Kritik

„White Lines“ auf Netflix: Ibiza, Insel der Affären


Exzess auf ganzer Linie: Die Serie von „Haus des Geldes“-Showrunner Álex Pina hätte ein geradliniger Whodunit-Krimi sein können. Stattdessen will „White Lines“ alles mitnehmen, vom Familiendrama, über einen Selbstfindungs-Narrativ bis hin zu – der Titel suggeriert es schon – Drogengeschäften. Das unstrukturierte Drehbuch und die größtenteils schwache Darstellerriege halten diesen Mix leider nicht zusammen.

Alles beginnt im andalusischen Almería: Ein andauernder Regenschauer beendet dort nicht nur eine zwanzigjährige Periode der Trockenheit, sondern spült auch eine Leiche an das grelle Wüstenlicht. Es handelt sich um Axel Collins, einen britischen DJ, der vor mehr als zwanzig Jahren spurlos aus Ibiza verschwand. Prompt reist seine jüngere Schwester Zoe Walker (Laura Haddock) aus ihrer Heimatstadt Manchester an und begibt sich auf die Suche nach der tödlichen Wahrheit.

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Schnell steht fest: Axel wurde umgebracht. Doch für Zoe geht es hier nicht um eine tatsächliche Ermittlung, denn nach zwanzig Jahren gilt die Tat laut spanischem Strafrecht sowieso als verjährt. Sie will vor allem ihren Frieden machen. Der Verlust ihres Bruders plagt sie, sie wirkt durch die erneute Konfrontation damit emotional sehr mitgenommen. Schon seit fünfzehn Jahren nimmt sie Psychotherapie in Anspruch, während ihrer belastenden Suche auf Ibiza konsultiert sie die Therapeutin regelmäßig via Videotelefonie.

Ihr Bruder Axel (Tom Rhys Harries) war ein passionierter DJ, der in Manchester zunächst illegale Raves in leerstehenden Gebäuden oder auch bei sich zuhause veranstaltete. Im kalten Arbeiterumfeld des britischen Nordens konnte sich der talentierte Plattendreher nie so recht verwirklichen, was nicht zuletzt auch an seinem Vater Clint (Francis Magee) lag, der Polizist ist und auch mal bei der ein oder anderen Feierlichkeit seines Sohnes als ungebetener, uniformierter Gast den Saft abstellte.

Somit setzte sich Axel auf der Suche nach Erfolg, Geld, Ruhm und einer „proper good time“ nach Ibiza ab, die Freunde und fellow Mancunians Anna, Marcus und Dave mit im Schlepptau. Alle drei leben immer noch auf Ibiza und sollen bei der Wahrheitsfindung von zentraler Bedeutung sein.

War nur die Sonne Zeuge?

Schnell verdächtigt wird die einflussreiche Familie Calafat, der auf Ibiza insgesamt elf Clubs gehört – und ebenso das Landstück in Almería, auf dem Alex gefunden wurde. Der Familie passt das wiederum gar nicht ins Programm, planen die Calafats doch große Geschäfte: Die Familie um Patron Andreu (Pedro Casablanc), Ehefrau Conchita (Belen Lopez) sowie Sohn Oriol (Juan Diego Bottoas) versucht einen Casino-Deal unter Dach und Fach zu bringen, für den sie aber mit weißer Weste dastehen will und kein Interesse an polizeilichen Ermittlungen irgendeiner Art hat (weswegen sie kurzerhand auch den ansonsten geduldeten Konsum von Drogen in den eigenen Clubs eindämmt). Die Tochter der Familie Calafat, Kika (Marta Milans), die eigentlich in Miami lebt, kommt zeitgleich ebenfalls nach Ibiza. Axel war ihre erste große Liebe.

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Um Zweifel auszuräumen, dass irgendjemand der Calafats etwas mit dem Tod von Axel zu tun haben könnte, wird Boxer (Nuno Lopes), der treue Sicherheitschef der Familie, von Andreu losgeschickt, um auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Das ist auch dahingehend wichtig, da sich die Calafats im Clinch mit der verfeindeten und ebenfalls einflussreichen Martinez-Familie um Vater Pepe und Sohn Cristobal, ein DJ und ehemaliger Freund von Kika, befinden.

Das fehlende Interesse an Drogen wird zum Problem für Marcus Ward (Daniel Mays), der viele Partygänger mit Drogen versorgt und zu Beginn der Serie gerade eine Lieferung erhalten hat. Ansonsten ist Marcus ein abgehalfterter DJ, der getrennt von seiner Ex-Frau und Jugendliebe Anna (Angela Griffin) lebt, mit der er zwei Kinder hat. Anna wird bald neu heiraten, was Marcus sichtlich zusetzt.

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In all diese Komplikationen hinein kommt Zoe nach Ibiza, um herauszufinden, wer ihren Bruder getötet hat. Die Suche soll nicht nur eine Reise in die Vergangenheit ihres Bruders werden, sondern vor allem eine Reise ins Selbst: Für Zoe manifestiert sich das zunächst darin, dass sie eine leidenschaftliche Affäre mit Boxer beginnt, bei dem sie auch einstweilen einzieht. Gewissenskonflikte bezüglich des Fremdgehens mit dem Sicherheitschefs der Calafets kommen immer mal wieder auf, werden dann aber auch nach einigen Tagen und ein wenig Hin und Her wieder über Bord geworfen. Erst als Ehemann und Tochter persönlich auf der Matte stehen, scheint sich die nicht selten unschlüssig daherkommende Zoe daran erinnert, weswegen sie eigentlich ursprünglich nach Ibiza kam: Nämlich nicht zur Realitätsflucht, sondern zur Aufklärung eines Mordfalls.

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Doch die Insel führt ihr auch andere Dinge vor Augen: Sie findet viel Neues über ihren Bruder heraus und auch, dass sie Axel offenbar doch nicht so gut kannte, wie sie eigentlich glaubte. Die Geschichten, die sie über ihn aus zweiter Hand erfährt, machen Zoe klar, dass er doch nicht so der perfekte, liebe Bruder war, den sie immer glaubte zu haben – sondern eher ein Lad mit Hang zum Hedonismus, der sich selbst stets am Nächsten war.

Sie erfährt, dass Axel letztmals auf der Party zu seinem 24. Geburtstag gesehen wurde – eine Feier, die als 24-Stunden-Dauerrave angelegt wurde und in der Serie rauschhaft inszeniert wurde: Hier gipfelt die Darstellung des Sündenpfuhls Ibiza mit Drogen, Sex und Exzess. Und um diesen Abend hangeln sich Zoes Nachforschungen.

Livin‘ la vida loca

Überhaupt ist die Serie, die auf zwei Zeitebenen spielt (späte 90er sowie Jetztzeit) sexuell ziemlich aufgeladen, kokettiert mit dem hedonistischen Lifestyle, den man mit Ibiza konnotiert: Hier das türkisfarbene Wasser, die feinen Sandstrände, die Villen mit großen Pools. Aber auch: die luxuriösen Clubs, die dröhnende House-Musik, das Partylife.

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Die musikalische Ebene, die sich vor allem durch Axel ausdrückt, fällt vergleichsweise überschaubar aus: Axel, dessen Figur sowohl stylisch als auch charakterlich den Spirit der späten Neunziger wunderbar einfängt, parliert in der Serie gerne über Wolfgang Amadeus Mozart, dessen Musik laut ihm eine Art Proto-House war und den er sich gewissermaßen als Vorbild genommen hat.

Abseits dessen ist der Soundtrack der Serie – logischerweise – sehr elektronisch ausgelegt, hier klingt mal Primal Scream an, da M83 – und auch den Megahit „Con Altura“ von Rosalía und J. Balvin gibt es zu hören. Besonders schön: In einer der Schlüsselszenen auf Axels Geburtstagsfeier hämmert der House-Klassiker „Your Love“ von Frankie Knuckles durch die Boxen.

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Zwischen glasklaren elektronischen Beats und schneeweißen Koks-Linien findet die Serie jedoch leider zu selten zu ihrem eigentlichen Kern: der Whodunit-Geschichte. Der Mord gerät oft ins Hintertreffen – zu oft geht es um an sich nebensächliche Machtspielchen, um Eheleben und um Affären deren Hintergründe (meist) völlig unerheblich für den Ausgang der Geschichte sind. Mit dem Darstellen dieses ständigen Exzesses aus Sex und Drogen überschreitet „White Lines“ dann auch irgendwann die sprichwörtliche Linie der Notwendigkeit. Ja, wir haben es kapiert: Ibiza Ende der 90er muss sehr krass gewesen sein.

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Im Laufe der doch recht üppigen zehn Folgen erfährt man nicht nur, wie schwer sich Briten mit dem Aussprechen des Wortes „Ibiza“ tun, sondern auch, wie jeder irgendwie mit seinen eigenen, teilweise sehr speziellen Problemen beschäftigt ist. Dass die Figuren nicht perfekt sind ist ja das eine. Auch bei „Haus des Geldes“ hatten alle ein Päckchen zu tragen. Doch den Charakteren bei „White Lines“ fehlt es trotzdem meist an Seele. Zoe, mit der man alleine schon aufgrund ihrer Vorgeschichte mitfühlen sollte, ist als Hauptfigur einer derart vielschichtigen Serie überaus ungeeignet, schafft es sie doch nie das Charisma zu entwickeln, das einer solchen Protagonistin eigentlich zu Gesicht stehen müsste. Schauspielerin Laura Haddock („Transformers 5: The Last Knight“, „Guardians of the Galaxy“) ist keine Idealbesetzung für eine Rolle, die viel mehr Variantenreichtum abverlangt hätte.

Ihre Zoe ist nur wenig glaubwürdig, ihre Handlungen zudem nicht immer nachvollziehbar: Oft bewegt sie sich eher von der Lösung weg, beweist, auch durch eine gewisse Naivität geschuldet, kaum Gespür für die Drastik der Situation. Aus der erstaunlich schwachen Darstellerriege sticht einzig Nuno Lopes heraus, der Boxer – die mit Abstand interessanteste Figur der Serie – überaus überzeugend als Bad Boy mit sanfter Seele und sozialem Gewissen verkörpert.

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Der Mord an Axel wird zwischendurch fast vergessen

Aber auch er rettet diese Serie, die einfach nicht den richtigen Ton finden will, nicht: Spielte sich Pinas Hit-Serie „Haus des Geldes“ noch in einem räumlich abgeriegelten Mikrokosmos ab und verfolgte auch (staffelübergreifend) ein klares Ziel, nämlich das erfolgreiche Abschließen des Raubes, scheint es, als würde „White Lines“, die ein oder andere Baustelle zu viel aufmachen: Offenkundig sollte das Auflösen des Mordes an Axel Collins auf Ibiza die Haupthandlung sein. Und die Serie ist am Besten, wenn in bester Cluedo-Manier – das bekannte Spiel wird an einer Stelle sogar referenziert – die Beteiligten ihre Karten über ihre (Nicht-)Beteiligung am Mord offenlegen. Doch bis die Serie sich darauf einlässt und überhaupt an Fahrt aufnehmen kann, muss man erstmal viele komplizierte Abbiegungen nehmen. Und das hemmt leider stark den Aufbau von so etwas wie Spannung oder gar Suspense. Mit „Haus des Geldes“ und dessen Qualität und dessen sogartigem Suchtpotential kann „White Lines“ leider nicht mal annähernd mithalten.

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Die ein oder andere romantische Verwicklung, die ein oder andere Darstellung des „vida loca“ auf Ibiza hätte man weglassen können, ja müssen. So wohnt man viel zu lange einer Serie bei, die ständig ihren Fokus zu verlieren scheint. Das Setting der kleinen Welt einer sonnendurchfluteten Balearen-Insel passt an sich perfekt für einen Whodunit-Krimi. Knapper erzählt, mit besseren Dialogen und einem charismatischeren Lead wäre hier mehr drin gewesen. Schade.

„White Lines“, seit 15. Mai 2020 auf Netflix im Stream verfügbar

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