Wie das sturköpfige Weilheim aus The Notwist das formte, was sie heute sind: eine Band, die viel fragt und viel losmacht


Wir sind zu früh, The Notwist zu spät. Ein höflicher junger Mann in braunem Kord springt ein und brüht frischen Kaffee. „Fertig. Milch und Zucker – steht alles draußen.“ Ein netter Wink als freundlicher Raumverweis. Im Studio wird nämlich gearbeitet, konzentriert an der zweiten Stimme im dritten Refrain gefeilt.

Im Vorzimmer herrscht Jugendherbergs-Atmosphäre: Lizenzfiguren aus Fast-Food-Tüten haben auf dem Fensterbrett ein Douglas-Adams-Taschenbuch umstellt. Zur Seite gelegte Handys spielen sich in ihrer Einsamkeit nervtötende Ruf-Melodien vor. Der Abfallkorb-große Spielzeugroboter am Empfang bewahrt sein dummdreistes Grinsen trotz der muffigen Musikanten-Wäsche zu seinen Rollen. Und blickt dabei doch leer hinaus ins graue oberbayerische Hinterland. Das Uphon-Tonstudio befindet sich in einer Dorf gewordenen Winzigkeit namens Wilzhofen, keine fünf Autominuten nördlich vom Musik-Mekka-Mythos Weilheim entfernt – mitten drin im Nirgendwo. „Links die letzte Einfahrt vor der BayWa-Technik.“ Kreativität is where the heart is. Solange nur Strom und Kaffeewasser fließen. In diesem Studio haben The Notwist in fünfzehn Monaten ein kleines Vermögen gelassen. „Neon Golden“, das neue Album fast vier Jahre nach „Shrink“, ist – das wird nach mehrmaligem Hören klar und klarer – nicht die schlechteste Geldanlage gewesen.

Kurze Zeit später wird sich übrigens zeigen: Die sympathischen jungen Herren, die an diesem Wintertag im Erdgeschoss mit Engelsgeduld Song-Spuren mixen, sind zwei Viertel der Ingolstädter Gitarrenpop-Kapelle Slut, die an ihrem nächsten Album feilt. Und der verschmitzte kleine Bursche mit dem Kinnbart, gewandet in sportliche Übergröße? Na, hören Sie mal: Das ist Mario Thaler – seines Zeichens Studiobesitzer und schon ein klein wenig Produzentenlegende. Wer mag, darf jetzt gerne ein wenig aufgeregt auf seinem Stühlchen herumrutschen angesichts der Popstars aus den Festival-Vorprogrammen, die sich in Wilzhofen und somit in diesem Artikel die Klinke nur so in die Hand drücken. Zwischenzeitlich sind nämlich auch drei von vier Notwistern eingetroffen. Sänger und Gitarrist Markus Acher wird nach einem Monat Tournee mit seinem Projekt Lali Puna für weitere zwei Wochen in innereuropäischer Ferne bleiben – heute sind sie in Paris, wo ein erlesenes Digi-Pop-Publikum beschallt werden möchte.

Nun aber Schluss mit Sitzflächen-Gerutsche, denn Popstars sind hier nicht wirklich anwesend. Nur ein paar auffallend sympathische Menschen – Musiker von Beruf und aus Berufung. Michael Acher hustet in seinen hochgeschlagenen Mantelkragen und klagt über die Erkältung, die er sich bei seiner kleinen Tochter geholt hat. Sie habe übrigens auch den heimischen Anrufbeantworter besungen, verweist der studierte Trompeter und Pianist auf die Acher’sche Musikanten-Tradition. Mecki Messerschmid wiederum verlegt – symbolischer geht’s kaum noch, von wegen Bodenständigkeit – Fußböden, wenn er nicht bei The Notwist Schlagzeug spielt. Übrigens auch das Parkett im Obergeschoss, wo Martin „Console“ Gretschmann, Elektronik-Beauftragter bei The Notwist, seine Studio-Bastelstube hat.

„Ich kann weder das eine noch das andere aufgeben“, sagt der einzige Profi-Amateur im Team. Die Fußböden fürs Bankkonto, die Musik fürs Gemüt. Doch darin liegt auch die Gefahr, vom Unternehmen der einstigen Pfadfinderkameraden Michael und Markus Acher im vollen Galopp verloren zu werden. Die Vollzeit- und vor allem Vollblut-Musiker entwickeln sich über das Mitwirken an unzähligen Nebenprojekten mit rasanter Geschwindigkeit weiter. Und schon knispelt und klackert heute Elektronik quer durch komplette Notwist-Stücke, wo sich früher Martin Gretschmann noch mit einem Intro zufrieden geben musste – und ersetzt Handgeklopftes. Mecki Messerschmid betont dennoch: „Ich bin ja mit dem Ergebnis auch hoch zufrieden.“

Er darf auf die Zukunft bauen. Dort gibt es wieder mehr für ihn zu tun. An der Zukunft feilen The Notwist bereits fleißig – im Proberaum, wo nicht nur fürs Livespiel geübt wird, sondern nach den 15 Studio-Monaten auch schon wieder neue Stücke entstehen, die das Quartett wieder heftiger, reduzierter und kompakter rocken lassen. Aus Sicht der Band ist das der einzig logische Schluss aus der zuweilen äußerst aufreibenden Aufnahmearbeit, die „Neon Golden“ zur schweren Geburt machte. Von der ersten, engen Vorgabe einer „ganz extremen Anti-Pop-Platte“ bis hin zu einem doch homogenen Popalbum zu Notwist-Bedingungen. „Am Schluss sollte ein Bild stehen“, erklärt Markus Acher per Telefon von Paris aus das Konzept von „Neon Golden“. „Die Stimme, der Songwriter, die Gitarre – und im Hintergrund passieren alle möglichen Sachen.“ Bis es so weit war, machten Band und Material mehr als nur eine Wandlung durch. „Es gab bestimmte Punkte, da war’s schrecklich“, erzählt Markus: „Da fragt man sich, warum man sich nicht einfach reinstellt, Verstärker an, losrockt, aufnimmt und fertig.“

Wie früher. Da waren The Notwist eine Hardcore-Band. Und Weilheim der Ort, dem die Musiker lieber heute als morgen entkommen wollten. Der Besuch von Konzerten amerikanischer Alternative-Helden, die um München einen Bogen machten, bedeutete eine Tagesreise. Und dann die Proberaum-Misere, fehlende Auftrittsmöglichkeiten, null Infrastruktur, keinerlei Unterstützung vom Kleinstadt-Establishment. Provinz ist eben Provinz. Das gilt auch für Weilheim. Und was ist mit dem Mythos?! „Wir sind immer gegen Wände gelaufen“, erzählt Martin, der als Letzter in der Band noch zumindest zeitweise in der Stadt wohnt, und schimpft: „Erst waren alle so stur und legten uns nur Steine in den Weg, und dann heißt es auf einmal: ‚Unsere lungs!'“ Tatsächlich aber fehlt den „Jungs“ immer noch die Anerkennung, die sie anderswo schon lange bekommen, die ihnen diese ihre Stadt jedoch nicht geben mag.

Doch wahrscheinlich hat gerade die Starrköpfigkeit der Alten die Jungen zu dem gemacht, was sie heute sind: „Weilheim ist für uns schon ziemlich wichtig. In der Hinsicht, dass lange Zeit überhaupt keine Llnterstützung kam“, sagt Michael Acher selbst, und es klingt nur anfangs paradox. Zu den besten Zeiten belebten die wahrhaft alternative Szene zwischen Weilheim und Landsberg mit seinem Hausmusik-Label rund 40 Leute. Sie spielten in Bands, veranstalteten Konzerte, vertrieben Platten – und inspirierten sich gegenseitig. Dass das – in dieser Dichte irgendwo im Nirgendwo – etwas Besonderes sein könnte, kam den Protagonisten selbst erst spät in den Sinn. Martin erinnert sich noch an die eigene Verwunderung: „Irgendwo stand dann mal ‚Deutschlands Seattle‘. Und wir dachten nur. Was schreiben die denn da?“

Michael Acher sieht die untergrundigen Umtriebe von damals immer noch als Selbstverständlichkeit: „Hier hätte nichts anderes passieren können: Da sind zwei Bands, die haben die Möglichkeit zu teuren oder eine Platte zu machen. Dann sehen das Freunde, die auch ein Instrument spielen können, und man beginnt, sich selbst etwas aufzubauen…das ist doch ganz normal.“ Von Mut könne da bis heute keine Rede sein. Martin relativiert: „Mutige Schritte gibt es jeden Tag. Es sind die Kleinigkeiten, die das Gesamtbild ausmachen. Es geht vor allem darum, bestimmte Sachen nicht zu machen.“ Zum Beispiel, nicht lauter und klarer vernehmbar zu singen als es der oft recht desillusioniert und emst textende Markus Acher tut – seit den Anfangstagen der Band darf er sich diesen Vorwurf anhören: „Warum singst du nicht lauter?“ Martin ist überzeugt: „Alles andere wäre gelogen. Man würde das spüren.“ Nun, für einen Sänger, der eigentlich nie singen wollte, tut er das doch wirklich nicht zu leise.

Wir wollen hier kein Indie-Märchen erzählen, aber: Diese Band ist in-de-pen-dent – weitgehend unabhängig. Kompromisse sind nicht nur nie faul, sondern selten. The Notwist üben die Kontrolle über ihr Gesamtwerk aus – Artwork, Video; kein Sampler- oder Soundtrackbeitrag, kein Interviewtermin oder Festivalauftritt ohne ihre ausdrückliche Zustimmung. Wer glaubt, dass das selbstverständlich sein sollte, kennt das Geschäft schlecht. „Das geht nur durch ständiges Aufpassen, Hinterfragen“, sagt Markus Acher. Denn von beiden Seiten droht Vereinnahmung. Vom Biz, das nur den schnellen Euro sieht, wie auch aus dem eigenen Indie-Lager: „Das ist bei manchen ins Dogmatische, Sekteriermäßige abgedriftet. Zu einem Major gehen – das war genau so wie bei Shell tanken.“

Um auch mit „Neon Golden“ nach eigener Fasson glücklich zu werden, spielten The Notwist das Album bei Mario Thaler komplett auf eigene Kosten ein. Da galt es zwischendurch so manchen Fußboden zu verlegen, Trompetenunterricht zu geben, in Papa Achers Dixieland-Kapelle „anschaffen“ zu gehen und jede Menge zu remixen, um sich diesen Luxus überhaupt leisten zu können. Erst als die Produktion beendet war, machte sich die Band auf die Suche nach einem in ihren Augen geeigneten Label.

Die auserwählte Firma City Slang/Labels darf sich unterdessen freuen, dass The Notwist selbst außergewöhnliche Promotionarbeit für ihr neues Album „Neon Golden“ betreiben werden. Stichwort „Transistor Notwist“: Zur Veröffentlichung Mitte lanuar lädt die Band in München und Paris ins Theater, wo das Ur-Trio im Saal spielt, während Console im Untergeschoss seine Elektronik-Sounds beisteuert. Diese Sounds werden live im Radio gesendet, so dass der Konzertbesucher mit dem mitgebrachten Transistorradio am Ohr für seinen eigenen Endmix sorgen kann.

Dahinter steckt keine sonstwie geartete Philosophie. Martin: „Das ist halt eine lustige Idee. Ich stehe auf solche Sachen.“ Und wer dann davon erfährt, wie die Band zu dieser lustigen Idee gekommen ist, bekommt selbst eine Ahnung davon, wie im Notwist-Universum ein Ding zum anderen führt: „Wir hatten gehört, Cornelius hätte so eine Aktion mal aufgezogen. Dann haben wir mit ihm auf einer Tour gespielt und ihn danach gefragt – und es stellte sich heraus, dass er da ganz was anderes gemacht hatte. Also dachten wir uns: Dann können wir das ja tun.“ Die Welt kann ganz einfach sein. Man muss nur immer fragen und dann fleißig machen. So wie das eben The Notwist tun.

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