Der Letzte Vulkan


Ein Dämon stecke in ihr, meint Cianna Nannini. Ein kleiner Teufel, der sie ständig dazu zwinge, gegen Sitte und Ordnung Sturm zu laufen. ME/Sounds besuchte die explosive Dame in ihrer Heimatstadt Siena.

SSiena, mitten im Herzen der Toscana gelegen, ist mit seinen römischen Fundamenten und mittelalterlichen Türmen für Liebhaber der italienischen Architektur ein Mekka. Aber diese Stadt, die man hierzulande allenfalls als Heimat des Chianti Classico kennt, scheint ihre Kultur und Tradition gegen die saisonbedingte Flut der Touristen zu verteidigen. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man an einem Frühsommertag über die Piazza del Campo spaziert und ausnahmslos auf Einheimische trifft.

Hier erblickte Gianna am 14. Juni 1956 als zweites von drei Kindern einer gutbürgerlichen Bäckerfamilie das Licht der Well. Während ihrer Schulzeit muß sie im elterlichen Betrieb mitarbeiten; die Eltern versuchen sie von vornherein in die traditionelle Rolle der italienischen Frau zu drängen.

Hinter der beengenden Fassade schafft sich Gianna aber schon früh einen Freiraum — mit Hilfe der Musik. Stundenlang sitzt sie am Klavier und arbeitet an eigenen Liedern. „Die Songs waren meine Freunde, das Piano mein Psychoanalytiker. So habe ich die Zeit bis zum Abitur überlebt“.

Nach dem Schulabschluß will Vater Nannini natürlich, daß die Tochter in der Panforte- (ein Mandelgebäck) Konditorei einsteigt, doch diesen Wunsch macht Gianna schnell zunichte: mit einem Betriebsunfall, bei dem zwei Fingerkuppen ihrer rechten Hand abgetrennt werden. „Dieser Unfall war wirklich der letzte Vom and, von zuhause wegzukommen. Meine Eltern haben mir das Leben geschenkt, aber ME/SOUNDS 55

ich wollte ihnen nicht mein eigenes Leben opfern.“

Lassen wir es also dahingestellt, ob sie diesem Unfall nicht vielleicht unbewußt ein wenig nachgeholfen hat, sie bricht jedenfalls von zuhause aus. Erste Station ist Turin, wo sie ein Musik- und Philosophiestudium beginnt. Rockmusik ist zu jener Zeit ein Fremdwort für sie; Beethoven und Puccini sind ihre Favoriten und bereits nach zwei Semestern geht sie nach Mailand, weil man dort auch Komposition studieren kann. „Es war eine Befreiung. Mailand ist die einzige Stadt in Italien, in der eine Frau leben und arbeilen kann wie ein Mann.“

Kaum zu glauben ist die Tatsache, daß G.N. erst zu jener Zeit, also Mitte der 70er Jahre, die sogenannte Rockmusik kennenlernt. „Ein Jelhro Tull-Konzeri in Mailand war das einschneidende Erlebnis. Es war wie eine zweite Geburt. Auf meinen Erkundungszügen durch Plattengeschäfte entdeckte ich u.a. Janis Joplin und Olis Redding und war total begeistert. Es war totales Neuland für mich. Ich kannte nicht mal die Rolling Stones. „

Was sich aber sehr bald ändern sollte. G.N. streifte nun regelmäßig durch die Clubs von Milano und lernte die italienische Szene kennen. Vor allem gab es da jene Gruppe, die für mehr als ein Jahrzehnt den Italo-Rock prägte: PFM (Premiata Formiera Marconi). Einigen Musikern dieser Band fiel Gianna während eines Auftrittes für das „Movimento della Donne“, der italienischen Frauenbewegung, auf. Es kam zu einer langfristigen Zusammenarbeit, deren Endprodukt 1978 die LP UNA RADURA war. Der Rockstar Nannini war geboren, zumindest Tür Italien.

Doch das reichte ihr nicht. Rock’n‘-Roll, das war in ihrer schwärmerischen Vorstellung Amerika. „Ich dachte, dort würde ich meine Freiheil finden. Das stellte sich jedoch sehr bald als Unsinn heraus. Ich konnte mit diesem merkwürdigen Land überhaupt nichts anfangen und flog nach sechs Wochen enttäuscht zurück. Aber den Rock’n’Roll habe ich dort kennengelernt. Nun konnte ich herausschreien, wasmirwehtat, was mir auf die Nerven ging — was aber auch alle anderen angehen sollte.“

Und das tat sie 1980 mit einem Donnerschlag, der — allen Zensurversuchen zum Trotz — an den Grundfesten italienischer Moralvorstellungen rütteln sollte. Die Rede ist von der LP CALIFOR-NIA und insbesondere dem Track „Amerika“. Der zwar auch in Deutschland ein Hit wurde, hier jedoch zunächst einmal gründlich mißverstanden wurde. „Bei euch dachten sicher die meisten, dies sei eine Hymne auf Amerika. Ich aber habe den Begriff Amerika lediglich als Symbol für Freiheit gebraucht und letztlich meine Muschi gemeint. Diese zu streicheln ist meine Freiheit — und keineswegs nur ein auf Frauen begrenztes Problem. Alle Menschen onanieren — und alle haben auch ein Recht dazu. „

Klar, daß solche Songs eine Generation, die nach uritalienischen Prinzipien erzogen wurde, aufrütteln mußte. In unzähligen Talk-Shows wurde nur von „der Platte“ geredet, aber jeder wußte, was gemeint war. „Nicht nur meine Eltern wollten mich zu jener Zeit nie gekannt haben; für viele war ich der Inbegriff der Perversität.“

Für die Fortschrittlichen im Lande, für Studenten, Künstler, Filmschaffende und Intellektuelle wird „La Giannissima“ zur Heldin. Regisseur Bernardo Bertolucci beauftragt sie mit der Filmmusik zu seiner „Sconcerto Rock“-Produktion, politische Verbände reißen sich darum, Gianna als zugkräftiges Aushängeschild bei Großveranstaltungen auftreten zu lassen.

Aufgrund dieser Kontakte hat man hierzulande auch immer wieder versucht, G.N. fälschlicherweise in den einen oder anderen Gesinnungstopf zu stecken. Mit der Konzert-Szene in Italien verhält es sich nun aber mal anders als bei uns. Dort haben Musiker und Publikum schon seit Beginn der 70er immer wieder schlechte Erfahrungen mit den Promotern gemacht: Private Veranstalter kündigen Acts an und verschwinden am Konzerttag mit den Vorverkaufsgeldern; die Gruppen waren nie gebucht.

Da traten die großen Parteien mit ihren professionell organisierten Festen auf den Plan. Sie alleine boten die Garantie für eine ordentliche Abwicklung und entwickelten sich zum größten italienischen Veranstalter. Es ist also im Süden überhaupt keine Besonderheit und erst recht kein politisches Bekenntnis, wenn eine Band heute ein Konzert in Rimini gibt, das von den Christlich-Sozialen organisiert wird, um morgen in San Remo unter kommunistischer Federführung aufzutreten.

Umstände, an die sich auch Gianna erst gewöhnen mußte. „Ich wurde von einer Veranstaltung zur anderen geheizt, dazwischen Studioarbeit, Filmaufnahmen, Interviews, Fernseh-Termine, Proben und gleichzeitig der Druck, neue Ideen entwickeln. Es war alles neu für mich und unglaublich hart; ich war die einzige Frau in diesem von Männern beherrschten Geschäft.“

Gegen diesen Streß und die damit verbundenen Privatprobleme geht sie wie viele ihrer Kollegen mit Drogen und Alkohol vor. Ausdruck dieser Zeit, in der sie, was das Marketing und Organisieren betraf, obendrein auch noch von falschen Freunden beraten wird, ist die LP „G.N“.

„Ich wollte einen großen künstlerischen Anspruch in den Rock mit einbringen und so ist es eine Platte voller Experimente geworden. Sie war so konfus und uneinheitlich, wie ich mich zu jener Zeil auch fühlte. Mein Privatleben war ein Chaos, die Plattenfirma war ein Chaos, die Band war ein Chaos — und ich hatte Angst auf der Bühne! Manchmal heulte ich beim Singen. Die meisten Zuschauer hielten das für eine verdammt authentische Show, andere haben mitgeheult. Es war schrecklich.“

Mit dem neuen Schweizer Manager Peter Zumsteg wird jetzt gründlich aufgeräumt. Alte Verträge werden aufgelöst, und die neuen Songs geraten wieder melodiöser oder „mediterraner“, wie G.N. es selbst gerne ausdrückt. „Ich liebe die italienische Musik über alles, und ich kann in keiner anderen Sprache ausdrücken, was khfiihle. Diese Sprache ist ein Teil meiner Realität — und was die Musik betrifft: Ich habe den italienischen Klängen hall den Rhythmus beigebracht. Jedenfalls irren die, die meinen, man müfile mich anglo-amerikanisch einordnen. „

Mit der folgenden LP LATIN LOVER stabilisieren sich die Umstände wieder; der Titelsong, eine bitterböse Abrechnung mit dem südländischen Macho, bringt ihr Radio-Powerplay in fast allen europäischen Ländern. Und dann folgt der Auftritt beim Rockpalast, der ihr endgültig die Tür nach Deutschland offenstößt.

Hierzu liefert G.N. sechs Jahre danach eine enthüllende Anekdote: „Dieser TV-Auftritt war mein erstes Live-Konzert mit der neuen Band. Während ich mit Studiomusikern bei Conny Plank in Deutschland LATIN LOVER produzierte, halle Peter Zumsteg mit den Rockpalast-Machern erfolgreich verhandelt. Die glaubten, wir würden permanent in Italien touren, kamen kurz zu einer Probe — und plötzlich hatten wir den Termin! So blieb nur der Sprung ins eiskalte Wasser. „

Nun, keiner hat’s gemerkt — und die Sendung bereitete den endgültigen Durchbruch in Deutschland vor, „seitdem das Land, in dem ich am zweitliebsten auftrete.“

Um angesichts des nun überall in Europa einsetzenden G.N.-Booms die fatalen Fehler der früheren Jahre zu vermeiden, geht sie für den Rest des Jahres in Klausur. „Ich zog mich sogar nach Siena zurück. Don mietete ich mir ein Haus, das im Mittelalter wohl als

Mönchskerker, später als Behausung für einen Eremiten gedient halle. Die Zeit in dem einsamen Haus war ein einziges Abenteuer, eine Entdeckungsreise und die intensivste Zeit, die ich bisher erlebt habe. „

Heraus kamen „acht kleine Filme“, die Songs der PUZZLE-LP, die textlich alles in den Schatten stellte, was man von ihr gewohnt war. Der Superhit der LP, „Fotoromanza“, wurde in diesem unserem Lande zwar auch wieder als romantische Liebeserklärung mißverstanden, diesmal allerdings nicht beim Rundfunk, wo man verständlicherweise Bedenken gegen seine Ausstrahlung hegte. Grund: der Refrain X amore e una camera a gas“ (Deine Liebe ist wie eine Gaskammer).

In Italien entwickelte sich auch obige Zeile zum Zitat des Jahres. Egal ob in Politikerreden („Dieses Land ist eine …“) oder bei Scheidungsprozessen — keine Zeitung landauf landab, in der der Spruch nicht täglich zu lesen war. „Der Grund, warum wir bei Euch den LPs keine Übersetzungen beilegen, ist ganz einfach der: In manchen Bundesländern gäbe es die Platten wahrscheinlich nur unter dem Ladentisch. „

Hat sie eigentlich in den Zeiten, in denen sie unter den Beschüß der Öffentlichkeit geriet, Freunde gehabt? Eigentlich weiß man ja über ihr Liebesleben nicht allzuviel, munkelt hier und da, daß sie mit Männern nicht so ganz klarkommt und Frauen gegenüber wesentlich aufgeschlossener ist.

„Mir ist immer aufgefallen, daß Leute, die viel über Sex reden, ihn selten haben. Ich rede halt nicht so viel darüber, sondern tue es, und zwar mit einem attraktiven Mann genauso wie mit einer schönen Frau. Ich habe mit beiden Geschlechtern meine Erfahrungen gemacht. „

Wieder einmal zieht sich Gianna für längere Zeit zurück — diesmal um ihre Doktorarbeit (mit dem Thema „Die Rolle der Frau in der Musik“) fertigzustellen. In Deutschland macht sie erst wieder ein Jahr später von sich reden. Mit einer neuen LP, PROFUMA, sowie der Single „Bello e impossibile“. Mit Abstand ihre leidenschaftlichste LP über Gefühle bis zur Sklaverei („Come Una Schiava“). (Wir ersparen es uns, an dieser Stelle den Text von „Quante Mani“ ganz wiederzugeben. Nur soviel, es geht um Eis am Stiel und ölverschmierte Männerhände — der Rest bleibt der Phantasie überlassen…) Nach einem Brecht/Weill-Abend im Hamburger Schauspielhaus (mit Sting, Jack Bruce und Eberhard Schöner) hätte im Herbst ’87 eine weitere Tour und eine neue LP folgen sollen, was aber durch zwei Geschehnisse verhindert wurde: Am Tag nach dem Grand-Prix von Monte Carlo fuhr Gianna mit einem Wagen wieder zurück nach Mailand, hielt in den frühen Morgenstunden an einer Autobahntankstelle, kaufte die soeben erschienene Gazetta del Sport, um nachzulesen, wie ihr Bruder — der Formel 1 Pilot Alessandro — in den Augen der Kritiker abgeschnitten hatte. Nun lernt ja jeder Führerscheinzögling, daß Autofahren und Lesen zwei verschiedene Dinge sind, die man tunlichst nicht miteinander verbinden sollte.

Es passierte, was passieren mußte: Leitplanke durchbrochen, fünf Überschläge, Totalschaden und eine lebensgefährlich verletzte Gianna, die heute nur von Glück sprechen kann, daß sie bei all den Brüchen überhaupt lebend davonkam.

So standen Sommer und Herbst im Zeichen der Rekonvaleszenz, „wieder gehen lernen, Arme und Hals bewegen usw. An Musik habe ich dabei höchstens im Kopf gedacht. „

Als man im Oktober vergangenen Jahres endlich ins Studio gehen will, da verzögert die Krankheit ihres „Lieblingsproduzenten, der immer begriff, worum es mir ging“, Conny Plank, den Produktionsbeginn.

Als Plank dann im Dezember ’87 stirbt, steht man wieder einmal vor den Scherben. Ihre von Armand Volker produzierte Single „I Maschi“ und eine „Best Of‘-LP überbrücken das Loch nur notdürftig. Doch wer sie Anfang Februar bei der „Italienischen Nacht“ im ZDF sah, erlebte wieder die vor Energie berstende Sängerin, die die Kameraleute ob ihrer Eskapaden zum Ausflippen bringt, einen Präser über das Mikrofon stülpt und damit eindeutige Handbewegungen macht, die aber alsbald zugunsten eines Kameraschwenks über 18 000 begeisterte Dortmunder schamvoll ausgeblendet werden. Kein Zweifel, Gianna ist wieder ganz die alte.

Die ursprünglich geplanten Auftritte im Vorprogramm von Michael Jackson wurden zwar wieder abgesagt („nur acht Konzerte in 36 Tagen — so viel Zeit haben wir nicht“, argumentiert ihr Management), doch im Oktober beginnt in Italien ihre große Europa-Tournee, die sie zum Ende des Jahres auch nach Deutschland führen wird.

Im Gepäck hat sie natürlich die neue LP MALA FEMINA, die letztendlich von dem Dave Stewart-Assistenten Alan Mouldcr produziert wurde. Und wer Gianna kennt, der weiß, daß sie dem Ruf der „bösen Frau“ wieder einmal voll und ganz gerecht wird.

Der vielleicht größte Dramatiker der 80er Jahre, der Schwede Lars Noren, läßt in seinem Stück „Dämonen“ den Protagonisten Frank dessen Ehefrau Katharina immer und immer wieder mit Musik von „seiner Gianna“ provozieren. Am Beispiel von G.N. will er seiner biederen Frau zeigen, was für ihn wirklich Erotik bedeutet.

„Eine faszinierende Geschichte“, grinst Gianna über dieses für sie unverhoffte Kompliment. „Ich mag die Geschichte sehr. Und“, fügt sie mit einem für sie typischen schelmischen Lächeln hinzu, „ich bin ja wohl wirklich ein kleiner Dämon.“