The Prodigy: München, Flugplatz Neubiberg


ES IST SCHON 23.15 UHR, als zwei Roadies endlich den Regenschutz vor der Computerburg in der Mitte der Bühne wegtragen und ein Einpeitscher „Who wants it? Whow gets it?“ brüllt. Die Menge auf dem Flughafen Neubiberg am Münchner Stadtrand brüllt mit letzter Kraft zurück – man ist froh, daß man es bis zu diesem Moment geschafft hat; daß man das stundenlange Warten im strömenden Regen während des Festivals am Nachmittag überstanden hat, danach die bittere Kälte am Abend und das immer tiefere Einsinken in Schlamm und Matsch vor der Bühne. Nun also die Band, von der man sagt, sie weise den Weg in die Zukunft des Rock. 15.000 Fans stehen, längst erschöpft, frierend und durchnäßt bis auf die Haut, mitten in der eiskalten Nacht und warten auf die endgültige Erlösung durch die Shooting Stars von Prodigy.

Es wird dunkel auf der Bühne. Darüber strahlt ein riesiges, grün und blau leuchtendes Mega-Light. Rechts von den Computern stehen einige Marshall-Türme: Man ist bereit, die Barrieren zwischen Rockern und Ravern auch heute abend wieder einzureißen. Dann eine Feuerwehrsirene wie von einem Kinderspielzeug – und los geht’s. Nach einigen Minuten stetig steigender Intro-Geschwindigkeit lassen wuchtige Bässe und präzise modulierte HipHop-Beats die kalte Nachtluft vibrieren. Keith Flint, Prodigy-Frontmann und theatralisches Supertalent, hat sich für heute nacht ein Outfit mit Anklängen an Spiderman und Mickey Mouse ausgedacht. Hektisch springt er umher, ein Techno-Luzifer. der das Rock-Handwerk perfekt beherrscht: „Are there any voodoo people in the house?“ kreischt er. „Voodoo, voodoo!“ schallt es zurück. Flint springt an die Rampe, schüttelt Hände und schnaubt wie ein junger Stier mit Teufelshörnern kleine Atemwolken in die kalte Nachtluft. Daß hinter und neben ihm noch Leeroy Thornhill und Keeti Palmer tanzen, wird fast zur Nebensache. Nur Liam Howlett, Chef-Komponist und König in der Computerburg, wird zum zweiten Mittelpunkt der Show. Ekstatisch zuckt er zwischen seinen Tasten und Knöpfen, steuert Sound und Beat und bleibt trotz seiner teilweise verdeckten Position immer als der eigentliche Kopf der Elektronik-Maschine erkennbar. Der Prodigy-Motor läuft nun auf vollen Touren: Es hämmert, heult und donnert. Die Show besteht einerseits aus einer ausgefeilten, strengen Dramaturgie, bei der auf- und abschwellende Sounds die wiedererkennbaren Songs feierlich einleiten oder ausklingen lassen. Andererseits ist die expressive Performance nichts weiter als spontane und improvisierte Rock-Anmache. Doch je länger das Quartett aus Essex seine hektischen Breakbeats mit fräsenden, heulenden Geräuschen abfeuert, desto deutlicher wird, daß dies ganz bestimmt nicht der beste Prodigy- Auftritt werden wird. Das Publikum bleibt müde, die Band wird ungeduldig. „München, wo seid ihr überhaupt“, faucht Flint. Dann plötzlich ein lauter Knall auf der Bühne: Die offenbar naß gewordene Elektronik beginnt durchzudrehen. Techniker versuchen den Schaden zu beheben. Derweil verschwindet die Band mit einem „Fuck you all“ hinter den Kulissen nach gerade mal 45 Minuten. Die Fans murren irritiert, lassen schließlich zögernd „Zugabe“-Rufe hören. Nach schier endlosem Warten kommen Prodigy auf die Bühne zurück. Zwar hebt das Klanggewitter noch einmal an, doch wieder bricht die Technik zusammen. Und jetzt verschwinden Flint & Co. endgültig. Das Publikum stutzt, reagiert dann mit wütenden Buh-Rufen und Pfiffen. Wurfgeschosse fliegen Richtung Bühne. Was zu diesem Zeitpunkt noch keiner weiß: Die Show wäre auch mit funktionierender Technik kaum weitergegangen, denn wegen der längst überschrittenen Sperrstunde steht bereits die Polizei bereit, um der Zukunft des Rock den Strom abzudrehen. Was bleibt, ist ein Desaster aus Matsch und kaputten Computern.