Wenn Neil Young auf Heinz Rudolf Kunze trifft: Archiv-Interview
Heinz Rudolf Kunze trifft Neil Young: Zum 80. Geburtstag von Young haben wir dieses Gespräch aus ME-Dezemberheft 1992 wieder hervorgeholt. Ein Deep Talk über Musik, Instinkt und Haltung.
Zurück ins Jahr 1992, in dem Heinz Rudolf Kunze für uns den folgenden Text verfasste …
Neil Young, 47 Jahre alt, unrasiert, betritt mit wiegendem Trappergang das Konferenzzimmer ELBE EINS des Hamburger Atlantic Hotels. Er trägt verblichene Jeans, ein schwarzes T-Shirt und eine weiche, hellbraune Fransenlederjacke, schüttelt mir die Hand und grinst über den Rand seiner Sonnenbrille: „Hi, Heinz! How are yer doin’?“ Was folgte, war eines der angenehmsten Gespräche meines Berufslebens — mit einem relaxten, verschmitzten, auf würdige Weise erwachsen gewordenen Haudegen und Helden.
Heinz Rudolf Kunze: Der geübte Neil-Young-Hörer weiß, dass es Brüche, Widersprüche und irritierende Kurswechsel in Ihrer Arbeit gibt. In den letzten Jahren allerdings haben Sie vier Alben veröffentlicht, die doch eine ganze Menge gemeinsam haben: „Eldorado“, „Freedom“, „Ragged Glory“ und „Arc Weld“. Mir scheint, mit „Harvest Moon“ vollziehen Sie nun die drastischste Kehrtwende Ihrer gesamten Karriere. Wie kam es dazu? Haben Sie mit „Weld“ das Ende eines bestimmten Entwicklungsstrangs erreicht?
Neil Young: Ich habe die elektrische Seite meiner Musik bis zu einem gewissen Endpunkt getrieben. Die „Ragged Glory“-Tour durch die USA fand während des Golfkriegs statt. Es war eine bombastische Show mit gewalttätigen Obertönen; die Energie der Leute und unsere eigene schaukelten sich gegenseitig hoch bis an die Grenze des Erträglichen. Ich beschloss, diese Art von Musik nicht weiterzuverfolgen, es erschien mir nicht steigerbar. Außerdem brauchte ich Ruhe, ich konnte diese Art der Musikausübung physisch nicht mehr aushalten. Manchmal nahm mich die Lautstärke dermaßen mit, dass ich Angst bekam, zu hyperventilieren und ohnmächtig zu werden. Noch lange nach der Tour kamen mir alle Geräusche meiner Umgebung furchtbar laut vor.
HRK: Werden wir dieses donnernde „Weld“-Konzept hierzulande jemals live sehen können?
Young: Kann durchaus sein. Ich weiß nicht genau, was ich als Nächstes mache: Ob ich mit dem „Harvest Moon“-Programm und den Stray Gators rüberkomme oder schon wieder mit einer neuen Idee.
HRK: Ist der Titel „Harvest Moon“ mit seiner Anspielung auf Ihr kommerziell erfolgreichstes Album nicht eine ziemlich große Bürde?
Young: Nein, die Platte ist eine Fortsetzung, eine neue Auseinandersetzung mit den Themen von „Harvest“, mit den Erfahrungen aus 20 vergangenen Jahren. Außerdem sind es die gleichen Musiker. Alles fing an mit einem Song, den ich 1975 begonnen hatte; 1991 erst wurde er fertig. Die anderen Songs passten gut zu ihm, und als ich mich fragte, mit wem ich die Platte aufnehmen wollte, fielen mir die gleichen Leute wie damals ein. Wir fühlten uns wohl miteinander, nach 20 Jahren Pause. „Harvest Moon“ war zunächst nur ein Songtitel, aber dann wurde mir klar: Dies ist die Platte, die das Publikum seit 20 Jahren von mir erwartet hat. So wurde „Harvest Moon“ zur Hauptidee: Ich wollte abbilden, wie ich mich heute fühle.
HRK: Also fühlen Sie sich zurzeit eher relaxt, ausgeglichen?
Young: Ja.
HRK: Lange Zeit, besonders während der 80er Jahre, waren Sie nicht bereit, die Erwartungen Ihres Publikums zu erfüllen. Warum? Fühlten Sie sich missverstanden, aus den falschen Gründen geliebt?
Young: Ich habe nie geglaubt, den Leuten das geben zu können, was sie von mir erwarten. Hätte ich’s versucht, hätte es nicht geklappt.
HRK: Hatten Sie vielleicht sogar im Hinterkopf, das Publikum zu erziehen, indem Sie ihm ein Beispiel von Eigensinnigkeit und Unbeugsamkeit gaben?
Young: Ich erziehe mich selbst. Ich lerne, meinen Instinkten zu folgen. Anders hätte ich meine Arbeit nicht machen können. Ich habe keinen Plan. Keine Ahnung, was ich als Nächstes tue. Zurzeit habe ich keine neuen Songs im Kopf — eine sehr erfrischende Situation.
HRK: Macht Ihnen Ihr „planloses“ Vorgehen nicht manchmal Angst?
Young: Überhaupt nicht. Es ist sehr befriedigend. Irgendwann setze ich mich wieder hin und fange an zu schreiben, das weiß ich.
HRK: Ich unterhielt mich mal mit Randy Newman über dieses Künstlerproblem. Er sagte, manchmal wäre er lieber Automechaniker oder Fleischermeister, weil die etwas gelernt haben, was sie Tag für Tag anwenden können — da gibt es nicht diese regellose Unsicherheit, die das Künstlerleben ausmacht.
Young (grinst vielsagend): Na ja, meistens schwirrt schon irgendwas durch den Hinterkopf. Im Moment aber habe ich tatsächlich nichts vor. Das Album ist fertig, und das war’s. So kann ich endlich mal wieder an meinen Archiven arbeiten …


