Talk Talk – The Spirit of Eden


Es soll immer noch Leute aeben, die Talk Talk für „Synthie-Popper“ holten. Mit dem vierten Album macht Band-Chef Mark HoHs nun unmiß«erständllch deutlich, daß seine Ambitionen über die Popcharts hinausgehen.

Spätestens das 86er-Album THE COLOUR OF SPRING hätte jeden Zweifel beseitigen müssen: akustisch instrumentierte Wehmut, von gängigen Trends Meilen entfernt.

Erst zwei Jahre später folgt nun die Fortsetzung. Und die stellt alles bisher „getalkte“ in den Schotten. Hollis und sein längst auch als Musiker und Komponist voll beteiligter (Mit)produzent Tim Friese-Greene haben viel riskiert: Zunächst einen atmosphärisch-orchestralen Einstieg, den nur zu schätzen weiß, wessen musikalische Vorlieben bis zu Miles Davis reichen (in diesem Fall ist Henry Lowther der Mann mit dem melancholischen Trompetenton). Seltsame Stil- und Rhythmuswechsel wollen verkraftet sein, unerwartete Abbruche, meditative Ruhe, ober auch rohe Gitarrenriffs und manche Dissonanz. All das fließt dennoch mit größter Selbstverständlichkeit dahin, wirkt weder aufgesetzt noch konstruiert.

Als „Reaktion gegen das, was momentan auf dem musikalischen Sektor geschieht“ hat Sänger (Pianist und Gitarrist) Hollis seinen Geniestreich beschrieben. Auf Klassik (die impressionistische) und Filmmusik beruft er sich. Aber mindestens ebenso wichtig sind Rock und Pop der späten 60er/frühen 70er. Die Blues-Mundharmonika wimmert, die Hammondorgel jault, und der Soundtrack für „Easy Rider“ ist manchmal in greifbarer Nähe.

Auf der A-Seite gehen die drei Titel bruchlos ineinander über. Schon der erste führt nach dem erwähnten Intro über Bluesnahes und Psychedelisches zu verhaltenen Klavierakkorden wie von Satie. Wie schon bei CO-LOUR OF SPRING täuscht der Titel THE SPIRITOF EDEN darüber hinweg, daß Idylle und Paradies aus der Talk Talk-Perspektive nichts simpel Greifbares sind. Hymnische Schönheit haben die insgesamt 16 Musiker (vom Kirchenchor ganz zu schweigen) nicht gescheut. Aber sie ist stets sanft gebrochen, jenseits banaler Klischees. Sie beruht nicht auf kalkuliertem Wohlklang, sondern auf der Rafinesse der nie protzigen Arrangements, auf der intimen Grundhaltung: Mit offener Brust rennt Hollis auf das Trendmesser zu.

Musikalische Ereignisse ohne Schwulst — nur die ewiggleiche (wenn auch dezente) Weinerlichkeit von Hollis‘ Gesang ist auf die Dauer denn doch ein Schwachpunkt. Mir fällt so schnell keine Popproduktion ein, die gleichzeitig so privat klingt, (manchmal mit der rauhen Wucht eines Demobandes aus dem Übungskeller) dann aber wieder so ausgetüftelt bis ins letzte wohldosierte Detial (toll vor allem, wie die Holzbkäser von der Oboe bis zum Fagott einsetzt wurden). Bei jedem Anhören wird das deutlicher. Und oft gehört habe ich THE SPIRIT OF EDEN schon deshalb, weil ich die Platte vielen Leuten vorspielen wollte.

Das könnte auch in zehn Jahren noch so sein: ein Klassiker!? (kvsj Euer neues Album idteint ein wesentlich „ernsteres“ Werk zu sein als die drei vorherigen LPs…

„So ganz kann ich das nicht unterschreiben. Ich bin an alles, was ich bisher gemacht habe, mit großem Ernst rangegangen, sonst hätte ich es nicht angefangen.“

Aber die neuen Einflüsse auf THE SmiT OF EDEN, dieses breit gefächerte Angebot von Miles Davis-Klängen bis hin zu impressionistischer Musik, ist nicht unbedingt der Stoff, den man von Musiker mit Chart-Hits erwartet. ..

„Ich habe mich weiter und weiter von der reinen Chart-Musik wegentwickelt, kann zum Beispiel auch kein Radio mehr hören. Gleichzeitig haben wir immer mehr Musik .entdeckt‘, die bisher völliges Neuland für uns war, schlitterten tiefer und tiefer in den Jazz. Speziell was Miles Davis in den späten 50ern mit Gil Evans aufgenommen hat, begeistert mich und bildet mich gleichzeitig weiter. Natürlich lernte ich auch mehr über klassische oder sogenannte .ernste‘ Musik. Zuhause höre ich meistens die Solo-Piano-Werke von Erik Satie oder Janacek. Die Ruhe, die diese Musik ausstrahlt, liebe ich, und ich hoffe, daß es uns gelungen ist, etwas von dieser Ruhe auf unsere eigene Arbeit zu übertragen.“

Speziell auf der A-Seite ergibt sich eine dynamische Spannung — zwischen ruhiger, zerbrechlicher Musik und richtig rauhen Rock’n’Roll-Einschlägen, mit einer im Feedback pfeifender Gitarre und der Mundharmonika…

„Es war genau diese Spannung, die uns 14 Monate im Studio hielt. Produzent Tim Friese-Greene und ich fragten uns, ob es möglich ist, auf einer Platte diese Gegegsätze auszuleben. Wir bauten Arrangements auf, die jedem Studio-Musiker die absolute Spiel-Freiheit an seinem Instrument ließen. So gab es zwar ein vorgelegtes Gerippe, aber genug Platz für Spontaneität. Am Schluß hatten wir diese Collage aus Elementen der ganzen Musik, die wir mochten, und daraus entstand dieses, lange, zusammenhängende A-Seiten-Stück.“

Könnt ihr diese Experimente auf der nächsten Platte fortsetzen?

„Darüber denke ich nicht nach. Die Einf lüße, denen ich ausgesetzt bin, und meine Vorlieben werden zusammen etwas Neues ergeben.“

DIE KUNST AUF DEM COVER

Nicht nur musikalisch, auch optisch lieben es Talk Talk etwas anspruchsvoller. Mark Hollis über die Covergestaltung: „Vom ersten Tag an war mir klar, daß diese 30 x 30 cm-Fläche besonders gut aussehen sollte. Im Idealfall so gut, daß man sie, ohne sich zu schämen, als Bild an die Wand hängen könnte. Und, ich war schon immer ein Anhänger von Kontinuität, einer Serie von verwandten Bildern. Das ist auch der Grund, daß wir stets mit dem gleichen Illustrator, James Marsh, gearbeitet haben — bisher auf allen vier Talk Talk-LPs. Das Cover des aktuelen Albums ist auch vom Münchner Jazz-Label ECM inspiriert. Ich halte die ECM-Cover für die allerbesten.“