricht ihrer Rolle als zähe Zugpolizistin Bess. Weiß man nicht um den Verlust gegenüber Bong Joon-hos scharfer Gesellschaftskritik, ist „Snowpiercer“ somit ein ganz nettes Serienerlebnis.

Für die bereits bestätigte zweite Staffel bleibt zu hoffen, dass Showrunner Graeme Manson („Orphan Black“) den Vorteil seriellen Erzählens nutzt, die Parabel weiterspinnt und sich fragt, was es braucht, um als Menschheit die Apokalypse zu überleben.

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Staffel 1 von „Snowpiercer“ mit Daveed Diggs und Jennifer Connelly startet am 25. Mai bei Netflix. Sie umfasst zehn Folgen, die durchschnittlich 50 Minuten lang sind und wöchentlich erscheinen.

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