Der goldene Reiter


Der Umsatz-Boom mit Wiederveröffentlichungen auf CD ist vorbei, in der Plattenindustrie macht sich Katerstimmung breit. Die Manager reagieren mit ihrer eigenen Logik: Anstatt das Geschäft mit Preissenkungen zu beleben, setzen sie auf heftige Verteuerung. 50 Mark für eine CD — ME/Sounds-Mitarbeiter Volker Schnurrbusch fingerte das Horror-Szenario für den Konsumenten aus den Schubladen der Platten-Bosse.

Der Backer tut es, der Busfahrer tut es, ja sogar der Müllmann tut es — und der Tankwart versucht es immer wieder. Sie alle überraschen ihre Kunden in regelmäßigen Abständen mit gestiegenen Preisen für Brötchen, Fahrscheine, saubere Ascheimer und kraftvolle Sprit-Liter. Ab diesem Herbst müssen die Verbraucher auch für ein hochwertiges Gut mehr bezahlen — die Compact Disc. Für neue Veröffentlichungen gilt dann ein Aufschlag von ein bis zwei Mark.

Doch es soll noch dicker kommen: Marschrichtung heute: 3 5 Mark.

Nächste Etappe: 40, Endziel 50 Mark. Als Thomas Stein, Vorsitzender des Phono-Verbandes, die Parole ausgab, eine CD müsse eigentlich einen halben Hunderter kosten, brach ein Sturm der Entrüstung los. Schallplattenhandel und Verbraucherverbände wiesen diese Forderung — dafür sind sie ja da — als geradezu unverschämt zurück. Dabei hatte Stein (als Sprecher der Industrie) doch, wie er sagt, vor allem den Stellenwert der CD als Kultur- und nicht als bloßen Tonträger im Sinn. Außerdem wurmte es den publicity-freundlichen Manager schon lange, daß die Schallplatte als Kultur-Gut in der Öffentlichkeit ein relativ geringes Image habe. Getreu dem Motto „Was nichts kostet, ist auch nichts wert“ würdige der Verbraucher die Scheibe weitaus geringer als zum Beispiel das Buch.

Ein Ziel, „einen Bewußtseinsprozeß“ in Gang zu bringen, hat Stein mit seinen Äußerungen bereits erreicht. Ob er sich dadurch Sympathien bei seinen potentiellen Kunden verschafft hat, steht auf einem anderen Blatt. Denn diese sind verwohnt:

Seit Einführung der CD 1983 hat sich ihr Verkaufspreis eher nach unten bewegt. Wenn es eine marktwirtschaftliche Lektion gibt, die Otto Normalverbraucher gelernt hat, dann ist es diese: Neue Technologien werden auf hohem Preis-Niveau eingeführt, um dann in immer schnelleren Zyklen im Preisstrudel abzutauchen. Genau dieser Mechanismus führte dazu, daß CD-Player inzwischen nicht mehr als 300 Mark kosten müssen. Kein Wunder, wenn der Käufer bei der Software die entsprechende Entwicklung erwartet.

Doch dieser Wunschtraum droht nun endgültig zu zerplatzen. Die Branche ist sich einig: Ihr bestes Pferd im Stall muß teurer werden. Von Preisabsprachen soweit entfernt wie die Mineralölindustrie, haben alle fünf großen Platten-Konzerne in diesem Jahr ihre Abgabepreise erhöht. Moderat zunächst — zwischen zwei und vier Prozent. Die Polygram preschte schon im Januar vor, die EMI ließ noch etwas Gnade walten, damit sich der Handel für Weihnachten noch zu den alten Konditionen eindecken konnte.

Doch schon droht die nächste Welle. Die Plattenfirmen wollen sich künftig an Inflationsraten und Lebenshaltungskosten orientieren. Damit ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die CD-Preise im jährlichen Turnus angehoben werden. Polygram-Chef Wolf D. Gramatke: „Die Preisanpassung muß zur Selbstverständlichkeil werden. “ Gerüchte aus dem Handel, wonach die Polygram noch in diesem Jahr — wieder als erste Company — die nächste Preisstufe erklimmen will, weist Gramatke zurück: „Das wäre notwendig, ist aber nicht durchsetzbar. Da viele europäische Währungen derzeit sehr schwach sind, ist die Gefahr von Bil-Hg-Importen zu groß. „

Doch nicht nur wegen des Tauschkurses von Pfund, Lira und Peseta klemmt die Preisschraube. Für Sand im Gewinde sorgt der Platten-Handel. Die meisten der kleinen und mittleren Fachgeschäfte darben schon seit Jahren am Rande des Existenzminimums. Nach einer Untersuchung des Kölner Unternehmensberaters Peter Schmitt-Sausen (Clearing-Stelle für den Tonträgermarkt) werfen viele dieser Läden „null Prozent Gewinn, ja noch nicht einmal Verdienst für den Unternehmer“ ab. Vor 15 Jahren gab es in Deutschland noch 19.500 Plattenläden, bis heute haben gerade mal 7.000 überlebt. Angesichts steigender CD-Preise befürchten die verbliebenen Händler nun. daß ihre Umsatzmacher Staub ansetzen.

Die Gefahr ist real, zumal der Abstand zwischen Fachgeschäft und SB-Markt immer größer wird. Warenhäuser, Verbrauchermärkte und Fachmarkt-Ketten für Unterhaltungselektronik benutzen die CD schon lange als Lockvogel-Angebot. In großformatigen Anzeigen werden neue CD’s für 20 Mark angepriesen. Problemlos verzichten große Handelshäuser hierbei auf ihre Gewinnspanne, verkaufen Tonträger zum Einkaufspreis oder sogar darunter.

Wo der Mittelständler mit dem Pfennig rechnet, macht der Chef-Einkäufer vom Mediamarkt einen lässigen Strich in seiner Kalkulation und verbucht den Mini-Verlust unter Werbungskosten. Hauptsache, der angelockte Kunde hat sich zur CD noch einen Player gekauft.

Dazu kommt, daß der Handel ohnehin durchhängt. Bodo Bochnig vom Fachhandelsverband beziffert den Käuferschwund auf „zehn Prozent im ersten Halbjahr 1992“. Das verlangsamte

Wirtschaftswachstum, die steigende Inflationsrate und nicht zuletzt der extrem schöne Sommer haben der gesamten Branche einen Hanger beschert. BMG-Chef Thomas Stein fällt jedoch den Schwarzsehern gerne ins Wort: „Viele Händler wären gut beraten, wenn sie mit dem Wehklagen aufhören und stattdessen neue Wege der Warenpräsentation beschreiten würden. Das Beispiel ,wom‘ zeigt, daß der Verbraucher höhere Preise akzeptiert, wenn er daßr Service bekommt. „

Die Industrie kann ohne eine gesunde Mischung von Handelsformen nicht auskommen: „40 Prozent der Bevölkerung sind Gelegenheitskäufer“, weiß Peter Schmitt-Sausen, „die Schallplatten oftmals als Geschenk verwenden. Für diese Zielgruppe, die ein Drittel des Umsatzes trägt, muß die Schallplatte leicht verfügbar sein. Wenn die kleinen und mittleren Läden aujkrhalb der Ballungszentren aufgeben müssen, verliert die Branche einen wesentlichen Teil dieser Käuferschicht. „Eine Konzentration auf wenige, große Ladenketten und Kaufhäuser birgt eine noch viel größere Gefahr: „Die verbleibenden seclis Ketten könnten dann die Preise selbst bestimmen. „

„Günstig, günstig“, mag sich der Konsument da denken. „Große Häuser, kleine Preise, viel Scheiben für wenig Geld.“ — „Genau“, ruft der Branchenkenner, „die Plattenfirmen sollen sich gefälligst mit Preiserhöhungen zurückhalten. Schließlich haben sie sich an der CD gesundgestoßen. Irgendwo müssen die Gewinne doch geblieben sein!?“

Stimmt. Seit die CD der stagnierenden Branche vor zehn Jahren einen lebensnotwendigen Schub gab, erlebten große wie kleine Unternehmen einen neuen Frühling. Allein die Wiederveröffentlichung des vorhandenen Repertoires auf CD verschaffte den Plattenfirmen leicht verdientes Geld. Bis zum Ende „92 werden voraussichtlich 120 Millionen CD’s verkauft sein. Die Branche erzielte 1991 vier Milliarden Mark Umsatz — elf Prozent mehr als im Vorjahr. Bisher stehen in 40 Prozent der deutschen Haushalte CD-Player — Tendenz steigend.

Die gute alte Vinyl-Schallplatte wurde gnadenlos aus den Läden gedrängt — nicht, weil der Verbraucher sie nicht mehr wollte, sondern weil die Industrie mit der CD mehr Gewinn erzielen konnte. Innerhalb weniger Jahre mußte sich der Musik-Fan daran gewöhnen, für dieselbe Menge an Musik eine ganze Menge mehr Geld auf den Tresen zu legen. Und nun soll es auch noch — möglichst regelmäßig — Preiserhöhungen geben, ohne daß man auf einen günstigeren Tonträger ausweichen kann?

Schlechte Nachrichten besonders für die jüngeren Käufer mit schmalen Geldbeuteln. Für ein festes Sound-Budget von 60 Mark pro Monat waren vor einem Jahr noch drei LP’s zu haben, vor einem hal“ ben Jahr noch zwei CD’s und demnächst reicht’s dann nur noch für eine Longplay- und eine Maxi-CD. Kein Wunder, daß die Käufer stärker auswählen: Außer den Bestsellern und den Billigheimern verkauften sich fast alle Produktlinien schlechter als im Vorjahr.

Durch den schnell steigenden CD-Anteil am Tonträgermarkt kann die Industrie zwar immer noch Gewinnzuwächse einstreichen, aber nun klingeln die Alarmglocken auf den Chef-Etagen. Um auch in Zukunft trotz mangelnder Nachfrage gute Geschäfte machen zu können, setzen die Großen Fünf (BMG, EMI. Polygram, Sony und WEA) auf höhere Preise. Sollten diese zu noch weniger Nachfrage führen, müßten nach heutiger Industrie-Logik die Preise noch weiter angehoben werden. Das klingt zwar wenig kaufmännisch, scheint jedoch bittere Realität zu werden.

Kann es im Interesse der Industrie sein, immer weniger Scheiben zu immer höheren Preisen zu verkaufen? Noch gibt man sich ¿

kämpferisch. WEA-Chef Gerd Gebhardt: „Wenn die Kids 150 bis 200 Mark für Jeans oder Turnschuhe ausgeben können, sollten sie auch in der Lage sein, etwas mehr für Schallplatten hinzulegen. Trotz enorm gestiegener Eintrittspreise sind die Konzerte der Stars gut gefüllt. Niemand beschwert sich, daß er heute mindestens 50 Mark für eine Karte zahlen muß. „

Unstrittig ist, daß jede neue Platte bekannter Künstler ihre Käufer findet. Nicht umsonst kleben die US-Firmen ihre neuen 17-Dollar-Preisschilder zuerst auf die brandneuen CD’s von Madonna, Michael Bolton und Country-Superstar Garth Brooks. Sie rechnen damit, daß sich ein Top-Produkt problemlos auch etwas teurer verkaufen läßt. Thomas Stein kann sich dies auch für den deutschen Markt vorstellen: „Produktionen eingeführter Interpreten könnten zu einem höheren Preis verkauft werden als die von Newcomern. Eine neue Michael Jackson-CD kann auch für 39 Mark erfolgreich vermarktet werden.“

Von einer Zweiklassen-Gesellschaft will die Industrie nicht sprechen: „Wir glauben nicht daran, daß Schallplatten von weniger bekannten Interpreten nur deswegen mitgenommen werden, weil sie ein paar Mark günstiger sind“, sagt Gerd Gebhardt, „außerdem hat dieses Modell in den USA nicht funktioniert.“ Auch Michael Anders, Geschäftsführer der BMG Ariola Hamburg (sprich: RCA), sieht die Gefahr, daß man neue Künstler und ihre Werke durch niedrigere Preise abwerten könnte:

„Sonderpreise für Newcomer sind nur im Rahmen eines ganzheitlichen Marketing-Konzeptes durchsetzbar.

Dazu gehört, daß man einen Künstler mit einer starken eigenen Identität promotet und den Sonderpreis für seine Platte auch bekanntmacht. Sonst könnte der Handel auf den ermäßigten Abgabepreis einfach eine höhere Gewinnspanne aufschlagen, und der Effekt wäre dahin.“

Im Independent-Bereich scheint diese Form von Special Marketing dagegen bereits zu funktionieren: Gun Records aus Witten veröffentlicht in der Serie „Gun-Rise“ (von BMG vertrieben) CD’s von neuen Hardrock-Truppen zum „Entdeckerpreis“ von maximal 25 Mark. Dafür bekommt der Fan 30 bis 40 Minuten Musik, vergleichbar der Laufzeit der alten Vinyl-LP. Wolfgang Funk von Gun Records:

„Ich glaube, daß wir so das Interesse der Fans an neuen Bands wecken können. „

Daß „Entdeckerpreise“ für CD’s gerade in der Hardrock-Sparte aufkommen, ist kein Zufall. Die Fans der schwereren Kost waren dem Vinyl besonders treu. Die Ausmusterung der schwarzen Scheibe brachte hier die ärgsten Einbrüche. Schon haben sich sechs Indie-Label unter dem Namen „Interpol“ zwecks Existenzsicherung zusammengeschlossen. Und Manfred Schütz von SPV konstatiert:

„Die Stückzahlen gehen runter, daß es nur so rauscht. Fragen Sie mal, was aus Bands wie Bonfire, Victor} 1 und Thunderheadgeworden ist! Von unserer Metal-Band Risk konnten wir bisher regelmäßig 20.000 bis 25.000 LP’s verkaufen; seit wir nur CD’s absetzen können, ist die Zahl auf 10.000 Stück gesunken. „

Auch SPV setzt auf preisgünstigere CD’s. Unter dem Motto „PC 77“ bieten die Hannoveraner nicht nur Newcomer-Bands für 20 bis 25 Mark pro 40-Minuten-CD an. „Wir müssen an die Acts von morgen denken“, mahnt Schütz, „die Preiserhöhungen der Industrie sind kurzsichtig; durch diese Fehlentscheidung wird ein ganzer Markt kaputtgemacht. „Zu den Motiven der Großkonzerne hat Schütz seine eigene Theorie: „Zuerst hat die Industrie die LP künstlich abgewürgt, indem sie dem Handel das Remissionsrecht gestrichen hat. Jetzt hat man die Preise für CD ’s erhöht und ab nächstes wird die DCC (Digital Compact Cassette) zu einem Preis eingeführt, der unter dem der CD liegt, um so dieses neue Format im Markt zu etablieren.“

Haben die Plattenkäufer also unter einer Verschwörung zu leiden? Die Plattenfirmen können sich zu Recht aufgestiegene Kosten berufen: Studios, Videos, Anzeigen, Löhne und Lizenzen — alles wurde teurer.

Allein die Herstellung der Scheibchen wurde günstiger — die Preßkosten machen nur etwa 2,70 Mark aus. Die Platten selbst werden also nicht teurer, wohl aber die Musik auf ihnen.

Auf der anderen Seite wurde die Branche nicht müde, immer neue Umsatzrekorde zu melden, die der CD zu verdanken seien. Sind die daraus resultierenden Gewinne so gering, daß nur noch eine Preiserhöhung Rettung bringen kann? Warum zahlt dann der Time-Warner-Konzern Madonna und angeblich auch Prince 100 Millionen Dollar für ihre künstlerischen Ergüsse?

Die glorreiche Ära der CD hat in Wahrheit nur eine strukturelle Schwäche der Tonträgerindustrie verdeckt. Die enormen Gewinne, die sich durch das Versilbern von Archivmaterial ansammelten, wurden zu einem großen Teil dazu benutzt, um große Stars noch größer zu machen und um auf der anderen Seite jeden „Künstler“ unter Vertrag zu nehmen, der ein Mikro mit einer Hand halten konnte. Das Gießkannenprinzip, nach der die Industrie in jeder neuen Musiksparte hektisch nach dem „next big thing“ fahndete, verursachte eine unüberschaubare Schwemme von Veröffentlichungen in immer spezialisierteren Genres. Immer mehr Künstler verkauften immer weniger Platten. Auf diese Weise wurden Millionensummen vernichtet. Der CD-Boom finanzierte diese Verschwendung.

Als Anfang 1992 der Nachrüstbedarf an CD’s verebbte und die Impulse aus den fünf neuen Ländern schwächer wurden, wechselte der Goldrausch der Industrie schnell in Katerstimmung. Alte Gebrechen wurden wieder sichtbar: Zum Beispiel der Umstand, daß nur ganze zehn Prozent der deutschen Bevölkerung regelmäßig Schallplatten kaufen und es Anzeichen dafür gibt, daß Kleidung, Kosmetik und Computerspiele immer mehr vom Taschengeld der Kids beanspruchen.

Statt nun aber an der Preisschraube zu drehen, könnte die Industrie auch die Kostenspirale bremsen. Wie? Durch Gesundschrumpfen. Michael Anders packt das heiße Eisen an: „Der Markt ist überschwemmt worden, es gab zuviele mittelmäßige Acts. Wir müssen wieder stärker selektieren und dabei auf Qualität achten. Diese Gruppen sollte man dann mit großem Engagement in A & R, Marketing und Vertrieb unterstützen.“

David Geffen, Inhaber des gleichnamigen US-Labels, demonstrierte der ganzen Branche, daß er so unterschiedlichen Künstlern wie den „Hasbeens“ Cher und Aerosmith oder den „No-Names“ Nirvana dank ausgeklügelter A&Rund Marketing-Konzepte weltweiten Erfolg bescherte.

„Klasse statt Masse“ lautet das Gebot der Stunde. Durch eine konsequente Bescheidung auf Qualitätsware könnte die Industrie eine Menge Geld sinnvoller einsetzen. Ob sie dann die ungeliebte Krücke der Preissteigerung noch nötig hat, ist fraglich.

Egal, wie der Markt reagiert — die nächste Preiserhöhung steht schon fest: Ab 1. Januar 1993 kostet jede Vollpreis-CD mindestens 30 Pfennige mehr. Doch der schwarze Peter steckt weder bei Industrie noch Handel. Vater Staat hebt an diesem Tag die Mehrwertsteuer auf 15 Prozent.