The Verve „Wir sind die Größten!“


The Verve feiern sich selbst als die Zukunft des Rock'n'Roll - und festigen diesen Anspruch gleich mit zwei Hits und dem Album "Urban Hymns". Beim Gespräch in London befragte ME /Sounds Bandboss Richard Ashcroft nach dem Selbstverständnis der "besten Band der Welt".

WIE EIN DEFEKTER SATELLIT TRIEB Richard Ashcroft in den letzten drei Jahren durch Raum und Zeit. Taumelnd und blinkend folgte er nur seinen eigenen Koordinaten – und ist noch immer ein bißchen erstaunt darüber, endlich angekommen zu sein: in den Schlagzeilen, auf MTV und schließlich in diesem Office seiner Plattenfirma in London. Um über Musik zu sprechen. Über Kunst. Über The Verve. Er trägt eine speckige schwarze Lederjacke, darunter ein graues T-Shirt. An einer silbernen Kette baumelt St. Christophorus, der Schutzpatron aller Seeleute und Säufer.Jch bin Richard,“ sagt er. Sein Händedruck ist weich, seufzend läßt er sich auf ein Sofa fallen und streckt die Beine von sich. Der Tisch vor ihm biegt sich beinahe unter der Last von Früchten, Joghurts, Salaten und Flaschen mit französischem Mineralwasser ohne Kohlensäure. In einer Vase ertrinkt ein Strauß bunter Orchideen, der Aschenbecher quillt über. The Drugs Don’t Work? Diese Frage entlockt dem Mann, der zum Lachen in den Keller geht, nur ein schmales Grinsen:“Du mußt dich einfach entscheiden, was dir im Leben wichtig ist.’The Drugs Don’t Work‘ handelt weniger von Drogen als von Liebe. Leidenschaft, wenn du so willst. Natürlich funktionieren Drogen. Aber ich habe zu lange auf den momentanen Erfolg gewartet, als daß mir diese herrliche Realität nun wieder entgleiten könnte.“

Ashcroft hat die Fingernägel eines Mannes, der sein Leben lang daran gekaut hat. Wie man am Leben knabbert. Bis hinunter zum Nagelbett. Rückblende: Vor fünf Jahren,als mit „A Storm In Heaven“ ihr Debüt Album in den Regalen stand, da verwandelten The Verve die anschließende Tournee in eine kleine private Vorstellung dessen, was später als Britpop um die Wert gehen sollte. Die Kumpels von Oasis bestritten das Vorprogramm. Mit Blick auf den Headliner schluchzte ein Kritiker der renommierten englischen Wochenzeitung New Musical Express: „Jetzt schon unsterblich!“ Aus dem brachliegenden Steinbruch heimischer Musiktraditionen förderten The Verve ihre Melodien zutage, der treibend-psychedelische Rock dagegen kam aus dem Bauch. Und da war dieser Frontmann, der bei Interviews paralysiert das Muster der Tapete studierte und über den kommenden Ruhm seiner Band referierte. Ashcroft wirkte wie ein Wiedergänger des verschollenen Syd Barrett, mit rot leuchtenden Augen. Als „Mad Richard“ war er damals berüchtigt, als melancholischer Peter Pan zwischen Größenwahn und Drogentod. Es folgte mit „No Come Down“ (1994) eine obskure Sammlung früher Singles und B-Seiten, ein Jahr darauf das gefeierte Album „A Northern Soul“. Doch als man der Band zu diesem Wurf gratulieren wollte, da gab es sie schon nicht mehr.

Gestritten hatten sie sich, Ashcroft und sein Gitarrist Nick McCabe, über irgendeine Kleinigkeit – ihr umjubelter Auftritt beim „T In The Park“-Festival am 6. August 1995 war gleichzeft das Abschiedskonzert. Und während Oasis mit „What’s The Story…“ den Planeten eroberten, hatten The Verve im Juli 1995 ihre Chance verpaßt. Und blickten einem abgefahrenen Zug hinterher, auf dem in riesigen Lettern BRITPOP! STARDOM! zu lesen stand. Nach dem Split saß Ashcroft allein zu Hause auf dem Bett, mit zugezogenen Vorhängen, die akustische Gitarre auf den Knien. Und komponierte. Eines Tages spielte er einem guten Freund ein paar der Songs vor. Einem dieser wenigen Freunde, auf deren Urteil man wirklich zählen kann. Der fand die Stücke großartig. Unglaublich. Gewaltig. Doch Richard hakte nach, insistierte: „Ich will nicht hören, daß du das Zeug großartig findest. Das weiß ich selbst. Ich will wissen ob es das beste ist, was du in deinem Leben jemals gehört hast!“ Und als der Freund bedauernd verneinte, vernichtete Ashcroft das komplette Material – und machte sich erneut an die Arbeit. Überzeugt davon, daß er eines nicht allzu fernen Tages Musik machen würde, „die die Welt noch nicht gehört hat“.

Nachdem ihn einige Auftritte als Solist und Anheizer für Oasis gelehrt hatten, daß er als Alleinunterhalter sein Glück kaum finden würde, raufte sich Richard wieder mit den übrigen Bandmitgliedern zusammen. Mit Simon Jones, seinem ruhigen Alter ego, der diesen unendlich weichen Bass spielt. Mit dessen Schulfreund Simon Tong, der Hammond, Keyboards und Gitarre beisteuert. Und mit Drummer Pete Salisbury, dem Ashcroft zwar mal beim Fußball per Blutgrätsche den Knöchel gebrochen hat, der den Stücken von The Verve aber dennoch ihren pumpenden Pulsschlag verleiht. Was fehlte, war die forschende, stratosphärische Gitarre von Nick McCabe. Also sprang Ashcroft über seinen eigenen Schatten und holte den ungeliebten Quertreiber wieder ins Boot: „Ein großer Teil von The Verve kann nur entstehen, wenn Nick dabei ist“, sagt er ohne Bedauern und zieht eine weitere Silk Cut aus der Schachtel. Bassist Simon Jones gibt ihm Feuer: „Schließlich geht es um die beste Band der Welt. Und dafür brauchten wir nun mal diesen Gitarristen. Es ist bitter, aber ohne Nick sind The Verve nicht komplett.“

Ob sie sich ihrer Verantwortung bewußt sind? Darüber, daß sie jetzt Stil machen können und Moden und Lebenseinstellungen? Daß“Urban Hymns“ der Soundtrack der ausgehenden 90er werden könnte? Jones, der nun im Schneidersitz zu Ashcrofts Füßen kauert, schüttelt abwehrend den Kopf: „Darauf haben wir doch gar keinen Einfluß. Was wir jetzt machen, das geht doch erst noch raus in die Welt und arbeitet dort. Dort hinterlassen unsere Song ihre Spuren. Dort begegnen wir uns wieder.“ Ashcroft nickt: „Als ich ‚Bitter Sweet Symphony’zum erstenmal im Autoradio gehört hab‘, da lief der Song gleich nach dem verschissenen „You Give Love A Bad Name“ von Bon Jovi. Und plötzlich geht es ‚damdamda, damdamda‘- das hatte Würde. Am liebsten hätte ich die Scheibe runtergekurbelt und den Leuten auf der Straße zugerufen ‚Hey, das sind The Verve! The Verve haben dieses göttliche Ding komponiert!“‚Wird es denn auf Dauer nicht langweilig, ständig den Spruch von der“fuckin besten Band der Welt“ wiederzukäuen? Ashcroft schüttelt den Kopf und hebt zu einer Erklärung an.

„Nein, ich meine das genau so, wie ich es sage. Wir sind groß, und wir werden demnächst noch größer sein. Und weißt du warum? Weil ich keine Lust habe, mich jetzt hier halbherzig hinzusetzen und zu erzählen ‚Das Album ist ja ganz nett, und vielleicht schaffen wir’s, wenn wir uns ganz doll anstrengen‘. So was ist Bullshit! Wir sind die Größten, wir wissen es und sagen es auch. Das ist wie bei Muhammad Ali. Er tönte stets, daß er der Größte sei – und hat sich damit selbst unter Druck gesetzt. Schließlich mußte er es ja auch beweisen. Das Ganze ist eine Methode, sich seine eigenen Standards zu setzen. Das ist ein bißchen wie auf dem Sportplatz früher, weißt du. Wo man sich gegenseitig anfeuert und aufstachelt.“ Er ballt die Faust und ruft: „Komm schon, wir schaffen das, wir sind verdammt nochmal die Größten!“ So läßt sich auch die Angst unter Kontrolle halten. Die Angst davor zu versagen. So meint man denn auch zu spüren, daß die Band ziemlich genau weiß, daß sie im Grunde schon alle ihre Leben aufgebraucht hat.

Es gab da diesen Augenblick, als wir das Album im Kasten hatten und uns fragten, ‚Was, wenn wir uns irren? Könnte ja sein? Was, wenn das niemand hören will?'“ erinnert Ashcroft sich. „Ich sag’dir, dieses Gefühl ist entsetzlich. Das ist schlimmer, als von Kokain runterzukommen.“ Für beinharte Fans von The Verve ist es inzwischen schlimm, einen ganzen Tag lang ohne die „Urban Hymns“ auszukommen. Immerhin ist das Album mit Zitaten aus der Rock- und Popgeschichte nur so gespickt – von Led Zeppelin über die Stooges und die Small Faces bis zurück zu Aphrodite’s Child. Darauf angesprochen, zuckt Ashcroft lediglich mit den Schultern: „Weißt du, es ist so unglaublich faul, sich unser Album mit dieser Einstellung anzuhören. So wahnsinnig bequem, mit deinem Wissen über die Rockgeschichte an- j zugeben. Leute, die eine solche Einstellung zur Musik haben, sind verkrüppelt, seelisch verkrüppelt. Weil sie nicht in der Lage sind, sich für neue Dinge zu öffnen. Wenn Leute wie Puff Daddy mit Samples arbeiten, wieso dürfen wir es dann nicht?“ fragt Ashcroft und gibt auch gleich die Antwort:“Klar haben wir Aphrodite’s Child auf unserer Platte. Und die Beatles, die Kinks.die Beach Boys. Du kannst aber nicht leugnen, daß wir unser eigenes Ding daraus gemacht haben. Kunst lebt davon, sich im Supermarkt der Geschichte zu bedienen – und neue Dinge zusammenzusetzen. Was ist denn bitte schön an den Beatles oder Miles Davis ursprünglich? Ich bin heute 26, andere waren es im Jahr 1967. Mit diesem zeitlichen Abstand bin ich in der Lage, aus Fehlern der 60er zu lernen, aus Fehlern der Hippies, aus Fehlern der Punks.“

Klar, daß Richard Ashcroft auch Vorbilder hat. Bill Withers zum Beispiel, dessen Evergreen „Ain’t No Sunshine“ der junge Wilde gern geschrieben hätte. Oder auch Led Zeppelin, deren „Kashmir“ auf Ashcrofts Bestenliste steht. Und dann hat ihn noch der groovende Soul von Curtis Mayfield schwer beeindruckt: „Unsere Musik soll wirken, als schaue man sich im Kino ‚Der Pate‘ und ‚Apocalypse Now‘ gleichzeitig an. Auch in der Musik gibt eine Grenze, die nur von Besessenen überschritten wird.“ Ashcroft, da kann es keinen Zweifel geben, zählt dazu. Was aber hält er von Kollegen wie Radiohead oder

Ocean Colour Scene, die sich mittlerweile an verschachtelten, epischen Suiten versuchen? „Ich glaube nicht, daß der Progrock wiederkommt.Thom Yorke von Radiohead ist ein intelligenter Typ. Der weiß, was er macht. Wir sind auch eine progressive Band, aber nicht im Sinne von Emerson, Lake & Palmer oder wie die heißen.“ Was aber ist in Ashcrofts Augen „progressiv“? „Dub, Country oder Dance in den guten alten Rock zu importieren beispielsweise.“ Beim Gestikulieren fällt dem manischen Musiker die Asche von der Zigarrette – direkt auf den frisch gesaugten Teppichboden. Noch während Richard weiterredet, befeuchtet er den Zeigefinger, nimmt die Asche auf und streift sie auf einen Papierteller: „Nimm’zum Beispiel Crispian Mills von Kula Shaker. Das ist ein kleiner Junge, der unglücklicherweise ins Rampenlicht geschubst wurde, bevor er überhaupt merkte, was da passiert. Dabei hat er gar nicht die Eier, um damit zurechtzukommen. Manche Leute sind nicht mal intelligent genug, den Unterschied zwischen ‚Urban Hymns‘ und einem beschissenen Kula Shaker-Album zu hören.“ Doch damit nicht genug der Kollegenschelte: „Und was machen Kula Shaker jetzt? Sie nehmen ‚Hush‘ von Deep Purple noch einmal auf. Ich lach‘ mich tot. Sich auf diese Weise vor irgendwelchen Legenden zu verbeugen, hat keinen Charakter. Sollte ich davor Achtung haben?“ Auf gegenseitiger Achtung und Bewunderung beruht dagegen die Freundschaft zwischen Ashcroft und Noel Gallagher. Einen bestimmten Rat von Herrn Gallagher ausgesprochen vor dem kometenhaften Aufstieg von The Verve – hat Richard strengstens befolgt: „Diesmal ziehst du die Sache durch, und zwar professionell“.

Und was kommt jetzt? Vielleicht der Großangriff auf den amerikanischen Musikmarkt? Stretch-Limousinen mit abgedunkelten Scheiben und ausverkaufte Baseball-Stadien? Mit Bush hat ja bereits eine britische Band vorgemacht, wie man Seattle mit seinen eigenen Waffen schlägt: „Bush sind pure Scheiße, Mann“, erregt sich Ashcroft, „viel zu schlecht, um damit meine Zeit zu verschwenden. Aber es braucht diesen Mist, um das Gute zu erkennen. Früher hatte ich wegen so was Nervenzusammenbrüche, heute geht’s mir am Arsch vorbei. Diese Leute machen ihre Arbeit aus den falschen Gründen. Eines Tages werden sie es lernen, aber dafür brauchen sie mich nicht. Wir jedenfalls gehen nach Amerika gehen, um ein paar sehr ernste Gigs spielen, und denen dort drüben zeigen, wie eine englische Band wirklich klingen kann. Wir werden Bush von diesem verdammten Kontinent blasen.“ Das US-Business ist Ashcroft nicht fremd. New York, erzählt er, habe auf ihn gewirkt wie Acid: „Ich bin raus auf die Bühne des Madison Square Garden und war high. Wenn du wirklich gut drauf bist, ist es egal, wie lange du spielst. Bei Bruce Springsteen heißt es immer, der spielt dreieinhalb Stunden und gibt alles. Ich kann aber auch rausgehen und in 45 Minuten alles geben. Das ist eben schnellerer Sex, bestimmt aber kein schlechterer. Ich brauche diesen Kick, jedesmal wieder auf der Bühne zu stehen und den Leuten meinen Scheiß vorzusingen, wenn hinter mir die Musik arbeitet wie eine gewaltige Maschine – wie eine Maschine, die dazu geschaffen wurde, Liebe zu produzieren. Denn letztlich ist es die Liebe, um die sich alle unsere Songs drehen.“

Richard Ashcroft mag es, ein Popstar zu sein: „Ich bin süchtig danach, in der Öffentlichkeit erkannt zu werden und den Fans dann kein Autogramm zu geben, aus einer blöden Arroganz heraus. In diesen Momenten findet mein rastloser Geist Ruhe. Das sind die Augenblicke in meinem Leben, in denen ich im Paradies bin.“ Er lehnt sich zurück in die tiefen, bordeauxroten Polster, legt die Beine übereinander und lächelt, als habe er eigentlich zuviel von sich preisgegeben. Trotzdem: „Wenn ich dieses Ventil namens Musik nicht hätte, mit dem sich meine Wut kanalisieren läßt, dann wäre ich wahrscheinlich Amokschütze oder so was. Weil ich nicht mehr wüßte, wohin mit all dem Irrsinn. Mit dem ganzen Irrsinn, der in meinem Kopf steckt.“

Demnächst werden The Verve wieder live unterwegs sein. Die kommende Tournee, so Bassist Simon Jones, wurde so zusammengestellt, „daß wir uns dabei nicht umbringen“. Die Konzertreise führt The Verve auch nach Deutschland, für das Ashcroft allerdings wenig warme Worte findet: „Ihr hattet den Krautrock, und das war’s auch schon. Heute gibt’s höchstens Fury In The Slaughterhouse. Da solltet ihr doch wirklich dankbar sein für eine Band wie The Verve. Und wenn ihr denkt, wir wären bloß eine weitere Gitarrenband aus England“- Ashcroft atmet aus und spricht heiser in eine dichte Wolke aus blauem Rauch – ,“then fuck you!“