Temperamento! Voce! Potere! Belleza!


Die Deutschen sind diszipliniert, höflich, ehrlich aber auch langweilig; sie leiden unter einem fürchterlichen Minderwertigkeitskomplex.

Diese nicht gerade schmeichelhafte Feststellung teilte der Deutschland-Korrespondent des britischen „Guardian“ Anfang Januar seinen Lesern mit.

Ob das nun im Einzelfall stimmt oder nicht, sei dahmgestellt. Vielleicht erklären besagte Eigenschaften aber die hierzulande stetig wachsende Neigung zu schönem, klarem Design, eleganter Kleidung und geschmackvoll arrangierten Songs, vorgetragen von klassisch gut-aussehenden Frauen. Und all das möglichst aus Italien, denn vom individuellen Stil verstehen die lebensfrohen Italiener nun mal seit alters her eine beachtliche Menge. Ecco!

Das Nachkriegs-Klischee des kleinen Gastarbeiters aus dem Süden, der sich angeblich nur von Spaghetti, Pizza und Chianti ernährt, bei jeder Gelegenheit Canzones à la Caruso schmettert und Behausungen wählt, die reichlich mit Fischnetzen dekoriert sind, konnte glücklicherweise auf die Dauer der Wirklichhkeit nicht standhalten.

Mailänder Design – da verdreht der Kenner mit Wonne die Augen. Mode aus Rom – da greift selbst die snobistische New Yorkerin ohne Zögern zu. Und diese Frauen! Kein Schimmer mehr von der ewig schimpfenden, durch zahlreiche Bambini in die Breite gegangenen Mamma, wie sie Vittono de Sica m den 50er Jahren in seinen Filmen präsentierte.

Die junge italienische Frau ist selbstbewußt, versucht – so weit möglich – ihr Leben auch selbst zu bestimmen und sieht selbst Mitte Dreißig atemberaubend aus. Ihre Stimmbänder sind, eventuell durch Generationen schreiender weiblicher Vorfahren, aufs beste für ein unverwechselbares Timbre geschult. Das feurige Temperament ist eh vorhanden, und schon die Venezianerinnen des 17. Jahrhunderts war berühmt für ihre unglaubliche Haarpracht.

Schau sie dir an, die Maria Ilva Bilcati, genannt Milva, die aus einem kleinen Fischerort namens Goro stammt und sich vom Schlagerstar der 50er zur respektablen Brecht-Sängerin mauserte.

Oder die Löwin aus Kalabrien, Loredana Berte. Einst war sie Statistin im Fernseh-Ballett, diente mit anderen als tänzerischer Blickfang für Rita-Pavone-Auftritte. Heute knallt sie dem Publikum mit kraftvoller Sicherheit ihr „Non sono una signora“ vor den Latz – und die Leute lieben sie dafür, daß sie sich offenherzig als unfeine Dame präsentiert.

Oder die zierliche ehemalige Klavierlehrerin Carla Bissi! Vom ersten Ton an standen jüngst die kühlen Hamburger in ihrer Musikhalle und vergötterten die zarte Schönheit mit der sanft-sicheren Stimme, die sich Alice nennt.

Wahrlich, die Zeiten haben sich geändert, und seit die Italienerinnen sich auf temperamentvoll elegante Art emanzipieren, erregen sie auch jenseits des Appen vermehrt Aufmerksamkeit. Sie symbolisieren selbstbewußte Weiblichkeit, ohne sauertöpfisch und blaustrümpfig zu verschrecken. Indem sie sich den übermächtigen Krallen der allgegenwärtigen Kirche entziehen, sich freimütig zum Lover statt zum Ehemann plus Kinderschar bekennen, bewundert man sie auch hierzulande. Teilweise sogar noch mehr als in heimischen Gefilden, denn da bestimmen – zumindest außerhalb der Metropolen – fast durchweg noch die Macho-Regelungen das Leben einer Frau: Kinder, Küche, Keller, Kirche, basta!

Gianna Nannini zum Beispiel.

Die Rock-Prophetin gilt mittlerweile im eigenen Land nicht so viel wie bei uns, denn mit ihren rotzfrechen Kommentaren, ihrem knallharten Rock und ihrem eher maskulinen Auftreten verschreckt die aufgeweckte Canzoniera ihre Landsleute. So weit soll’s dann doch nicht gehen.

Gianna stammt aus Siena, einem kleinen Nest, das ihre Begabung und ihr Temperament allzu sehr einengte. „An einem Punkt war es mir absolut nicht mehr möglich, mich auszutoben.“

Erst nach Jahren des verbissenen Kampfes erkennen die enttäuschten Eltern den Berufswunsch der musikalischen Tochter an. Aus dem netten Mädchen mit den hübschen Locken, das reizende Balladen trällerte, wurde eine kratzbürstige Rock-Röhre in Jeans, Lederjacke und Turnschuhen – ein Schock für so manchen italienischen Kleinstädter. „Inzwischen aber“, so Gianna, „haben sie Respekt vor meinem Freiheitsdrang.“

Eine wahre Wonne, Gianna beim „Rockpalast“-Auftritt ihren“Latin Lover“ zelebrieren zu sehen. Sie scheint vor Energie aus allen Nähten zu platzen, brüllt, krächzt, schwitzt und tobt, als habe sie ein unerschöpfliches Reservoir an Kraft und Spielfreude. Das Publikum spürt das und dankt es ihr „Die Rockmusik“, freut sich Gianna, „ist heute da, wo sie hingehört, nämlich beim Volk.“

Gleich drei der singenden Signorinas traten unlängst beim 19. Veroneser Festival auf, einer Veranstaltung, die die Musikbox-Hits der vergangenen italienischen Saison auf der Bühne vorstellt. An der Spitze die beiden Superstars Berte und Alice, irgendwo in der Mitte die kleine Sizilianerin Giuni Russo, die den 1. Preis als beste Nachwuchssängerin erhält. Das einzige, was die Betreuerin ihrer Plattenfirma am begabten Nachwuchstalent zu bemängeln hat, ist die körperliche Größe und „daß sie leider nicht so hübsch ist wie Loredana. Aber ihre Stimme ist enorm.“

Tatsächlich, die kleine selbstbewußte Person mit den reizvoll herben Zügen hat ein Organ, daß eine Nina Hagen erblassen lassen könnte. Der Venezianer Franco Battiato, ein arrivierter Kollege, erkannte spontan das Talent der klassisch ausgebildeten Cantanta: „Sie ist der Sopran der Neuen Welle!“ Man höre sich „Crisi metropohtana“ an – und weiß, was Battiato memt.

Giuni übertönt beim Gespräch im Garten eines ländlichen Gasthofes problemlos den kreischend vorbeirasenden Vorortzug. Ihr erklärtes Ziel ist die Verbindung klassischer Sanges-Tradition, volkstümlichen Liedgutes, Pop, Rock und New Wave: „Italienische Lieder waren immer von der Klassik beeinflußt. Sie werden sich in Zukunft in eine neue, aufregende Richtung entwickeln“. Spricht’s und jubelt einer Callas gleich in den milden italienischen Herbst-Himmel.

Am Nachmittag des nächsten Tages kurz vor den Vorbereitungen zum abendlichen Festival, summt Verona vor geschäftiger Aufregung ob des Ereignisses. Vor den Hotels der Stars drängen sich hysterische Fans, in Italien hat man noch die echten, grenzenlosen Bewunderer, hier ist man Liebling, hier kann man’s sein.

Entsprechend Primadonnenartig geben sich die ungekrönten Canzone-Königinnen Berte und Alice. Schon jetzt steht fest, daß Loredana den ersten Preis bekommt. Das ändert jedoch nichts an ihrer obermiesen Laune, da sie schlecht geschlafen hat, und viel zu früh, nämlich gegen 14 Uhr, aufstehen mußte. Zu allem Übel wollen sich ein paar lästige Schreiberlinge mit ihr unterhalten, wie unangenehm Ihr Ziel sei es, in London und New York zu arbeiten, knurrt sie mißmutig, Italien sei auf die Dauer zu eng und Deutschland im Grunde nur eine Stufe auf ihrer Erfolgsleiter. Am Abend werde ich schon sehen, was für eine Sensation sie sei.

Ihr Auftritt ist atemberaubend, Loredana hat nicht zu viel versprochen. Im heiligen, weißen Hochzeitsgewand schwebt Madame auf die Bühne, in den brav gefalteten Händen einen artigen Strauß. Doch schon beim ersten Refrain ihres Nicht-Signora-Songs schmeißt sie den Strauß weg, reißt die Handschuhe runter, rafft die respektierlichen Röcke und stapft mit ihren Traumbeinen wie der Leibhaftige über die Bretter. Selbst als sie auf einem ihrem Vorgänger gewidmeten Ei ausrutscht und mit hörbarem Knall auf ihren Allerwertesten knallt, röhrt sie ungerührt weiter. Die Menge rast! Eine unglaubliche Frau.

Oder Alice, das entzückende Töchterchen eines Weingutbesitzers in der Gegend von Rimini. Es dauerte über fünf Jahre, bis ein jeder in ihr nicht nur dashinreißende, ach so weibliche Geschöpf erkannte, sondern die Komponistin und Sängerin respektierte. Ihr „Per Elisa“ ist ein zauberhafter Song, allerdings scheinen die meisten ihrer Canzones nach diesem Erfolgsrezept gestrickt. Ihre manchmal etwas melodramatischen Gesten scheinen auf die Lange eines Konzertes hie und da überstrapaziert, aber sie kann es sich leisten. Schließlich ist Alice Italienerin, das gehört dazu.

Befragt, ob sie im Vergleich zu männlichen Kollegen einen Unterschied spüre, verneint sie. „Die Arbeit ist die gleiche, und der Erfolg auch.“

Hatte sie es schwerer, weil sie nicht verheiratet ist, also nicht den gesellschaftlichen Normen der Heimat entspricht? „Vielleicht. Aber was soll’s. In den entscheidenden Positionen sitzen halt überall noch Männer. Oder ist der Chefredakteur, für den du das schreiben willst, etwa eine Frau?“

Wie recht sie hat.