Meinung

„Wir sind mehr“-Konzert in Chemnitz: Warum Die Toten Hosen die richtigen Headliner waren


Für 40 Minuten bewiesen Campino und seine Band am Montagabend, wie gut und wichtig sie mal waren – und wie relevant sie damit leider auch heute wieder sind.

Die Kritik kam fast genauso schnell wie das Soli-Konzert selbst zustande: Nur Minuten nach der Ankündigung, dass beim „Wir sind mehr“-Konzert in Chemnitz am vergangenen Montag nicht nur Casper und Marteria, sondern auch Kraftklub, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z und, als Headliner des Minifestivals, Die Toten Hosen auftreten würden, folgten erste Gegenstimmen. Ein Tenor, auch nach dem 3. September 2018: Schön und gut, das sowas nun auf die Beine gestellt würde, aber doch bitte erstens nicht bl0ß mit den üblichen Verdächtigen und zweitens ohne die nervigen Hosen, diese Mainstream-Moralapostel!

Ja: Die 1982 in Düsseldorf als kleine Punkband („Opelgang“) gegründeten Toten Hosen befinden sich seit Jahren auf dem kommerziellen Höhepunkt ihrer Karriere – künstlerisch relevant sind sie schon lange nicht mehr. Ihr Schlagerhit „An Tagen wie diesen“ ist von Dorfhochzeiten bis Parteitagen ein Gassenhauer, ein neues Album von ihnen stets ein ECHO-Garant – so lange es den ECHO noch gab. 

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Der Mainstream-Vorwurf aber läuft ins Leere: Musiker machen Musik, um gehört zu werden. Die Toten Hosen werden von sehr vielen Menschen gehört. Von Menschen, die vermutlich mehrheitlich das Herz am rechten Fleck haben. Ob das noch Punk ist oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Klingt absurd, ist aber wohl was dran: Weil manche Menschen, die Die Toten Hosen hören, vielleicht auch Helene Fischer hören, ist es gar nicht so schlimm, dass der Schlagerstar oder andere kommerziell erfolgreiche Deutschpopper trotz vorsichtiger Statements bislang nicht in Chemnitz gegen Rechts aufgetreten sind und es wahrscheinlich niemals werden: Die Hosen sind exakt der reichweitenstarke Mainstream-Act, der an verschiedenen Stellen als „Influencer“ gegen Fremdenhass und Gewalt gefordert wird. Zwar auch ein berechenbarer, aber einer, der seine Reichweite nicht nur nutzt, um allen zu gefallen.

Ein 26 Jahre alter Song von Die Toten Hosen, der erschreckend aktuell ist

Hosen-Sänger Campino positioniert sich immer wieder gegen diskriminierende politische Weltbilder. Zuletzt war er bei der ECHO-Verleihung der einzige Künstler, der sich gegen die zurecht kritisierte Auschwitz-Zeile von Farid Bang und Kollegah aussprach. Besonders eindrucksvoll hat er sich nun am Montagabend in Chemnitz positioniert – nicht etwa durch seine Ansagen („Es gibt keinen Unterschied an solchen Abenden. Ob du jetzt Hiphop machst oder Rockmusik oder sonst was. Und dann stehen wir vor Euch, sehen da irgendwelche Zehnjährigen rumlaufen und daneben irgendwelche 80-Jährigen. Und manche sind cool und manche sind uncool, aber eines haben wir alle gemeinsam: Gemeinsam gegen Rechts außen und diese Vollidioten!“) oder durch das „Schrei nach Liebe“-Cover mit Rod von Die Ärzte und Arnim Teutoburg-Weiß von den Beatsteaks, sondern durch die Wiederaufführung von Klassikern aus dem bandeigenen Repertoire.

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Ob „Sascha… ein aufrechter Deutscher)“, das Campino auf AfD-Politiker Björn Höcke bezieht, „Madelaine aus Lüdenscheid“ („Ich will dich, ich will dich, aber nicht bevor ich weiß: Gibt es irgendwelche Nazis in deinem Bekanntenkreis?“) oder „Willkommen in Deutschland“: Einige ihrer alten, teilweise über ein Vierteljahrhundert zurückliegenden, mitunter „punkigeren“ Lieder sind heute aktueller denn je. Besonders „Willkommen in Deutschland“, 1993 auf KAUF MICH! erschienen, ist so erschreckend aktuell oder wahlweise zeitlos, dass Die Toten Hosen für mindestens die 40 Minuten, die ihr Auftritt in Chemnitz dauerte, die plötzlich wieder relevanteste Bands des Abends, wenn nicht Deutschlands waren.

Die Toten Hosen – „Willkommen in Deutschland“ (1993, Live-Video):

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Die Toten Hosen – „Willkommen in Deutschland“ (Text):

Dies ist das Land, in dem man nicht versteht,
Dass FREMD kein Wort für feindlich ist,
In dem Besucher nur geduldet sind,
Wenn sie versprechen, dass sie bald wieder gehen.
Es ist auch mein zuhaus‘, selbst wenn’s ein Zufall ist
Und irgendwann fällt es auch auf mich zurück,
Wenn ein Mensch aus einem anderen Land
Ohne Angst hier nicht mehr leben kann.
Weil täglich immer mehr passiert,
Weil der Hass auf Fremde eskaliert
Und keiner weiß, wie und wann man diesen Schwachsinn stoppen wird.
Es ist auch mein Land,
Und ich kann nicht so tun, als ob es mich nichts angeht.
Es ist auch dein Land,
Und du bist schuldig, wenn du deine Augen davor schließt.
Dies ist das Land, in dem so viele schweigen,
Wenn Verrückte auf die Straße gehen,
Um der ganzen Welt und sich selbst zu beweisen,
Dass die Deutschen wieder die Deutschen sind.
Diese Provokation, sie gilt mir und dir,
Denn auch du und ich, wir kommen von hier.
Kein Ausländer, der uns dabei helfen kann,
Dieses Problem geht nur uns allein was an.
Ich hab keine Lust, noch länger zuzusehen,
Ich hab’s satt, nur zu reden und rumzustehen,
Vor diesem Feind werde ich mich nicht umdrehen.
Es ist auch mein Land,
Und ich will nicht, dass ein viertes Reich draus wird.
Es ist auch dein Land,
Steh auf und hilf, dass blinder Hass es nicht zerstört.
Es ist auch mein Land,
Und sein Ruf ist sowieso schon ruiniert.
Es ist auch dein Land,
Komm wir zeigen, es leben auch andere Menschen hier.

Setlist der Toten Hosen am 3. September 2018 in Chemnitz:

  • „Auswärtsspiel“
  • „Liebeslied“
  • „Madelaine (aus Lüdenscheid)“
  • „Unter den Wolken“
  • „Sascha …ein aufrechter Deutscher“
  • „Wünsch DIR was“
  • „Willkommen in Deutschland“
  • „Schrei nach Liebe (Mit Rodrigo Gonzaléz und Arnim Teutoburg-Weiß)“
  • „You’ll Never Walk Alone“