Sziget-Festival 2017: Stärker als die Politik und das eigene Line-up


Zum 25. Mal fand das Sziget-Festival in Budapest statt. Das Mega-Event schwächelte zwar bei den Headlinern, fühlt sich aber dennoch an wie ein kompletter Festivalsommer.

Ob die Veranstalter sich auch einmal bitte kurz zur politischen Lage in Ungarn äußern möchten, fragt jemand auf der obligatorisch langweiligen Pressekonferenz. Kurz spitzt der Raum die Ohren, die Spannung steigt: Nein, man möchte jetzt nicht über Politik reden und auch keinen Streit mit der Orbán-Regierung riskieren. Der Fragesteller ist ein bisschen enttäuscht, dabei ist doch die Donau-Insel in Budapest, auf der das Sziget-Festival 2017 zum 25. Mal stattfindet, ein einziges Statement gegen ein immer autoritärer und konservativer werdendes Ungarn, in dem zuletzt sogar die Einführung von Wehrkunde-Unterricht an Schulen und weitere Schritte hin zum Überwachungsstaat diskutiert wurden.

Ein Mittelfinger für konservative Geister

Auf der Donauinsel, auf der vom 9. bis 15. August ein Treiben herrscht, für das über 400.000 Tickets verkauft wurden, wird hingegen die Weltoffenheit und auch im speziellen das Europa gefeiert, gegen das einige Kilometer weiter im ungarischen Parlament schon seit Jahren gewettert wird. „Island of Freedom“ ist beim Sziget fast überall zu lesen, auf einem „EU Meeting Point“ sollen die Nationen noch bewusster zusammenkommen als ohnehin schon. Knapp die Hälfte der Sziget-Besucher sind aus dem Ausland, mehr als 90 Nationen vertreten. Alle Besucher bekommen eigene Szitizen-Pässe, in denen Lageplan und Infos enthalten sind. Als Mittelfinger in Richtung konservative Geister dürfen auch das Gay-Marriage-Zelt und die LGBTQ-Venue Magic Mirrors verstanden werden, in der unter anderem Queer-Cinema gezeigt wird.

Ein Feuerwerk beendete das Festival nach 7 Tagen.

Besonders beeindruckend ist, mit welcher Leichtigkeit nicht nur solche Statements gesetzt werden, sondern die gesamte Insel beseelt und organisiert wird. Gezeltet wird hier fast überall, bis 200 Meter an die Mainstage heran, dazu werden die Camps durch Lichterketten in die Dekoration der gesamten Insel eingebunden – die Besucher erkennen diese Bemühungen an und hinterlassen das Sziget nicht wie ein Schlachtfeld.

Festival-typische Campingstuhl-Nachmittage fallen hier auch weg, weil es immer irgendwo etwas zu tun gibt. Tagsüber auf der Kirmes Geschicklichkeitsspiele testen, Akrobatik im Zirkus anschauen, dem DJ am kleinen Stand lauschen und dabei in der Hängematte lungern. In der Nacht tanzen Artisten auf einer Wiese in 15 Metern Höhe zu „Face Down Ass Up“ – warum auch nicht?

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Die Details und Anlaufstellen scheinen endlos

Art Zones, Detox-Yoga und begehbare Installationen sind natürlich keine Erfindung des Sziget-Festivals. Doch diese schiere Masse an Beschäftigungsmöglichkeiten sowie die Tatsache, dass man auf der Donauinsel fast nie Schlange stehen oder extra bezahlen muss – das haben die Ungarn schon exklusiv für sich. Für Stunden von irgendeinem amüsanten Krimskrams in den nächsten zu rutschen, was an einigen Festival-Tagen nicht nur löblich, sondern auch bitter nötig ist. Denn das Line-up des 25. Jahrgangs kann nur bedingt mit der überwältigenden Location und dem Rahmenprogramm mithalten, was bei fast einer Woche Festival allerdings auch nicht so einfach ist. An einigen Nachmittagen werden die Kunstinstallationen und Hangout-Spots dann tatsächlich interessanter als die Bands.

Und plötzlich stolpert man in eine Tanzshow in der Luft

So wird das Sziget zwar spektakulär von Pink eröffnet und von Alt-J beendet, die größte Bühne von Acts wie PJ Harvey, Kasabian und Two Door Cinema Club bespielt. Doch es gibt auch fragwürdige Abende, an denen sich das Sziget in einen EDM-Bums verwandelt und Steve Aoki es im völlig überrannten Festzelt ernsthaft für eine gute Idee hält, den verstorbenen Chester Bennington mit Dubstep-Beats zu ehren. Zuvor ruinieren die Chainsmokers zur aufrichtigen Freude zehntausender Zuschauer Hits von den Killers – und den Soundtrack von „Der König der Löwen“ gleich mit.

Der Gründer des Festivals tritt ab

P!nk war der erste Headliner im Jahr 2017

Das Gute an den Chainsmokers und Major Lazer – EDM-Acts, die weiß Gott nicht jeder erträgt – ist allerdings, dass die vielen Nebenbühnen während deren Headliner-Shows dann noch interessanter werden als zuvor und förmlich nach einer weiteren Entdeckungstour schreien.  Auf der World Stage klingt es manchmal nach Jimmy Hendrix,  Rhythmen und Sub-Genres aus der ganzen Welt zusammengebracht. In einem 360-Grad-Holzverhau legt das Kollektiv Turmstraße Elektronisches derweil auf, das deutlich weniger aufdringlich daherkommt als Aokis Summermix.  Auf der Europe Stage stehen zudem Roosevelt und Van Holzen als deutsche Abgesandte vor internationalem Publikum, wenn auch vor einem überschaubaren.

Den nachhaltigsten Eindruck hinterlässt aus deutscher Sicht allerdings Marteria, der am vorletzten Festival-Tag für regelrechte Ekstase auf der zweitgrößten Bühne des Sziget sorgt. Zwar kann er das verschwenderisch große Zelt, das er vor Mac Demarco, Vince Staples und Flume (was für eine Mischung!) bespielt, nicht füllen. Die zumeist deutschen und wenigen internationalen Gäste beenden die Show trotzdem halbnackt und durchgeschwitzt – so wie Marteria selbst. Ein britischer Journalist fragt am Ende nach einzelnen Songtiteln und bemerkt, dass Kasabian sich verdammt nochmal was von der Show des Rostockers abschauen sollten. Die funktionieren als Headliner immer noch ordentlich, präsentieren sich aber tatsächlich etwas zu zahm.

https://www.instagram.com/p/BXyZ0BUgPVF/?hl=de&taken-by=marteria

Die Headliner sind vielleicht das einzige nennenswerte Problem des Sziget 2017. Wo in diesem Jahr Pink, Kasabian und die Chainsmokers spielten, gaben sich im Vorjahr Rihanna, Muse und Die Antwoord die Ehre – der Jubiläumsjahrgang fällt im Vergleich also qualitativ etwas ab. Das Festival, das sich durch seine schiere Größe und die Vielzahl an Anlaufpunkten wie ein ganzer Festivalsommer anfühlt, konnte das schwächere Line-up dennoch kompensieren. Eine Kurskorrektur steht allerdings bevor: Károly Gerendai, der Gründer des Festivals, verlässt das operative Geschäft und gibt die Führung an eine neue Generation weiter. Zuvor hat er bei der Jubiläumsausgabe noch einer jungen Rumänin ein Forever-Ticket geschenkt hat, weil sie Sziget-Besucher Nummer 8.000.000 (!) war.

Ungarn, du kannst immer noch weltoffen und gastfreundlich sein. Gut zu wissen.

 

Eine begehbare Kunstinstallation als Rückzugsort für die Besucher

Die Reise zum Sziget Festival erfolgte auf Einladung vom ungarischen Tourismusministerium und Factory92.

Joseph Okpako WireImage
Didier Messens Redferns
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Alessandra Benedetti - Corbis Getty Images