Albert Mangelsdorff – Der nimmermüde Posaunenweltmeister


Einmal, es war in Altena bei einer Gesprächsrunde von Musikern und Kritikern, standen wir alle nach dem Tagungsprogramm am Tresen. Irgendjemand vermißte Albert Mangelsdorff. Ein anderer wußte Bescheid: Er habe den Albert mit einem langen Richtmikrophon durch den nächtlichen Wald schleichen sehen, berichtete er mit leicht spöttischem Augenzwinkern. Albert kam kurz darauf herein, packte sein Tonbandgerät auf die Theke und

meinte: „Die Vögel sind die besten Musiker“. Wir müssen ziemlich dämlich aus der Wäsche geschaut haben. Er spulte sein Band zurück und spielte uns vor, was er im Wald aufgenommen hatte: Vogelstimmen, zunächst in der Aufnahmegeschwindigkeit, später mit halber und schließlich mit einem Viertel der Geschwindigkeit.

Jetzt hörten wir, was er gemeint hatte: Was da vom Band kam, kannten wir doch. Von Alberts erster Soloplatte „Trombirds“.

Auf „Trombirds“ gibt es ganze Passagen, die wie mit verringertem Tempo abgespieltes Vogelgezwitscher klingen. Klänge, die vor Mangelsdorff noch kein Posaunist seinem Instrument entlockte. Kein Wunder, daß er seit Jahren als der „beste Jazzposaunist der Welt“ gilt. „Posaunenweltmeister“ nennt man ihn gerne. Daß in diesem Jahr die vom englischen „Melody Maker“ befragten Kritiker beim ersten Jazzpoll des Fachblattes ihn auf den ersten Platz bei den Posaunisten setzten, überraschte deshalb nicht sonderlich. Schließlich behauptet Mangelsdorff schon seit 15 Jahren – länger als jeder andere Musiker, der nicht in den USA lebt – seinen festen Platz im renommiertesten Poll auf dem Jazzsektor, dem der amerikanischen Zeitschrift „downbeat“.

Schon 1962, als Albert längst noch nicht zu seinem aufsehenerregenden mehrstimmigen Soloposaunenspiel gefunden hatte, reihte ihn John Lewis – Gründer, Pianist und Kopf des Modern Jazz Quartetts – unter die drei führenden Posaunisten des Jazz ein und stellte den Frankfurter noch im gleichen Jahr mit dem Album „Animal Dance“ einem internationalen Publikum vor.

Gleichwohl hat die Jazz-Karriere von Albert Mangelsdorff relativ spät begonnen. Der Sproß einer Musikerfamilie bekam in den frühen 40iger Jahren zwar schon als Dreikäsehoch Kontakt zur damals im Untergrund operierenden Jazzszene: Sein älterer Bruder Emil spielte damals in Frankfurter Swingkreisen – und übrigens auch heute noch – eine respektable Klarinette im Stile eines Benny Goodman. Albert fing Feuer – doch bis zur Posaune war es noch weit.

Albert fing Feuer und brannte mit einer Geige durch

Von da an gewann Albert alle deutschen Jazzpolls in der Kategorie Posaune, wechselte sich von Jahr zu Jahr mit Koller auf dem Platz des „Musiker des Jahres“ ab. In den letzten Jahren dieses Polls beherrschte er diese Position unangefochten. Die Zusammenarbeit mit Koller dauerte bis Ende 1954, doch auch später spielten die beiden immer wieder zusammen. 1956 gründete Albert mit seinem Bruder Emil – der hatte sich mittlerweile zu einem mitreißenden Altsaxofonisten moderner Prägung gemausert -, dem jugoslawischen Trompeter Dusco Gojkovic, dem Tenorsaxofonisten Joki Freund und einer Rhythmusgruppe die „Frankfurt Allstars“. Diese Formation besteht mit einigen Umbesetzungen noch heute als „Jazzensemble des Hessischen Rundfunks“. Als 1958 der amerikanische Arrangeur Marshall Brown für das größte Jazzfestival der Welt in Newport eine Bigband aus europäischen Nachwuchstalenten zusammenstellte, war es von vornherein klar, daß Albert als deutscher Vertreter dabei sein würde.

Kluge, zupackende Improvisationen

Drüben in Amerika erlebte der bis dahin auf intellektuellen Cooljazz eingeschworene Deutsche die neuen, vitalen Hardbobgruppen der schwarzen Jazzmusiker Thelonius Monk und Miles Davis. Fortan war auch sein Spiel zupackender. Der Hard Bop hielt in Europa seinen Einzug. Alberts pianoloses Quintett mit drei Bläsern, Baß und Schlagzeug wurde zur wichtigsten Gruppe dieser neuen Spielweise außerhalb der USA. Das Quintett, nach einigen Wechseln 1961 mit den Saxofonisten Heinz Sauer (Tenor-, Sopransax), Günter Kronberg (Alt- und Baritonsax), Günter Lenz (Baß) und Ralf Hübner (Schlagzeug) besetzt, bestand dann immerhin zehn Jahre unverändert. Auf ausgedehnten Auslandstourneen, unter anderem in den nahen und fernen Osten, wurden immer wieder die dichten, hart zupackenden, aber trotzdem klug durchdachten Kollektiv-Improvisationen der Musiker bewundert – und natürlich auch Alberts immer raffinierter werdende Posaunentechnik, die er sich im stundenlangen täglichen Üben angeeignet hatte. Drei Langspielplatten zeugen von der hunderprozentigen Übereinstimmung der fünf Musiker. Dennoch wurde die Gruppe noch forscher, als 1970 Günter Kronberg ausschied, weil er den Weg in die freieren Spielformen nicht mitmachen wollte. Die Platte „Never Let It End“, die im Quartett aufgenommen wurde, gehört noch immer zu den besten Mangelsdorff-Platten und zu den stärksten Jazzaufnahmen der letzten Jahre überhaupt.

1972: Ein wichtiges Jahr für Albert. Die Kontakte zu dem ungebärdigen Peter Brötzmann, dem „enfant terrible“ des deutschen Jazz, werden stärker. Immer wieder spielt der sensible Mangelsdorff mit dem proletisch brachial daherröhrenden Freejazz-Saxofonisten aus Wuppertal zusammen. Jazzpapst Joachim Ernst Berendt zieht anläßlich der Olympiade in München das erste Konzert der Jazzgeschichte auf, bei dem alle Musiker als unbegleitete Solisten auftreten. Albert Mangelsdorff verblüfft durch sein mehrstimmiges Spiel. Indem er einen Ton bläst, einen zweiten dazu singt, läßt er zusätzlich Obertöne hörbar werden. Vollmundige Akkorde, die besonders in bluesigen Phrasen gut zur Geltung kommen, kennzeichnen fortan seinen Stil. Albert gibt immer mehr Solokonzerte. Seine reguläre Gruppe wird entscheidend umbesetzt. Nur Heinz Sauer bleibt. Als zweiter Saxofonist kommt Gerd Dudeck hinzu, der sich im Manfred Schoof Quintett in die erste Reihe der deutschen Freejazzer gespielt hatte. Buschi Niebergall (Baß) – auch er kam aus der Schoof-Gruppe – und der Schweizer Peter Giger (am Schlagzeug) vervollständigten das Ensemble.

Eine heiße Scheibe mit dem Wunderdrummer Elvin Jones

Doch die Geschlossenheit der alten Gruppe scheint verloren. Bei Konzerten sind die Musiker oft allzu launisch. Einmal hervorragend, einmal einfallslos. Kein Wunder, daß Albert immer öfter für Solokonzerte (vor allem seit 1973 „Trombirds“ auf den Markt kam) gebucht wurde oder bei Peter Brötzmann einstieg. „Birds of Underground“, die einzige Platte dieser Formation, steht weit hinter den anderen zurück. Ganz heiß dagegen die Scheibe, die Albert 1975 mit dem amerikanischen Superschlagzeuger Elvin Jones und dem norwegischen Wunderbassisten Palle Danielson aufnahm.

Zu Alberts phänomenaler Solotechnik, mit mehrstimmigen Sätzen und Improvisationen, gesellt sich hier eine gleichermaßen treibende wie humorvolle Rhythmusgruppe. Man höre sich nur mal Ellingtons „Mood Indigo“ auf diesem Album an.

Überhaupt, Alberts traditionsbewußtes Erbe ist zu diesem Zeitpunkt wieder stärker in den Vordergrund getreten. Nach den Forschertagen des Freejazz faßt er jetzt ganz selbstverständlich alle erdenklichen Musizierpraktiken in seinem Spiel zusammen, spielt in der Freejazzatmosphäre des „Globe Unity Orchesters“ genauso inspiriert wie als Solist oder im Rockkontext von Wolfgang Danners „United Jazz- und Rockensemble“ mit Colloseum-Drummer John Hiseman; spielt ebenso zu den Synthesizer-Klängen, die in seiner neuen Gruppe „MuMPS“ mit Stu Martin (Schlagzeug), Barre Philips (Baß) und John Surman (Bariton-, Sopransax, Baßklarinette und Synthesizer) verwendet werden. Selbst ein so verhementer Disco-Jazz-Drummer wie Alphonze Mouzon kann ihn nicht schrecken. Wer den Auftritt der beiden zusammen mit „Weatherreport -Bassist Jaco Pastorius bei den letzten Berliner Jazztagen miterlebt hat, ist sicher schon scharf auf den Mitschnitt, der demnächst auf Platte erscheinen wird.

Inzwischen tanzt der Posaunenweltmeister, gerade 49 geworden, auf mehreren Hochzeiten. Er hat mit Heinz Sauer, Günter Lenz und Peter Giger ein neues (fast altes) Quartett formiert, spielt bei „MuMPS“ eine tragende Rolle, gibt Solokonzerte und hilft jungen Kollegen auf die Sprünge. So kürzlich auf einem Posaunenworkshop in Boston, wo die besten Posaunisten aller musikalischen Stile, von der Klassik über die neue Musik bis zum Jazz und Rock, dem Nachwuchs ihre Geheimnisse verrieten.