Sting – All that Jazz


Schluß. Aus. Abgehakt. Anfang Mai ging eine Tournee zu Ende, die nicht nur aufgrund ihrer Länge aus dem Rahmen fiel. Das Wagnis, mit jungen New Yorker Jazzern vor ein Pop-Publikum zu treten, machte sich für Sting aber wider Erwarten bezahlt. An Nachfrage hätte es sicher nicht gemangelt, wenn er seine Tour nochmals um neun Monate verlängert hätte. So aber zog er einen Schlußstrich und -— zusammen mit Steve Lake —- die abschließende Bilanz.

Ende 1984 war es, auf der Karibik-Insel Montserrat, als Mark Knopfler und sein Sessionschlagzeuger Omar Hakim mit Sting, der für „Money For Nothing“ den Hintergrundgesang bestritten hatte, zu Abend aßen. Während des Essens verkündete Knopfler, daß er ein Jahr lang ununterbrochen touren wolle.

Sting sah ihn mitleidig an. „Du bist ein Idiot, Knopfler“, sagte er.

Zu jener Zeit ahnte unser Mann natürlich nicht, daß er das ganze Jahr 1985 unterwegs sein würde -— und die Hälfte von 1986 noch dazu.

„Ich bin auch ein Idiot“, gesteht Sting und legt sein müdes, blondes Haupt auf einen königsblauen Sweatshirt-Ärmel. Wir sind in München, und das Ende der Tournee ist fast in Sicht. „Ich bin Opfer meiner Neigung, ständig zu allem ja zu sagen. Die Leute geben dir halt gute Gründe, zu touren und zu touren und zu touren. Ich liebe es nun mal, auf der Bühne zu spielen. Und es hat sich für mich ausgezahlt, sehr sogar, musikalisch wie finanziell. Aber ich bin völlig ausgelaugt. Es sind jetzt einschließlich der Vorbereitungen 14 Monate…

Wir waren gleichzeitig in Australien, meine Band und Dire Straits. Und Mark sieht inzwischen genauso aus wie ich. Einfach grauenhaft “ Sting läßt die Kinnlade sacken und die Zunge über die Unterlippe hängen. „Wir sind Idioten, keine Frage. „

Irgendwann unterwegs hörte Sting auf, Interviews zu geben, denn er hatte eine Frage satt: Werden sich Police wieder formieren?

„Ich meine, was soll’s? Ich bin erstaunt, mit welcher Sentimentalität die Leute an der Band hängen. Was sollten Police heute machen? Die Gruppe hat doch fünfhundertfach erreicht, was sie sich zum Ziel gesetzt hatte. „

Ich hatte nicht die Absicht, ebenfalls diese Frage zu stellen. Keine mangelnde Achtung vor den musikalischen Fälligkeiten von Police —- Andy Summers Gitarrenkünste habe ich seit den 60ern bewundert —, aber die Leute, die gegenwärtig mit Sting spielen, gehören auf eine andere Ebene.

„Wenn es darum ginge, ausschließlich vom Improvisieren her miteinander zu konkurrieren, würde ich ganz hinten liegen“, sagt Sting im Hinblick auf seine Band, und das ist unüberhörbar wahr.

Hoffentlich kennt der werte Leser inzwischen ihre Namen, sonst war der ganze lange Treck umsonst. Die Hüte also gezogen vor dem Saxophonisten Branford Marsalis, dem Keyboarder Kenny Kirkland, dem Bassisten Daryl Jones und dem oben erwähnten Omar Hakim (von Weather Report an Dire Straits ausgeliehen, bevor Sting ihn sich schnappte) am Schlagzeug. Die jungen — und schwarzen — Löwen der New Yorker Jazz- und Jazz/Funk-Szene.

„Meine Fähigkeiten liegen im Bereich der Ideen und der Organisation. Und ich habe Erfahrung in Sportarenen und großen Stadien. Ich weiß, wie man ein Publikum in den Griff bekommt. Ich bin eigentlich nur der Organisator, der Zirkusdirektor dieser Band. Ich habe für die Parameter gesorgt, und innerhalb dieser Parameter besitzt die Band jede Freiheit, auszumalen, was sie wünscht. Ich muß nur sicherstellen, daß es nicht zu ausufernd wird. Ich muß die Grenze ziehen und sagen: ,Okay, jetzt geht es mit etwas anderem weiter.‘ Manchmal klappt es, manchmal nicht. Aber das liegt in der Natur des Jazz.“

Nach Stings Ansicht fehlt dem Jazz der Brennpunkt. Der Popmusiker, so philosophiert er, hat diesen Brennpunkt und kann den Jazz auf eine Essenz konzentrieren. „Beim Jazz kann sich der Solist in 64 Takten austoben. In der Popmusik hat man nur acht.“

Und doch liebt Sting, liebt das Publikum (überall auf der Welt), liebt die Band (darauf kann man wetten) ganz besonders den Teil des Konzerts, in dem der Komponist seine Songs einfach öffnet und die Musiker machen läßt. Das Medley aus „Bring On The Night“ und „When The World Is Running Down“ ist dieser Teil und auch der Höhepunkt des neuen Live-Albums, das bald auf dem Markt sein dürfte. „Kenny Kirkland hat ein Solo darauf, dem ich die ganze Nacht lang zuhören könnte. „

Das Album wurde in Paris aufgenommen, wo die Tour begann und endete — und wo Michael Apted die Gruppe für seinen umstrittenen Dokumentarstreifen „Bring On The Night“ filmte (mehr darüber gleich). Warum wurde den Parisern diese Ehre zuteil?

„Eigentlich ist es nur ein Zufall, daß wir dort aufhören. Ich habe in Paris angefangen in der Hoffnung, daß Apted etwas mit Ecken und Kanten für seinen Film bekommen würde. Die Vorstellung, daß es ein gelackter Konzertfilm werden könnte, behagte mir gar nicht, sondern mir gefiel die Idee, daß wir vor einem französischen Publikum noch einigermaßen rauh und ungeschliffen auftraten. Die Franzosen können nämlich sehr bissig sein. In Paris sind sie besonders smart und cool und chic. Da muß man richtig arbeiten, um seine Musik rüberzubringen. In diesem Sinne war die Entscheidung konzeptbedingt. Apted war froh, denn es gibt jede Menge schöner Architektur als Lokalkolorit. „

Das perfekte Publikum ist nach Stings Einschätzung jedoch das italienische. „Das ist wirklich das musikalischste Publikum. Ich liebe die Kommunikation mit den Konzertbesuchern, will sie in Gang bringen, ihre Reaktion herausfordern. Und wenn man dann mehrere tausend Leute den Refrain richtig mitsingen hört, ja sogar Harmoniegesang —- das ist mir in Italien passiert – ist es fantastisch, ein echtes Hochgefühl. Und natürlich haben sie in den südlichen Ländern ein starkes rhythmisches Gefühl. Je näher man an Afrika herankommt, desto besser. Nein, schreib das nicht! (Er lacht.) Das Gegenteil ist aber ganz sicher wahr. Je weiter nördlich man kommt, desto weniger musikalisch und rhythmisch sind die Leute. Deutschland ist ziemlich

übel (er gluckst), aber wenn man nach Skandinavien kommt… nun, wenn man möchte, daß die den Off-Beat klatschen, vergiß es! Keine Chance. „

Sting, Marsalis, Kirkland, Jones und Hakim sind auf der langen Tour zu einer Band geworden, und es gibt bei ihnen, wie der Boß sagt, weit weniger interne Machtkämpfe als bei Police. „Police war als Demokratie konzipiert, und das hatte zur Folge, daß ich um jeden Ton und jedes Wort in jedem Song kämpfen mußte. Wahrscheinlich hat das zu meiner Charakterstärkung beigetragen, aber in vielerlei anderer Hinsicht ging es an die Nerven. In dieser Gruppe war meine Rolle von Anfang an sehr klar. Ich habe einfach den besten Saxophonisten, den besten Keyboardmann, den besten Bassisten und den besten Schlagzeuger angeheuert. Und mich selbst habe ich als den besten zeitgenössischen Songschreiber und Sänger ins Spiel gebracht. “ Das sagt er ohne die Spur eines Lächelns oder die Andeutung von Selbstironie.

„Und dann haben wir uns an die Arbeit gemacht. Nach ein paar Monaten erreichte die Musik eine ganz neue Ebene, als die Jungs mit allen Elementen der Songs vertraut waren. Es ist eine sehr große Stilbreite in meiner Musik, von Reggae bis Cabaret, von englischer Folkmusik bis zu Jazz und Funk.“

Und all diese Stilrichtungen wurden vereinfacht, so daß sie auch in den Stadien vermittelt werden konnten, unterstelle ich leicht provokativ. Es ist doch unmöglich, komplexe Musik vor riesigen Menschenmengen zu spielen, oder?

Sting richtet abrupt den Blick seiner blauen Augen auf mich und sagt langsam, wie ein Lehrer, der versucht, seinem widerspenstigsten Schüler etwas klarzumachen: „Einfachheit… ist gut. Die meiste großartige Musik ist einfach, wirklich! Sogar großartige klassische Musik. Einfachheit ist Resultat von Vervollkommnung, nicht von Beschränktheit. Wenn jemand meine Musik als .einfach‘ bezeichnet, nehme ich das als Kompliment, nicht als Beleidigung. “ So weit zu diesem Thema.

Die Integration von vier schwarzen Jazzleuten in Stings Musik mag für alle Beteiligten positive Auswirkungen gehabt haben, und der Sänger besteht darauf, daß seine Mitstreiter als Interpreten und Entertainer immens dazugelernt haben. „Ich würde nicht sagen, daß sie bessere Musiker geworden sind, denn wie sollte man eine grade Linie noch gradermachen können? Aber sie wissen jetzt viel besser, wie sie ihre Persönlichkeit und ihre Musik rüberbringen können. Es ist erstaunlich gewesen zu beobachten, wie sie gewachsen sind. An manchen Abenden trete ich einfach aus dem Rampenlicht und betrachte sie. Branford macht zum Beispiel jetzt eine Rap-Nummer. Er ist einfach wahnsinnig.“

Wenn die Sting-Band auch in gegenseitiger Bewunderung schwelgen mag, so hat es doch aus einigen Richtungen feindselige Kommentare gegeben, am bissigsten von Branford Marsalis‘ Bruder Wynton. Wynton Marsalis‘ Wort gilt viel in Jazzkreisen, und der Trompeter war mehr als nur irritiert, als Branford und Kenny Kirkland sich von seiner Band beurlauben ließen, um mit Sting zu arbeiten. Wynton sagte: „Sting verwässert die Reinheit schwarzer Musik. “ Und er sagte auch, Branfords und Kirklands Teilnahme an dieser Verschwörung erfülle ihn mit Abscheu.

„Ja, ich habe die Äußerung gelesen. Es fällt mir schwer zu glauben, daß Wynton tatsächlich etwas so Dämliches gesagt haben soll. Wenn es an dem ist, hat er mit dem Arsch gedacht. Ich würde ihm erwidern, daß die Argumente, mit denen er seine Musik verteidigt, dieselben sind, mit denen die südafrikanische Regierung die Apartheid zu verteidigen sucht.“

Sag das noch einmal.

„Man kann doch nicht ‚rassische Reinheit‘ als irgendeine Art musikalisches Argument benutzen. Das Wesen aller Musik, besonders populärer Musik -— und auch Jazz ist populäre Musik -— besteht darin, daß sie aus anderer Musik schöpft. Das ist ihre Stärke. Und es ist doch nicht so, daß ich ihm etwa Branford und Kenny gestohlen hätte. Sie sind erwachsene Menschen. Ich habe sie doch nicht angebunden oder ihnen die Pistole an den Kopf gesetzt.“

Aber er hat ein Angebot gemacht, dem sie nicht widerstehen konnten. Nein, sagen wir, es wäre ihnen schwergefallen, es abzulehnen. Stings Bandmitglieder bekommen eine höhere Gage, als je einem Begleitmusiker im Jazzbereich gezahlt worden ist. Man kann sich vorstellen, daß sie dies zu schätzen wissen.

14 Monate. Eine lange Zeit. Die Tretmühle der Tour? Sting läßt sich nicht aus dem Tritt bringen. Am Morgen nach seinem Berlin-Konzert sah man ihn flotten Schrittes durch abgelegene Straßen der Stadt traben, vorm Erkanntwerden geschützt durch den hochgestellten Kragen seiner Lederjacke; Joggen gehört zu seinem strengen Tagesplan, wann immer er dazu Ort und Gelegenheit findet. Die anderen Jungs haben sich öfter ins Nachtleben gestürzt, aber wer will es ihnen verdenken, denn sie kosten schließlich zum ersten Mal die süßen Früchte des Ruhms. Sting hat das alles hinter sich und neigt dazu, sich mit einem guten Buch, Freuds gesammelten Werken zum Beispiel, zurückzuziehen und seine compadres an der Bar alleinzulassen.

Moralpredigten, so sagt er, hält er jedoch nicht. Er trinkt wenig. Vor vier Jahren, sagt er, habe er mit allen Drogen aufgehört. Seit mehreren Jahren ist er Vegetarier, und auf dieser Tour verzichtete er auf alle Milchprodukte. „Wenn man seinen Körper sensitiviert, indem man ihn nicht mehr mißbraucht, beginnt man die Wirkung aller Nahrungsmittel zu spüren, die man zu sich nimmt. Ich habe viel Milch getrunken, bis ich feststellte, duß es nicht gut war für mich. Dadurch wird nämlich im Körper viel Schleim aufgebaut. Schlecht für einen Sänger.

Manchmal ist es das Schwierigste, die Stimme richtig zu schützen. Sie ist ein höchst anfälliges Instrument. Während der Police-Zeit war ich zwei- oder dreimal im Jahr erkältet, und das Schlimme ist, daß man dann zwei oder drei Stunden lang auf der Bühne stehen und sich die Lungen aus dem Hals singen muß. Ich bin jetzt auch müde, aber ich schätze, ich bin eigentlich so fit wie noch nie …“

Ein Rockstar auf Tournee, das ist eine abgeschirmte Welt, aber rundherum geht das wirkliche Leben natürlich weiter. Sting hatte kaum seine Weltreise begonnen, als seine Freundin Trudy Styler von einem Jungen entbunden wurde, seinem vierten Kind. Ich weiß nicht, ob unbedarfte Menschen wie ich, die nichts mit dem Showbiz zu tun haben, das“.Warum“ je verstehen werden, aber die Geburt des Babys ist in Technicolor-Großaufnahme festgehalten im Film „Bring On The Night“. zur Musik von „Russians“. Ich enthalte mich des Kommentars und lasse Sting erklären:

„Man kann nicht voraussagen, wann ein Kind geboren wird, aber es geschah innerhalb der neun Tage, als wir filmten. Es hätte auch eine Woche früher oder später passieren können. Jake wurde an einem Freitag geboren. Michael Apted sagte als Filmregisseur: .Das solltest du wirklich filmen.‘ Ich sagte: , Nein.‘ Schließich bin ich jemand, der sein Privatleben sehr schätzt. Dann sagte er: .Hörmulzu, du machst einen Dokumentarfilm über eine Woche in deinem Leben, und deshalb darf doch das Wichtigste, was in dieser Woche passiert, im Film nicht fehlen.‘ Ich sagte: ,O.k., filmen wir, aber wenn ich es nicht im Film haben will, dann wird es nicht im Film sein. Wenn du es dennoch mit hineinnimmst, bringe ich dich um.‘ Er sagte: ,Das respektiere ich. ‚ Also nahmen wir das Team mit, und sie benahmen sich sehr gut. Das Baby wurde ohne Komplikationen geboren, Gott sei Dank. Ich habe die Kameras völlig vergessen, war nicht interessiert an ihnen.

Dann sah ich ein paar Monate später einen ersten Rohschnitt des Films in Los Angeles. All diese Filmleute waren da, fette Typen mit Zigarren, total Klischee. Man hatte der Szene die Musik von ‚Russians‘ unterlegt. Trudy und ich durchlebten das ganze Trauma noch einmal. Wir weinten beide. Brachen einfach in Tränen aus. Aber als ich mich umsah, stellte ich fest, daß diese 15 Hollywood-Mogule ebenfalls weinten. Es mußte also etwas ganz Besonderes an dieser Szene sein. Es ist nicht einfach ein willkürliches Stück Amateurfilm. Es ist wirklich sehr schön gemacht. Mit unheimlich viel Gefühl. Es geht an die Nieren. Also sagte ich: ‚Gut, laßt es im Film.'“

Und deine Freundin hatte auch nichts dagegen?

„Sie hatte dieselben Vorbehalte wie ich. Hätte ihr die Szene nicht gefallen, wäre sie nicht in den Film gekommen. Aber… sie ist Schauspielerin! Ha! Ha! Ha!‘ Ich sehe Sting fragend an.

„Alles in einem Take runtergedreht! Ha! Ha!“ „Der Wüstenplanet“ war der richtige Film für ihn. Er kommt tatsächlich von einem anderen Planeten.

„Ich bereue es nicht im geringsten. Ich meine, es kommt rüber wie ein gutes, knallhartes Stück Realismus.“

km bin ich tatsächlich sprachlos. Ich habe zahllose Popstars kennengelernt, aber nie ist mir ein so seltsam leidenschaftsloser Narzismus begegnet.

Meine Damen und Herren: Sehen Sie mein Leben als Kunstwerk. Danke, danke.

Nach einem Augenblick verblüfften Staunens meinerseits, währenddessen Sting gedankenverloren an einem Stück Zitrone kaut, setzt sich die Unterhaltung fort und wendet sich weniger heiklen Themen zu. Wie „Synchronicity“, was einige der weniger intellektuellen unter uns noch immer „zufälliges Zusammentreffen“ nennen.

Die Synchronizität überkam Sting in einer Sauna in Australien. „Ich saß da, nackt, schwitzend…“ (Mädchen, beherrscht euch!) ….. und dachte: ‚Was mach ich nur, wenn ich erwachsen bin?‘ Denn immer so weitermachen kann ich ja auch nicht, oder? Ich will doch nicht auf der Bühne herumspringen, wenn ich 45 bin. Und ich dachte, welche Interessen habe ich eigentlich ? Hauptsächlich Politik und Psychologie. Politiker will ich nicht werden. Vielleicht also Psychologe. Was für eine wunderbare Weise, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Gerade als ich das denke, geht die Tür auf, und ein Typ kommt herein, sieht mich an und setzt sich. Er sagt (australischer Akzent): ,Sie sind doch dieser Sting, stimmt’s?‘ Ich sage: Ja, richtig.‘ ,Und Sie sind doch interessiert an diesem Burschen Carl Jung, stimmt’s?‘ Ich sage: Ja, richtig.‘ Er sagt: ‚Hören Sie mal, ich hatte letzte Nacht diesen Traum …‘ Und dann erzählt er mir diesen langen absonderlichen Traum, den er gehabt hatte, und wollte, daß ich ihn analysiere. Ich fand das einfach unglaublich. „

Sting selbst ist in London bei der 86jährigen Baronin von der Heydt in Analyse, die einmal Jungs persönliche Assistentin war. „Sie ist die hellsichtigste, scharfsinnigste und am klarsten denkende Person, der ich je begegnet bin. Unglaublich beieinander, ein wahres Wunder. Sie kennt ihre Sache in- und auswendig und hört mit größter Aufmerksamkeit zu. Psychologie ist meiner Ansicht nach das wichtigste Thema unserer Zeit. Die Machthaber unserer Well gehören in Behandlung. Reagan, ein Mann, der Bomber losschicken kann, um Frauen und Kinder auszulöschen, und dem dann eine ganze Nation applaudiert, weil er den Terrorismus ausgelöscht hat… puuu! Massenhysterie ist das. Gadaffi ist ebenfalls ein verdammter Irrer, und die beiden gehören in die Therapie. Promo!“

Stimmen die Amerikaner in deiner Band mit dir überein?

„Wir waren in Australien, als Tripolis bombardiert wurde, also war die Medienberichterstattung reservierter als in Europa oder in den Staaten … aber ja, klar. Man kann nicht die gesamte amerikanische Nation als eine Masse von Mini-Rambos brandmarken. Keine Rambos in meiner Band, Kumpel! Es gibt auch noch gute Amerikaner (er kichert).'“

Nach Ende der Tour wird Sting in Amerika sechs Konzerte mit U2 für Amnesty International machen. Noch weiß er nicht, ob er allein auftreten wird, mit der Jazzband, im Duett mit Branford Marsalis oder zusammen mit Bonos Gruppe.

„Alle anderen Anlässe außer Amnesty hätte ich abgelehnt. Aber Amnesty ist eine solche Erfolgsgeschichte und so lebenswichtig, daß ich gesagt habe: Ja, ich mache es.‘ Es ist besonders notwendig in Amerika, denn dort ist Amnesty nicht sehr bekannt. Ich finde es extrem wichtig, daß die Amerikaner aufmerksam gemacht werden auf Dinge, die in Ländern geschehen, die vom Dollar kontrolliert werden. El Salvador, Chile usw. Was auch immer ich tun soll, um für diese wunderbare Organisation Werbung zu machen, tue ich.

Aber seit Live Aid habe ich jede Woche diverse Wohltätigkeitsorganisationen am Telefon. Und ich habe kein schlechtes Gewissen mehr, wenn ich ablehne, denn der Tag hat einfach nicht genug Stunden, um bei allem mitzumachen.

Band Aid hat ein Nachahmungssyndrom geschaffen, das am Ende nur Apathie bewirken wird. Farm Aid, mein Gott …“

Diese Hilfsaktionen sind nicht alle gleichermaßen wichtig, meinst du?

„Nun, wer soll das entscheiden? Ich bewerte sie ja nicht, sondern ich kann nur mchi bei allen auftreten. Und wenn ich apathisch werde, kann ich mir denken, daß es der Öffentlichkeit nicht anders ergeht. Andererseits geht es aber nur darum, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Man muß sich neue Wege ausdenken, das zu erreichen. Bowie sagte bei Live Aid, wir sollten das jedes Jahr machen. Ich bin der Überzeugung, das würde der Tod der ganzen Sache werden. Vielleicht könnte man alle vier Jahre… wie die Olympiade.“

Neun Monate auf Tournee. Insgesamt 14 Monate, ohne einen Song zu schreiben. Nun, ein Aspekt der Kreativität muß geopfert werden, wenn man sich bemüht. Schritt zu halten mit den heißesten Musikern der Szene.

Sting sagt, er sei nicht beunruhigt. „Ich schreibe über mich selbst und meine Reaktionen auf das, was mir passiert, aber ich brauche Raum und Zeil, um zu verstehen, was geschehen ist. Im Augenblick bin ich auf.lnput‘ geschaltet, und ich brauche Muße, in der ich alles verarbeiten kann. Dann schalle ich wieder auf,Output‘.

Es gab eine Zeit, da war ich sehr nervös, wenn ich keine Songs schrieb. Ich habe erst jetzt begriffen, daß es in Perioden stattfindet. Es gibt eine Zeit zuzuhören — und eine andere zu sprechen.

Das Songschreiben ist meine schwierigste Arbeit. Wenn deine Songs von Kritikern und Hörern mit aller Sorgfalt geprüft und dieser Prüfung für wert erachtet werden, gibt es keinen Weg zurück. Du kannst nicht mehr ,Also, ich treff dich dann in der Disco, Baby‘-Songs schreiben. Das geht einfach nicht.

Man wird in eine Situation gezwungen, in der man jedes Wort abwägen muß um nicht in der Luft zerrissen zu werden. Außerdem konkurriere ich noch mit meinen eigenen Songs. Und die werden immer besser. Ich mache es jetzt schon seit zehn Jahren, und immer muß ich mit meinem jeweils letzten Hit konkurrieren. Zurück kann ich nicht. Und aufhören auch nicht.“

Aber ich. Stings Tourmanager, ein großer, bärtiger Bursche, fährt sich mit dem Finger über die Kehle. Eine freundliche Weise, mir zu bedeuten, daß meine Zeit am Ende ist. Ich drehe mich um auf einen letzten Blick. Sting legt wieder sein blondes Haupt auf den königsblauen Ärmel, ganz der melodramatische Schauspieler. Der König des Weltschmerzes bei der Arbeit. Oder vielleicht tut Genie wirklich so weh.

Wir werden es nie erfahren.