Kritik

„Tote Mädchen lügen nicht“, Staffel 4: Ein buntes Potpourri verzweifelter Palliativ-Maßnahmen


„Tote Mädchen lügen nicht“ setzt in seiner finalen Staffel inhaltlich auf Quantität statt Qualität, und lässt die Zuschauer*innen vor allem mit einer Schlussfolgerung zurück: Das Leben ist manchmal einfach nicht fair. (Achtung: Spoiler!)

Dass auch die vierte und damit letzte Staffel des Netflix-Teenie-Dramas „Tote Mädchen lügen nicht“ wohl kaum ohne den ein oder anderen Todesfall auskommen wird, steht bereits mit seiner Eröffnungsszene fest. Deren Schauplatz ist eine Trauerfeier; für wen diese jedoch abgehalten wird, bleibt vorerst ein Geheimnis, schließlich könnte jeder der ebenso gequälten wie durchtriebenen Schüler*innen der „Liberty High“-Abschlussklasse jederzeit durch einen unerwarteten Schicksalsschlag ums Leben kommen.

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Einsichtiger Meta-Kommentar oder faule Drückebergerei?

Von dieser mysteriösen Vorausschau abgesehen, stellt sich zu Anfang der finalen Staffel jedoch vor allem eine große Frage: Wird die Wahrheit über den Tod des Serienvergewaltigers Bryce (Justin Prentice) jemals ans Licht kommen? Dessen „Mörder“ Alex (Miles Heizer) wurde zuletzt von seinen Freunden kompromisslos gedeckt und es landete Highschool-Tyrann Monty (Timothy Granaderos) im Gefängnis, der dort von einem Mitinsassen erstochen wurde, der ihn für einen übergriffigen Pädophilen hielt.

Kam in der 3. Staffel leider nicht so gut beim Publikum an: Neuzugang Ani.

Eines muss man den Serienmachern bereits ganz zu Anfang zugute halten: Man hat sich die Kritik an der vergangenen Staffel zu Herzen genommen, Neuankömmling Ani (Grace Saif) von ihrer Erzählerrolle befreit und sie für einige Episoden sogar ganz aus der Handlung entfernt. Eine Erleichterung für all jene Zuschauer*innen, die zuvor ihren Unmut über den plötzlichen Fokus auf eine uns bis dato unbekannte Person lautstark Ausdruck verliehen hatten. An Sympathie und Tiefe gewinnt Ani aber gerade wegen besagter Entscheidung auch diesmal nicht. Alles, was wir am Ende wirklich über Clays (Ex-)Freundin lernen, ist, dass sie eigentlich selbst nicht so genau weiß, wer sie wirklich ist. Die Entscheidung darüber, ob es sich hierbei um einen einsichtigen Meta-Kommentar von Bryan Yorkey und Co. oder vielleicht doch nur um faule Drückebergerei handelt, bleibt den Betrachter*innen selbst überlassen.

Die volle Ladung Testosteron

Sorgten in der Vergangenheit zentrale (teils tote) Figuren für einen stringenten roten Faden, springt die Handlung der vierten Staffel anscheinend wahllos zwischen den einzelnen Protagonist*innen hin und her und macht so das ohnehin schon erratisch wirkende Gebaren der Freund*innen schwer nachvollziehbar.

Flüchtet sich während seines letzten Highschool-Jahres in Sex, Drugs und Rock’n’Roll: Musterschüler Zach.

Vor allem Zach (Ross Butler), der durch Bryce seiner potenziellen Karriere als Football-Profi Lebewohl sagen musste, und Jessica (Alisha Boe), die sich seit ihrer Vergewaltigung auf beeindruckende Weise emanzipieren konnte, leiden unter der ungleichen Zuwendung der Serienmacher. Statt sie mit einer realistischen Entwicklungskurve auszustatten, flüchtet sich der sonst so sensible und vernünftige Zach in einen eskapistischen Nihilismus, während Jessicas Entwicklung ironischerweise fast ausschließlich von den männlichen Figuren in ihrem Leben vorangetrieben wird. Auch ihre komplizierten Freundschaften zu Ani und Neuzuwachs Estela (Inde Navarrette) können leider nicht darüber hinwegtäuschen, dass die vierte Staffel den Bechdel-Test im besten Falle haarscharf bestehen würde.

Clay scheint in der vierten Staffel komplett den Verstand zu verlieren.

Umso mehr Aufmerksamkeit wird dafür Clay (Dylan Minnette) geschenkt, dessen zunächst nur bevormundend und lästig anmutendes Helfersyndrom sich inzwischen in eine paranoide Persönlichkeitsstörung mit dissoziativen Tendenzen verwandelt zu haben scheint. Immerhin holt sich der impulsive Teenager diesmal relativ schnell Hilfe in Form eines ausgebildeten Therapeuten – ein enormer Fortschritt, wenn man bedenkt, dass es stets Geheimnisse waren, die alle bisher in Schwierigkeiten brachten. Ein weiterer Bonus: Die Zuschauer*innen erfahren schließlich sogar, dass es sich bei den inflationären Sichtungen verstorbener Menschen, die nicht nur Clay immer wieder aus der Fassung bringen, nicht um Halluzinationen handelt. Stattdessen dienen die irritierenden Erscheinungen den Protagonisten in der Tradition des „Magischen Realismus“ als bewusste Bewältigungsstrategien im Angesicht ihrer kollektiven Schuld. Wie tiefgründig.

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Quantität statt Qualität

Auch inhaltlich scheint man nun mehr auf Quantität als auf Qualität gesetzt zu haben. Ob sexuelle Fluidität, prophylaktische Überwachungsmaßnahmen oder die US-amerikanische Waffenkultur: Es werden eine Fülle an politisch und sozial relevanter Themen geboten, die in ihrer Ausarbeitung leider schwer zu wünschen übrig lassen. Dabei stechen zwei Plot-Punkte besonders hervor, einer davon in Form eines von der Schülerschaft initiierten Aufstandes. Als hätte man aktuelle Ereignisse vorhergesehen, wird dieser durch den offensichtlich rassistisch motivierten Übergriff eines Polizeibeamten auf einen dominikanischen Schüler motiviert, der den ohnehin schon überstrapazierten Geduldsfaden seiner Mitschüler*innen endgültig reißen lässt. Diese antworten mit einer Revolte, die ebenso schnell eskaliert wie sie schließlich wieder unter den Teppich gekehrt wird. Die Message: Systemische Veränderungen etablierter Strukturen sind ja doch gar nicht so schwer zu erwirken.

Als ihre Schule zum Polizeistaat zu werden droht, gehen die Schüler*innen der „Liberty High“ auf die Barrikaden.

Ein weiterer Punkt, über den sich schon jetzt viele Zuschauer*innen beschweren, ist Justins leider zu spät diagnostizierte Aids-Erkrankung. Ihre Befürchtung: Die „Worst Case“-Darstellung der Krankheit könnte sich negativ auf die angestrebte Entstigmatisierung HIV-infizierter Menschen auswirken, die nach dem aktuellen medizinischen Stand durchaus ein erfülltes und langes Leben führen können. Gleichzeitig handelt es sich bei dieser komplett Justin (Brandon Flynn) gewidmeten Folge jedoch auch um einen emotionalen Höhepunkt der Staffel, der die Protagonist*innen wieder miteinander vereint und ihnen vor Augen führt, was im Leben wirklich zählt.

Was Yungblud von „Tote Mädchen lügen nicht“ hält

Life’s not fair

Yorkey entlässt Clay und seine Freunde schließlich in die große weite Welt. Die meisten von ihnen erhalten ein Bilderbuch-Happy-End, allein getrübt durch den vorzeitigen Tod ebenjener Figur, die die größte Wandlung durchleben durfte und schließlich doch nicht die Chance auf ein erfülltes Leben erhält. Wenn „Tote Mädchen lügen nicht“ uns also mit auch nur einer realistischen Botschaft aus der Serie entlässt, dann mit der, dass das Leben manchmal einfach nicht fair ist.

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Die vierte und letzte Staffel „Tote Mädchen lügen nicht“ steht seit dem 5. Juni 2019 auf Netflix im Stream zur Verfügung.

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