The Beatles – Paperback Writer


Sesam öffne dich: Als erster Außenstehender durfte der Journalist Mark Hertsgaard in den Abbey Road Studios die Originaltapes mit unveröffentlichten Beatles-Aufnahmen hören.

Fort Knox liegt mitten in London. Irgendwo in den Katakomben der Abbey Road-Studios hinter einer dreifach gesicherten Tür, die über ein Alarmsystem mit dem Polizeirevier um die Ecke verbunden ist, lagert ein streng bewachter Schatz. Einer, der für Beatles-Fans mehr Bedeutung haben dürfte als die gesamten Goldreserven der Vereinigten Staaten: In unscheinbaren, rotweißen Kartons von der Größe dicker Telefonbücher schlummern die Originalbänder aller Aufnahmesessions der Fab Four. Oder für Statistiker: rund 400 Stunden unveröffentlichte Musik, die John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr zwischen Juni 1962 und April 1970 aufgenommen haben.

Die Sicherheitsbestimmungen in den heiligen Hallen der Beatles-Plattenfirma EMI sind so streng, daß nicht einmal der firmeneigene Archivar Mark Lewisohn Zutritt hat. Wenn Lewisohn eines der Beatles-Bänder anhören will, muß er am Tag vorher bei den EMI-Oberen per Fax die Erlaubnis einholen. Am nächsten Morgen wird das Tape geliefert, das selbstverständlich nur im Beisein eines Sicherheitsmitarbeiters in einem Kontrollraum des Studios angehört werden darf. Keine Chance also für einen Außenstehenden, in die Schatzkammer der Beatles vorzudringen? Doch. Dem amerikanischen Journalisten Mark Hertsgaard gewährten die Plattenbosse Audienz im Allerheiligsten. Dort durfte Hertsgaard insgesamt 50 Stunden lang unveröffentlichte Musik der Beatles hören. Demoversionen, Songskizzen und unfertige Fassungen von Beatles-Klassikern. Unter dem Eindruck der Listening-Sessions schrieb Hertsgaard das Buch ‚The Beatles -Die Geschichte ihrer Musik‘ (Carl Hanser Verlag, 260 Seiten, DM 58.-) Es gibt kaum eine Band, über die in den letzten 25 jähren mehr berichtet wurde als die Beatles. Wie kommt man auf die Idee, ein weiteres Buch über die Fab Four zu schreiben?

„Klar, es gibt jede Menge Bücher über die Beatles. Aber der größte Teil handelt vom Privatleben der Musiker und nicht von der Musik. Und meistens sind sie auch noch schlampig recherchiert und schlecht geschrieben. Während der Arbeit an meinem Buch habe ich Dutzende andere gelesen und war schockiert darüber, wie unzuverlässig sie in fachlicher Hinsicht sind. Ich habe den Eindruck, die Autoren glauben, sie müssen ihre Behauptungen nicht überprüfen. So kommt es dann, daß irgendjemand erfahren hat, daß ein anderer gehört hat, daß John Lennon irgend etwas gesagt hat. Das reicht dann aus, um ein Buch zu schreiben. Ich habe versucht, mich den Beatles als investigativer Reporters zu nähern, um die Wahrheit vom Mythos zu trennen. Man kann mein Buch als Biographie der Beatles-Musik sehen. Irgendwann werden die Beatles als die vielleicht wichtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts angesehen. Weshalb man mit ihnen auch ernsthaft umgehen sollte. Viele meinen, die Beatles waren ja nur Rock’n’Roller und deshalb kann man ruhigen Gewissens auch billige Bücher über sie schreiben. Niemand käme auf die Idee, mit einer ähnlichen Einstellung eine Biographie über Hemingway oder Picasso zu schreiben.“

Du hattest die Gelegenheit, in den EMI-Archiven als erster Außenstehender unveröffentlichte Beatles-Aufnahmen zu hören. Wie kam es dazu?

„Ich sollte einen Artikel für den ‚New Yorker‘ über die bevorstehende Reunion der Beatles schreiben. Bei den Recherchen habe ich mich mit Mark Lewisohn, dem Archivar der Abbey Road-Studios, angefreundet. Schließlich bat ich die EMI-Bosse um Erlaubnis und bekam die Gelegenheit, gemeinsam mit Lewisohn die Tapes anzuhören. Danach entschloß ich mich dann, das Buch zu schreiben.“

Wie haben die Beatles auf dein Eindringen in Abbey Road reagiert?

„Ganz seltsam. Offensichtlich wurden sie von EMI nicht informiert. Obwohl ich ja die ausdrückliche Erlaubnis hatte, wollten sie mir ein Gerichtsverfahren anhängen. Schließlich stellte sich heraus, daß ich im Recht war. Sehr zum Ärger von George Harrison. Der war nämlich ganz wild darauf, mich zu verklagen. Komisch, daß gerade der spirituelle Beatle so sauer reagiert hat.“

Wie sind die Listening-Sessions abgelaufen?

„Du sitzt oben im Kontrollraum, siehst durchs Fenster runter auf Studio 1 und hörst dabei die Bänder, die vor Jahren genau an diesem Ort aufgenommen wurden. Du hast das Gefühl, bei der Entstehung der Songs dabei zu sein. Es ist, als ob du ein altes Bild von einer Party hervorkramst, auf der du vor zehn Jahren gewesen bist. Plötzlich erinnerst du dich, wer alles da war, wer versucht hat, wen anzubaggern und wer am Ende besoffen war.“

Welcher Song hinterließ dabei den größten Eindruck?

„Das war ‚A Day In The Life‘. Für mich das absolute Meisterwerk der Beatles und eines der größten künstlerischen Statements des 20. Jahrhunderts. Kunst nicht als Selbstzweck. ‚A Day In The Life‘ ist schlichtweg die perfekteste Verbindung von Avantgarde und Mainstream, klassischer Musik und Pop. Auf dem ersten Take ist lediglich John Lennon mit seiner akustischen Gitarre zu hören. Das klingt noch wie ein simpler Folk-Song. Beim zweiten Take setzt dann das Klavier ein, der dritte ist fehlerhaft und erst beim vierten Mal kriegen’s die Beatles richtig hin. Anschließend beginnen sie, am Arrangement zu feilen. Dann kommt das Orchester dazu, und du kannst nachhören, wie der Song langsam seine endgültige Form annimmt.“

Welche Geheimnisse verraten die Aufnahmen über die einzelnen Beatles?

„Weil auf den Tapes auch das Studiogelaber der Band enthalten ist, kriegt man viel von den Charakteren der Beatles und von ihrem Verhältnis untereinander mit. Bei ‚A Hard Days Night‘ zum Beispiel hört John plötzlich auf zu spielen und sagt in Richtung Kontrollraum: ‚Ich hab ’nen komischen Akkord gehört.‘ Produzent George Martin antwortet: ‚Ich auch.‘ Lennon: ‚Es war er.‘ Mit er war Paul McCartney gemeint. Paul aber spielt einfach weiter, so als ob nichts geschehen wäre. Er würde nie einen Fehler zugeben. Im Gegensatz zu Lennon. Auf den Bändern ist nachzuhören, daß John ständig Fehler macht, diese auch ruhigen Gewissens zugibt und dabei über sich selber lachen kann. Paul konnte das nicht. Er war eben der Perfektionist und John der eher lässige Typ.“

Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, daß die Beatles während der Sessions Drogen genommen haben?

„Bei der Aufnahme von ‚Think For Yourself‘ für das Album ‚Rubber Soul‘ waren die Beatles absolut stoned. Sie verhalten sich wie pubertäre Jungs, furzen ständig und witzeln über ihre Körperfunktionen. Irgendwann verlassen John und Paul für ein paar Minuten das Studio. Als Paul zurückkehrt, sagt er zu den anderen: ‚Ich komme gerade aus Olympia. Ich habe die Fackel entzündet.‘ Wenig später kommt auch John zurück und glaubt, endlich eine bestimmte Harmonie singen zu können, die er vorher verpatzt hatte: ‚Ich hab’s gerade auf dem Klo gesungen, vielleicht krieg ich’s jetzt ja hin.“

George Harrison stand stets im Schatten des Teams Lennon/McCartney. Wie war sein Einfluß auf die Beatles?

„Es wird immer wieder gern behauptet, Harrison habe keinen besonders großen Einfluß auf die Musik der Beatles gehabt. Das ist schlichtweg gelogen. George war die wichtigste Quelle für die neuen, frischen Sounds der Beatles. Diese Sounds haben die Beatles zu den Beatles gemacht. Seinen Einfluß hört man besonders gut bei den Session-Tapes zu ‚Sgt. Pepper‘ heraus.“

Was ist die größte Legende über die Beatles?

„Das ist sicherlich die Behauptung, daß die Trennung im April 1970 unabänderlich gewesen sein soll. John Lennon erklärte dazu: ‚Ich habe die Band gegründet, und ich habe sie auch aufgelöst. Das war’s.‘ Sorry, bei allem Respekt vor John, aber so einfach ist das nicht gewesen. Auf einem der Tapes von den Aufnahmen zu ‚Let It Be‘ ist eine kurze Unterhaltung zwischen ihm und Harrison zu hören. George sagt: ‚Ich habe soviele Songs geschrieben, die reichen mindestens für die nächsten zehn Jahre. Ich glaube, ich mache ein Soloalbum.‘ John erwidert: ‚Ja, das ist eine großartige Idee.‘ Und dann sagt Harrison etwas sehr Wichtiges: ‚Wir alle können Soloprojekte machen. Ich glaube, das hilft uns dabei, die Beatles-Sache am Laufen zu halten.‘ John stimmt ihm zu. Und das läßt seine arrogante Behauptung, er allein für die Auflösung der Band verantwortlich, in einem ganz anderen Licht erscheinen. Die Kernaussage dabei ist doch: wir können individuelle Künstler sein und trotzdem ab und zu als Beatles zusammenkommen. Warum hätte das nicht klappen sollen? 1968 arbeitete George ja bereits an ‚Wonderwall Music‘, ein Jahr später John an der ‚Plastic Ono Band‘-Platte. Es gab keinen Grund, weshalb sie die Arbeitsweise als Beatles und Solokünstler nicht hätten fortsetzen sollen.“

Aber in der Endphase hat es doch schon spürbar gekriselt.

„Klar gab es zu dieser Zeit Spannungen. George war frustriert, weil er nur zwei Songs pro Album unterbringen konnte. Ringo war frustriert, weil er im Schatten stand. Paul war frustriert, weil er härter arbeiten wollte als die anderen. Und John war frustriert, weil er nicht mehr politische Aussagen in den Songs unterbringen durfte. Man muß sich aber vorstellen, daß in dieser Zeit der Konflikte ‚Abbey Road‘ entstand, ein verdammt gutes Album.“

Im Herbst kommt das Special ‚Anthology‘ weltweit ins Fernsehen und eine CD-Box mit unveröffentlichten Aufnahmen in die Läden. An beiden Projekte waren die Rest-Beatles maßgeblich beteiligt. Woher kommt nach all den Jahren das Interesse an ihrer Vergangenheit?

Fünfundzwanzig Jahre lang mußten sich die Beatles von der Öffentlichkeit und von uns Journalisten erzählen lassen, wie sie wirklich waren, und jetzt werden sie es uns selber sagen. Nach dem Motto: Wenn ihr was über uns wissen wollt, schaut euch die Sendung an und hört endlich auf, uns mit euren Fragen zu nerven. Ich glaube, sie haben erkannt, daß sie keine Kinder mehr sind und — wie Johns tragisches Beispiel zeigt — sie werden sich bewußt, nicht das ewige Leben gepachtet zu haben. Das TV-Special ist eine willkommene Gelegenheit für sie, ihre eigene Geschichte zurückzuerobern.“

Sind schon irgendwelche Einzelheiten über das Reunion-Projekt bekannt?

„‚Anthology‘ ist die Aufarbeitung der Beatles-Geschichte aus der Sicht der Band. Das Special soll zwischen drei und 12 Stunden lang sein, da habe ich schon die unterschiedlichsten Angaben gehört. Es wird von den Beatles selber produziert und besteht hauptsächlich aus neuen Interviews mit Paul, George, Ringo und George Martin sowie alten Interviews mit John. Neben bekannten Songs wird’s auch den neuen Song ‚Free As A Bird‘ geben, den Paul, George und Ringo im Februar 1994 aus einem Lennon-Demo zu einem kompletten Song verarbeiteten“.

Was ist auf der CD-Box zu hören?

„Die Box wird eine Kombination aus bereits veröffentlichtem Material, Live-Aufnahmen und Alternativaufnahmen von bekannten Songs. George Martin verriet mir, daß der akustische erste Take von ‚While My Guitar Gently Weeps‘ drauf sein wird, ebenso wie die Urfassungvon ‚Strawberry Fields Forever‘ und ‚Leave My Kitten Alone‘, ein rockiger Song von 1964.“