The Clash – London Calling


Hamburg, 19. Mai 1980: The Clash geben ein Konzert in der Markthalle, das als „Hamburg riot show“ in die Popgeschichte eingehen wird. Ab dem dritten Song beginnt eine Gruppe von etwa 80 gewaltbereiten Anarchopunks das Konzert zu stören. Versuche, die Bühne zu stürmen, werden anfangs von der Band und den beiden (!) Roadies verhindert. Während des Konzerts gelingt es den Störern immer wieder, auf die Bühne zu kommen. Manche von ihnen schreien Parolen in die Mikrofone: „The Clash spielen nicht für die Revolution, sie spielen für CBS!“ Gitarrist Mick Jones bietet irgendwann an, dass die Zuschauer ihr Geld zurückbekommen könnten. Die Band bringt das Konzert mehr schlecht als recht über die Bühne. Danach wird Sänger und Gitarrist Joe Strummer festgenommen. Er hatte während der Show einen Zuschauer mit seiner Gitarre verletzt. Strummer muss die Nacht in einer Polizeizelle verbringen. Was war passiert? In gewisser Weise ernteten The Clash an diesem Maiabend das, was sie drei Jahre vorher mit den Inhalten von Songs wie „White Riot“ und „Career Opportunities“ gesät hatten. Allerdings war die Botschaft in Hamburg offensichtlich erst angekommen, nachdem The Clash schon eine Entwicklungsstufe weiter waren. Der Vorwurf, dass die Band nicht bei einem Indielabel unter Vertrag war, sondern bei den „CBS-Schweinen“, war schon ein paar Jahre alt, wurde aber mit dem Scheuklappendenken der punkeigenen Dickschädeligkeit immer wieder gerne erneuert. Jetzt aber kam noch der Vorwurf des musikalischen Ausverkaufs dazu. Fast auf den Tag genau fünf Monate vorher, am 14. Dezember 1979, war LONDON CALLING erschienen, das dritte Album von The Clash, eine ambitionierte, elaborierte Doppel-LP, die für viele in der Retrospektive als das beste Album der Rockgeschichte gilt – aber eben ein Rock- und kein Punkalbum war. Der Titelsong „London Calling“ eröffnet eine 19 Songs starke Tracklist, deren Ablauf von einer seltsamen Logik ist. Trotz der unterschiedlichen Stilistiken, bei denen The Clash sich auf diesem Album direkt oder indirekt bedienen (Punk-Ästhetik, Reggae, Dub, Ska, Rockabilly, archaischer Rhythm’n’Blues, Rock’n’Roll, Jazz, Rock) wächst LONDON CALLING zu einer musikalischen Einheit, die viel größer ist als die Summe ihrer Einzelteile. Nach dem Song „London Calling“ – mehr Hardrock als Punk und in seiner mitreißenden Urgewalt eine der Rockhymnen für die Ewigkeit – kann nur „Brand New Cadillac“ kommen, danach nur „Jimmy Jazz“. Mögen Songs wie „Lost In The Supermarket“ und „The Card Cheat“ aus dem Album herausgelöst eher schwächer wirken, im Kontext von LONDON CALLING funktionieren sie, weil sie getragen werden von denen, die vor und nach ihnen stehen. Und ist es nicht das, was ein Album zu einem Großartigen macht? The Clash hatten für LONDON CALLING die engen Grenzen des Punkgenres, die sie auf ihrem Debütalbum und dem zweiten Album GIVE EM ENOUGH ROPE schon ein paar Mal überschritten hatten, ignoriert und in vollkommener musikalischer Freiheit ein Meisterwerk geschaffen. Die Kritiker unter den Fans, die The Clash den Ausverkauf vorwarfen, hatten allerdings ein paar entscheidende Dinge übersehen wollen. Sie ähnelten in ihrem Wertkonservatismus den Leuten, als deren Antithese sie sich einst begriffen hatten. Es gab keine Punkverfassung, in der festgeschrieben gewesen wäre, wie eine Punkband zu klingen hat. Es gab keine Punkpolizei, die die Einhaltung der ungeschriebenen Punkgesetze überwacht hätte. Die Kritiker überhörten, dass dieses Album in seiner Urgewalt und britzelnden Energie mehr Punk war als Vieles, was The Clash vorher gemacht hatten. Und sie überhörten, dass die politischen Inhalte, die Joe Strummer, Mick Jones, Paul Simonon und Topper Headon mit ihrer Musik transportierten, immer noch dieselben waren, ihre Haltung immer noch Anti-Establishment, dem sie in den Augen ihrer militanten Fans längst angehörten. Das Artwork von LONDON CALLING erlangte im Lauf der Jahre Ikonenstatus und wurde oft zitiert. Es ist selber ein Zitat. Die Typografie ist angelehnt an die der Hülle des ersten Elvis-Presley-Albums. Das Coverfoto von Pennie Smith zeigt Paul Simonon bei einem Konzert in New York, kurz bevor er seinen Bass auf dem Bühnenboden zertrümmert, und fängt damit einen archetypischen Rock’n’Roll-Augenblick ein.

ME 1/1980:

„Den Fans der ersten Clash-Stunde wird möglicherweise nicht gefallen, was ich jetzt (als stinknormaler Musikhörer ohne Schwerpunkte in Punk, New Wave und Reggae) zu bemerken wage: Clash sind als Einzelpersönlichkeiten und als Band gereift (…)“