Who Story


Vor einigen Wochen konnten die Who ihr zehnjähriges Bestehen feiern. Damit gehören sie zu den ganz wenigen Top-Gruppen, die zehn Jahre lang Krisen und Höhepunkte ihrer Karriere ohne personelle Veränderungen überstanden. Als die asozialste Band der frühen Sechziger Jahre gelang es ihnen dank Pete Townshends grandioser Ideen schliesslich sogar das verwöhnte europäische Opern-Publikum zu gewinnen. Der Erfolg war den Who jedoch nicht gerade in den Schoss gefallen. Zunächst wurden gigantische Schulden gemacht, dann gab es Zwietracht und personelle Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe, die sich oft genug auch in der Musik widerspiegelten. In ihren ersten Jahren waren die Who die musikalischen Idole der 'mods', einer in ganz England verbreiteten Jugend-Bande, die sich mit den Rockern regelmässig Strassenschlachten lieferte. Gewalt — ein wichtiger Bestandteil des Who-Image — sollte Jahre später eine tragische Rolle spielen als nämlich ein Chauffeur ums Leben kam, weil er im verkehrten Augenblick eine verkehrte Bewegung machte ... Die Who sind von Anfang an richtungweisend gewesen. Das galt sowohl für die Zerstörungswut, in der sie auf der Bühne ihre Instrumente zu Kleinholz verarbeiteten, als auch für die beiden Meisterwerke 'Tommy' und 'Quadrophenia'. Was sich sonst noch alles in den zehn Jahren Who-Geschichte abgespielt hat, das schildert MUSIK EXPRESS auf diesen Seiten.


The Detours – die totale Stones-Imitation

Peter Dennis Blandford Townshend wurde am 19. Mai 1945 in Chiswick (England) geboren. Sein Vater war Dirigent und seine Mutter Sängerin. Nach der Grundschule besuchte er die Mittelschule in Acton, um danach auf der Akademie für Bildende Künste in London zu studieren. In dieser Zeit betrachtet er sich selbst als einen mageren, schlechtaussehenden Jungen, für den sich weiss Gott kein Mädchen interessiert. Besonders seine Übergrosse Nase macht ihm sehr zu schaffen, weil es viele gibt, die ihn deswegen auslachen. Er fühlt sich verständlicherweise ziemlich frustriert und beschliesst deshalb unheimlich berühmt zu werden. Er kauft sich eine Gitarre, weil er meint, dass Mädchen einen Popgitarristen, wenn er berühmt geworden ist, auch mögen, wenn er schlecht aussieht. 1962 gründet er mit seinen Freunden Roger Daltrey (Gitarre) und John Entwistle (Bass) die Gruppe ‚The Detours‘. Aufgetreten wird regelmässig in einem kleinem Club, der ‚Goldhawk‘ heisst und im Londoner West End liegt. Obwohl Townshend der eigentliche Gründer ist, übernimmt der gutaussehende Roger Daltrey sehr bald schon die führende Rolle in der Band ein, ganz einfach, weil er von Anfang an die meisten Fans hat. Roger ist übrigens auch ein sehr guter Gitarrist. Drei Monate nach der Detours-Gründung schliesst sich der Gruppe ein Drummer an, dessen Namen wir jedoch auch nach intensiver Wühlerei in verschiedenen Archiven nicht mehr ausfindig machen konnten. Zu diesem Zeitpunkt wird auch der Gruppenname verändert. Die Detours nennen sich von jetzt ab ‚The Highnumbers‘. Pete Townshend müht sich damit ab so gut wie möglich den Rolling Stone-Gitarristen Keith Richard zu imitieren. Abend für Abend lässt er seinen Arm wie einen Propeller rotieren, zerschlägt seine Gitarre an den Lautsprecher-Boxen und schmeisst die zerkleinerten Holzbrocken seines Instruments durch die Gegend. Obwohl die Highnumbers bereits eine erstaunliche Popularität für sich verbuchen können, wird ihre erste Single Zoot Suit‘ der totale Flop. Dennoch kann dieser Misserfolg den Aufstieg dieser Londoner Gruppe nicht verhindern. Vor allem durch Mundpropaganda verbreitet sich der Spruch von der gewalttätigsten und asozialsten Band der Sechziger Jahre, die ausserdem noch die meisten Schulden hat. Gleichzeitig werden sie zu Idolen für die ‚mods.

Keith Moon im Anmarsch

1964 treffen die Highnumbers mit Kit Lambert und Chris Stamp zusammen, die sich fest vorgenommen haben, diesen chaotischen Haufen, der sich auch noch hochtrabend ‚Popgruppe‘ nennt, zu managen. Im Anschluss daran werden eine ganze Reihe Veränderungen vorgenommen. Zunächst mal wird der Name umgeändert. Die Highnumbers sind plötzlich tot, dafür kommen über Nacht die ‚Who‘ zum Vorschein. Ausserdem gelingt es Pete Townshend Roger Daltrey davon zu überzeugen, das es für alle in der Gruppe das Beste wäre, wenn er (Roger) seine Gitarre an den Nagel hängen und sich stattdessen auf’s Singen beschränken würde. Im Sommer 1964 findet der erste Who-Auftritt in Acton (England) statt. Von da ab dauert es nicht mehr lange bis der Ruf der Who auch bis zum berühmten Londoner Marquee Club durchgedrungen ist, wo die Band schliesslich jeden Dienstagabend auftritt. Lambert und Stamp, die beiden Manager, entwickeln eine erstaunliche Aktivität. Sie lassen Anzeigen in verschiedenen Zeitungen erscheinen, in denen alle, die Bock drauf haben, aufgefordert werden jeden Dienstagabend im Marquee aufzukreuzen. Die Geschäftstüchtigkeit geht sogar soweit, dass alle Who-Fans, wenn sie es möchten, per Bus von zuhause abgeholt und gratis zum Marquee gebracht werden, wo ihnen sogar noch Geld ausbezahlt wird, damit sich sich ordentlich einen trinken und somit für Stimmung sorgen können. Schnell wird von den beiden ungewöhnlichen Managern auch ein Who-Fan-Club aus dem Boden gestampft, der den Namen ‚100 Faces‘ abbekommt. (‚Face‘ ist ein Insider-Name für einen ‚mod‘). An einem dieser Dienstagabende im Marquee steht der ‚mod‘ Keith Moon direkt vor der Bühne. Er hat von seinen Freunden gehört, dass die Who eine ganz ausgeflippte Gruppe sein sollen, und sowas muss man sich ja mal angeschaut haben. Nach zwei Stücken ist er überzeugt, dass ihm diese Band ganz gut gefällt, beim dritten Song springt er jedoch plötzlich wie ein Wildgewordener vor der Bühne rum und schreit durch die Gegend. Er richtet sich vor allem an Roger Daltrey und versucht diesem, indem er ihn völlig aus dem Konzept bringt, klarzumachen, dass der Mann hinter der Who-Schiessbude nichts taugt, und dass er (Keith) ein tausendmal besserer Drummer sei. Nach dem Konzert lädt Pete Townshend den kleinen, fanatischen Keith Moon zu einer Probe seines Könnens ein, die damit endet, dass Keith plötzlich der neue Drummer der Who ist. Die erste Who-Single bekommt den Titel ‚In The Face‘. Sie geht jedoch genau wie die Single der Highnumbers voll in die Hose. Das ist für die Manager Lambert und Stamp das Startzeichen dafür, sich etwas ganz Besonderes einfallen zu lassen. In der Autogarage von Pete Townshends Eltern bringen sie die Who schliesslich dazu, den später berühmt gewordenen Demolier-Bühnenact vorzubereiten. Ausserdem wird dafür gesorgt, dass die Who endlich auch ein einprägsames Image verpasst bekommen. Von Lambert und Stamp werden sie dazu verdonnert, sich die Haare . kürzer schneiden zu lassen. Ausserdem werden sie in Pop-Art-Kleidung gesteckt, die gerade ‚in‘ wird. Kein Wunder, dass der allererste Fernseh-Auftritt der Who in der Sendung ‚Ready Steady Go‘ unter diesen Voraussetzungen einschlägt wie eine Bombe.

Der erste Hit!!

Die zweite Who-Single, die kurz nach dem TV-Konzert auf den englischen Markt kommt, tragt den Titel ‚I Can’t Explain‘ und handelt von den Frustrationen, mit denen man sich als Jugendlicher so herumzuschlagen hat. Jetzt endlich klappt es. ‚I Can’t Explain‘ schafft spielend den ersten Platz der englischen Hitparaden. Daraufhin fällt den Who nichts Besseres ein, als sich noch mehr in Schulden zu stürzen. Bereits vier Wochen nach dem Erscheinen von ‚I Can’t Explain‘ kommt die Nachfolge-Single ‚Anyway Anyhow Anywhere‘ in den Handel. Es ist ein ohrenbetäubendes Stück Musik. Ein Konzert der Who in diesen Tagen ist eine atemberaubende Angelegenheit. Townshend zerschlägt seine Gitarren, Keith Moon klettert über sein Schlagzeug und Roger Daltrey schnippt andauernd mit seinen Fingern, wobei er es nicht unterlässt, den Konzertbesuchern stolz zu erzählen, wieviele Pillen er an diesem Abend bereits geschluckt hat. John Entwistle verhält sich haargenau so wie der Stones-Bassist Bill Wyman — er steht bewegungslos in einer dunklen Ecke auf der Bühne herum und schaut manchmal gelangweilt auf die Uhr, um zu wissen, wann die Show denn endlich abgelaufen ist. In lockerer Folge erscheint eine ganze Reihe weiterer Singles, die alle aus der Feder von Pete Townshend stammen. Ganz deutlich sind jedoch die musikalischen Einflüsse anderer Gruppen in den Who-Songs zu erkennen. ‚I Can’t Explain‘ ist beispielsweise unheimlich am Sound der ‚Kinks‘ orientiert, ‚The Kids Are Alrighf klingt verdächtig beatlesähnlich und die Singles ‚A Legal Matter‘ und ‚Substitute‘ könnten genausogut von den Rolling Stones stammen. Die Who-Musiker sind sich dieser Tatsache sehr wohl bewusst, denn sie gehen davon aus, dass man nur dann erfolgreich sein kann, wenn man sich an den augenblicklichen Trends orientiert.

Nichts als Krach

Nach aussen hin erwecken die Who den Anschein einer harmonischen Einheit. Unter der Oberfläche kriselt es jedoch andauernd, und nichts ist zwischen den einzelnen Musikern alltäglicher als Krach und handfeste Auseinandersetzungen. Keith Moon möchte am liebsten nur noch harmonische Musik im Beach Boys-Stil machen, während Roger Daltrey eine Vorliebe für Blues- und Soulmusik entwickelt hat. Pete Townshend hat den ganzen Verein jedoch gut II 1

unter Kontrolle, und ihm gelingt es immer wieder einen goldenen Mittelweg zu finden, mit dem alle einverstanden sein können. Langsam aber sicher entwickeln sich die Who zu einer Band, die sich nicht nur den herrschenden Trends anschliesst, sondern die mehr und mehr selbst trendauslösend wirkt. Sie sind zum Beispiel die erste Band, in der die Gitarristen durch Ein- und Ausschalten der Verstärker ganz ungewöhnliche Klänge hervorzaubern. Es liegt nahe, dass es jetzt nicht mehr lange dauert bis ihnen nicht nur London sondern ganz England zu Füssen liegt. Dieser Moment tritt ein, als die Single ‚My Generation‘ erscheint. Der Song wird unmittelbar zum Kampflied der noch immer Unruhe stiftenden mods‘. ‚My Generation‘ verschafft den Who auch den Durchbruch in ganz Europa, ja es wird sogar ein richtiger Welthit. Noch heute wird der Song als einer der wichtigsten Beiträge zur Rock-Kultur angesehen. Die Zeile Hope I die belore I get old‘ (Hoffentlich sterbe ich bevor ich alt werde) aus ‚My Generation‘ hat die Weltanschauung von Millionen Jugendlichen in aller Welt geprägt.

Die Geburtsstunde eines neuen Trends

In der jetzt kommenden Periode lassen viele Kenner der Popmusik-Branche erstmals durchblicken, dass sie Pete Townshend für einen aussergewöhnlich talentierten Songschreiber und Komponisten halten, von dem noch eine Menge zu erwarten sei. Für Pete selbst scheint dies ein enormer Ansporn zu sein, um sich mal so richtig ins Zeug zu legen. Als di.e LP ‚A Quick One‘ erscheint, stellen die Who der Welt eine Idee vor, die einmalig ist und die die ganze weitere Karriere dieser Gruppe entscheidend mitbestimmen soll. Die Platte ist nämlich das erste Konzept-Album in der Geschichte der Popmusik. Damit haben die Who erstmals einen eigenständigen Trend ins Leben gerufen.

Pete schockt das konservative England

Empört reagiert das bürgerliche englische Fernsehpublikum, weil Pete Townshend bei seinen immer zahlreicheren TV-Auftritten regelmässig eine Jacke trägt, die aus dem ‚Union Jack‘, der britischen Nationalflagge zusammengeschneidert wurde. Obwohl sie schon hin und wieder Amerika-Tourneen unternehmen, haben die Who noch immer jede Menge Schulden. Die Holzhackerei auf der Bühne sorgt halt dafür, dass die Gitarren- und Verstärkerhersteller in diesen vier Engländern ihre mit Abstand treuesten Kunden haben. Die rosa Zeiten lassen eigentlich noch ein bisschen auf sich warten, denn Superstars sind die Who in Amerika noch lange nicht. Auf ihren Tourneen treten sie zunächst mal nur im Vorprogramm der Dave Clark Five und der Herman Hermits auf.

Die erste Pop-Oper wurde nie aufgeführt

Noch immer steigert sich die Qualität der Who-Singles von Mal zu Mal beträchtlich. Bestes Beispiel dafür der Titel I’m A Boy‘. In diesem Song geht es um einen Jungen, der dagegen rebelliert, dass seine Mutter aus ihm ein Mädchen, oder zeitgemässer ausgedrückt, einen Transvestiten machen will: ,,1’m a boy, l’m a boy but my ma won’t admit it“. Pete Townshend läuft zu dieser Zeit mit dem Gedanken rum, sowas wie eine Pop-Oper zu entwickeln, ‚I’m A Boy‘ soll ’ne Art Titel-Song für dieses Projekt werden. Pete hatte sich eine Geschichte ausgedacht, die im Jahre 2000 spielt. In einer Zeit also, in der Familien längst wählen können, ob der Nachwuchs aus Söhnen oder Töchtern bestehen soll. In Petes Geschichte geht es um eine Frau, die sich vier Mädchen wünscht, weil sie möchte, dass ihre Töchter später mal eine berünmie weibliche Popgruppe werden sollen. Versehentlich schenkt sie jedoch auch einem Jungen das Leben. Dieser wird schliesslich so wie ein Mädchen erzogen, bis er anfängt zu rebellieren. Das Werk, mit dem Townshend sich sehr lange beschäftigt, soll ‚Quads‘ heissen, wird jedoch nie fertiggestellt und schliesslich ganz vergessen.

Townshends Guru

1968 stellen sich die Who ernsthaft die Frage, ob sie weitermachen sollen oder nicht. Obwohl noch immer eine Platte nach der anderen erscheint, sämtliche LPs zu Bestsellern werden und sich der Durchbruch auch in Amerika einstellt, fängt es Pete Townshend an zu langweilen, grandiose Ideen in die kurze Drei-Minuten-Spielzeit einer Single pressen zu müssen. Er möchte mal was ganz anderes machen. Zunächst einmal zieht er sich für unbestimmte Zeit zurück und studiert die Schriften des indischen Gurus Meher Baba. Viele Leute, vor allem in Hippie-Kreisen, sehen in diesem indischen Philosophen eine Art neuer Messias und verleihen ihm den Beinamen ‚The Awakener‘ (Der Wachmacher). Pete Townshend ist ganz besonders von Meher Babas Gedichten fasziniert. Sie hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck und bestimmen von jetzt ab Pete’s geistiges Leben. Unter dem starken Einfluss des Gurus reift in der Fantasie des Who-Gitarristen eine visionäre Geschichte heran, die unter dem Namen ‚Tommy‘ als Pop-Oper von vielen als das aufsehenerregenste Ereignis in der Popszene überhaupt betracht wird. Mit Tommy‘ steigen die Who zu einem der populärsten Rock-Acts der Welt auf.

Besser als Sgt. Pepper?

Von Anfang an wird ‚Tommy‘ mit dem Beatles-Opus ‚Sgt. Pepper‘ verglichen. Es gibt nicht wenige, die sogar der Meinung sind, dass das Beatles-Werk von den Who noch übertroffen wurde. Amerika flippt volkommen aus und betrachtet spätestens von jetzt ab die Who als eine der ganz grossen Gruppen. Weltweit werden vom Doppelalbum ‚Tommy‘ 750 000 Exemplare verkauft. Die Oper besteht aus 22 Songs, die, wie Townshend erklärt, auf dreierlei Art interpretiert werden können:

1. als Weltanschauung

2. als Rock’n’Roll Musik

3. als musikalische Erzählung über das Leben eines Popstars

Obwohl das Album in der Musikpresse im allgemeinen gelobt und gepriesen wird, gibt es auch negative Stimmen. Pete Townshend kann das überhaupt nicht verstehen, obwohl er zugeben muss, dass ein Hauptrollenspieler, der taubstumm und blind ist, schon (ein wenig komisch erscheint.

Die Tommy-Geschichte

Tommy ist nicht immer taubstumm und blind gewesen. Das passiert erst, als er sieht, wie sein Vater den Liebhaber seiner Mutter ermordet. Die beiden erschrecken sich fürchterlich, als sie entdecken, dass ihr Sohn sie beobachtet hat. Sie probieren mit allen Mitteln, ihm klarzumachen, dass er überhaupt nichts gesehen, sondern nur einen schlimmen Traum gehabt hat. Doch Tommy ist schon längst taubstumm und blind. Er kann also sowieso nichts verraten. Um mit seinen Problemen und Frustrationen fertig zu werden, verzieht Tommy sich in Spielhöllen, in denen er sehr schnell unschlagbarer Meister am Flipperautomaten wird. Ein Arzt versucht inzwischen, den taubstummen, blinden Jungen von seinen Leiden zu befreien. Er beauftragt ihn, regelmässig in den Spiegel zu schauen und anschliessend über sein Spiegelbild nachzudenken. Damit beabsichtigt der Arzt, das Tommy mitbekommt wie er sich bewegt. Zuguterletzt eröffnet Tommy ein Ferienlager, in dem es sehr lustig zugeht bis eine Revolution ausbricht, die schlimme Folgen hat…

6 Lkws + 20 Roadies

„Wo bleibt das ganze Geld der Who eigentlich?“ Pete: „Die Gruppe ist von einer kleinen Popgruppe aus dem Westen Londons angewachsen zu einer riesigen Firma. Wir müssen in enorm grossen Dimensionen denken und rechnen. Tourneen verschlingen halt eine Menge Geld, wenn man bedenkt, dass wir zwanzig Roadies angestellt haben, die in sechs Lkws unsere quadrophonische Anlage von einem Konzert zum‘ anderen transportieren. Hinzu kommt noch die Lightshow. Wir haben unglaublich lange Tourneen durch Amerika gemacht. Vor und nach dem Woodstock-Festival. Für das Isle Of Wight Festival haben wir speziell unseren Amerika-Aufenthalt unterbrochen. Das kostet Unmengen Geld. Und wenn wir mal pausieren, müssen die Roadies schliesslich weiterbezahlt werden.“ Lange hat Pete gebraucht bevor ihm mit ‚Tommy‘ der ganz grosse Wurf gelang. Er hat damit jedoch ein Meisterwerk geschaffen, das selbst voreingenommenen Musikhörern noch angenehm in die Ohren geht. Doch irgendwann fängt der Who-Komponist erneut an zu grübeln. Ihn beschäftigt immer mehr die Frage, ob es ihm jemals gelingen wird, ein Nachfolgewerk zu Tommy zu schreiben, das aus dem Schatten des Vorgängers hervorragt.

Der Tod des Cornelius Boland

Im Dezember 1969 wird Keith Moon in einen tragischen Unfall verwickelt. Als er ziemlich betrunken durch die Strassen von London torkelt, wird er von einer jugendlichen Strassenbande (‚Skinheads‘) angegriffen. Keith, der wegen seines hemmungslosen Alkoholgenusses schon lange nicht mehr selbst Auto fährt, stattdessen aber einen Chauffeur besitzt, erkennt blitzschnell die Lage, die so aussieht, dass zwischen ihm und seinem Wagen noch ein Abstand von ca. fünf Metern ist, während die gut dreissig Skinheads ihm dicht auf den Fersen sind. Er rennt so schnell es geht auf sein Auto zu, doch es gelingt ihm nicht mehr, der Bande zu entwischen. Cornelius Boland, sein Chauffeur, rechnet mit dem Schlimmsten. Er springt aus dem Wagen und stürzt sich zwischen die mit Fahrradketten auf Keith einschlagenden Jugendlichen, um diesem aus der Patsche zu helfen. Dadurch werden die Skinheads für ein paar Sekunden von ihrem ursprünglichen Opfer abgelenkt. Sekunden, in denen es Keith Moon gelingt sich zu befreien und mit einem Riesensprung auf dem Fahrersitz seines Wagens zu landen. Ohne lange zu überlegen gibt er Vollgas und rast auf die Angreifer zu. Die haben sich jedoch schnellstens aus dem Staub gemacht. Ausgerechnet Cornelius Boland steht noch in der Nähe der Stelle, auf die Keith das Auto zusteuert. Als der Chauffeur dann auch noch einen falschen Schritt macht, ist es zu spät für ihn: Er gerät unter die Räder seines eigenen Wagens und ist auf der Stelle tot.

4000 Interviews

Im Februar 1970 geben die Who zwei Konzerte in Leeds (England), die aufgenommen werden‘

und kurze Zeit spater als Live-Album auf dem Markt erscheinen. Im März legt die Gruppe eine vierwöchige Pause ein, die vor allem dazu dienen soll, Keith über den Schock hinwegzuhelfen, den er durch den tödlichen Unfall abgekommen hat. Im April steht eine Europa-Tournee auf dem Programm, auf die eine zweimonatige Konzertreise durch die Vereinigten Staaten folgt. „Jede US-Tour ist ein unheimlicher Kräfteverschleiss“, findet Pete Townshend, „die zweistündigen Auftritte machen zwar immer einen Mordsspass, aber die restlichen 22 Stunden eines Tages machen einen völlig fertig. Entweder ist man dann gerade unterwegs oder man wird von Journalisten belästigt.“ Man kann es verstehen, wenn Pete so über die Presse spricht, denn während dieser Tournee gibt er insgesamt 4000 Interviews.

Massiger Entwurf

Nach Tommy stehen die Who vor dem Problem, ein Nachfolge-Werk zu schaffen, das ähnliche Qualitäten wie die Rock-Oper aufweist. Zunächst erscheint das Album ‚Live At Leeds‘, auf dem sich unter anderem eine hervorragende Version von ‚My Generation‘ befindet. Die Zeit verstreicht, aber es passiert nichts Neues. Pete Townshend macht eine sehr schwere Periode durch, weil ihn der Leistungsdruck von Tag zu Tag mehr bedrückt. Die Presse macht sich bereits Gedanken darüber, wie lange die Who wohl noch zusammenbleiben. Innerhalb der Gruppe gibt es jetzt wieder des öfteren Krach, und offiziell wird mitgeteilt, dass die Who sich für eine Weile zurückziehen. Keith Moon bekommt von Frank Zappa eine Rolle in dessen Film ‚200 Motels‘ angeboten. Später wirkt der clownhafte Who-Drummer auch in dem David Essex Ringo Starr-Film That’ll Be The Day‘ mit. John Entwistle formiert die Gruppe Rigor Mortis und Roger Daltrey konzentriert sich auf sein erstes Solo-Album. Pete Townshend stürzt sich in ein Projekt, das er ‚Lifehouse‘ nennt. Es handelt sich dabei um eine riesige Rock-Gruppe, die aus den Who und einer Anzahl Who-Fans bestehen soll. Alle Mitglieder dieser Riesen-Band sollten sich zusammensetzen und und gemeinsam ein paar Songs komponieren, die anschliessend auf einer LP und in einem Film festgehalten werden sollen. Diese nicht schlecht klingenden Pläne verschwinden jedoch nach einiger Zeit wieder in der Schublade, um dort zu verstauben. Das Einzige, was von diesem Projekt übrigbleibt, sind ein paar Songs, die schliesslich auf der LP ‚Who’s Next‘ erscheinen. Obwohl die Platte von den Who-Fans in aller Welt mit Begeisterung aufgenommen wird, hält Townshend sie für ziemlich misslungen. Sogar an der Plattenhülle hat er was auszusetzen. Er bezeichnet sie als einen nur massig gelungenen Entwurf. Schliesslich begeben sich die Who wieder für ein paar Monate auf Tournee bis das Album ‚Meaty, Beaty, Big & Bouncy‘ auf den Markt kommt. Diesmal ist Pete sehr zufrieden mit dem Resultat, weil der Plattenkäufer mit diesem Album einen historischen Überblick über die musikalische Entwicklung der Who bekommt. „Schliesslich haben wir jetzt viele Fans“, meint Pete, „die uns erst seit Tommy kennen.“

Tommy war keine Eintagsfliege

Inzwischen ist es 1973 geworden. Pete Townshend’s Solo-LP erscheint in diesem Jahr unter dem Titel ‚Who Came First‘. Die Platte hat er dem Guru Meher Baba gewidmet. Die einzelnen Titel auf diesem Album sind wesentlich ruhiger und melodischer als die Songs auf den vorangegangenen Who-LPs. Pete hat auf seiner Scheibe unter anderem auch die alte Jim Reeves-Schnulze ‚There’s A Heartache Following Me‘ aufgenommen und ein Gedicht von Meher Baba in einen Song umgearbeitet. Von John Entwistle erscheint kurz darauf sein ‚Rigor Mortis‘-Album. Roger Daltrey erweist sich mit seiner Solo-LP schliesslich als der Erfolgreichste aller Who-Musiker; ihm gelingt ein grosser Wurf mit dem Hit ‚Giving It All Away‘, den übrigens Leo Sayer geschrieben hat. Im Februar machen erstmals Gerüchte die Runde, in denen es heisst, dass die Who inzwischen wieder mit einem Plan beschäftigt sind, der dazu führen könnte, dass Tommy endlich einen ebenbürtigen Nachfolger bekommt. Es heisst, die Band habe sich in ein Plattenstudio in Battersea zurückgezogen. Dort soll angeblich Tag und Nacht geprobt werden. Pete Townshend verweigert in dieser Zeit jede Auskunft, denn er möchte verhindern, dass er in seiner Konzentration gestört wird. Das Resultat dieser geheimnisvollen Phase erscheint schliesslich auf dem Doppelalbum ‚Ouadrophenia‘. Ähnlich wie bei Tommy befindet sich auch auf diesem Album eine in sich abgeschossene Rahmenhandlung. Diesmal geht es um die Geschichte der ‚mods‘ und über die Jugendjahre dej Who selbst. Die Platte bekommt sensationelle Zeitungskritiken und überzeugt auch den grössten Zweifler davon, dass Tommy keine Eintagsfliege war.

‚Quadrophenia‘ wird in vielen Ländern der Welt vergoldet. Zu Beginn des Jahres 1974 sind die Who damit wieder ‚in‘ wie eh und je. Sie unternehmen eine grosse Tournee durch die Vereinigten Staaten (Golden Earring im Vorprogramm). Im Herbst erschein schliesslich das bis jetzt jüngst. Who-Album Odds And Sodds‘, auf dem ausschliesslich Uralt-Material festgehalten ist. Tja, das also ist in den letzten zehn Jahren mit den Who passiert.

P.S.

Der Demolier-Act, mit dem die Gruppe in ihrer Frühzeit berühmt geworden ist, besteht natürlich schon lange nicht mehr. Nur noch ganz selten wird auf der Sühne noch mal eine Gitarre kaputtgeschlagen. Die Pop-Art Tage sind vorbei und wohl auch die ewigen Streitereien unter den Gruppenmitgliedern. Die Who sind heute einfach nur eine gute Rock-Band, die längst zu einer Legende geworden ist. Ihre Musiker beschäftigen sich nebenbei auf zahlreichen anderen Gebieten. War es nicht Pete Townshend, der 1969 ‚Thunderclap Newman‘ entdeckte? Hat er nicht in erster Linie dafür gesorgt, dass Eric Clapton 1973 sein Comeback mit dem sensationellen Konzert im Londoner Rainbow Theatre einleitete? Und war es nicht auch Pete Townshend, der erst neulich die neue Sharks-LP produziert hat? Die Who sind eben Vollprofis des Show- und Rock-Business. Ganz sicher wird man auch 1975 wieder ’ne Menge von ihnen zu hören bekommen. Vor allem, wenn dann endlich der im vorigen Jahr aufgenommene Tommy-Film in unsere Kinos kommt. Wer hätte das schon 1969 gedacht, dass ‚Tommy‘ die Who so gut wie unsterblich machen würde …