Luftschacht in Finnland


Selbst in der Kunst des imaginären Saitenspiels sind die Grenzen zwischen Spaß und Ernst Ansichtssache. Beweis: Die "Air Guitar World Championsship", alle Jahre im August, kurz vorm Polarkreis im finnischen Oulu. Wir haben den schrillen Event im Vorjahr getestet.

Erster, wichtiger Schritt auf dem Weg in ein fremdes Land: das Sammeln von Stereotypen. Halten wir also mal fest, was wir vermeintlich über Finnland wissen: Im Sommer scheint dort 24 Stunden am Tag die Sonne. Der Sommer dauert aber nur wenige Wochen, das restliche Jahr über ist es pechschwarz. In dieser dunklen Zeit passieren dann die Dinge, für die Finnland berühmt ist. Harmlose Dinge wie stundenlange Sauna-Sitzungen mit Wodka-Aufgüssen. Oder Eisangeln. Und düstere Dinge, angetrieben von einer Kraft, die im Allgemeinen „Northern Angst“ heißt und vergleichbar mit der dunklen Seite der Macht sein muß. Paintballreportage

Schlachten im Schneekampfanzug, endlose Trinkgelage (finnisches Sprichwort: „Spaß ohne Alkohol ist vorgegaukelter Spaß“) mit Selbstgebranntem, die wahlweise im Niederbrennen einer Kirche oder in Messerstechereien enden. Wer am Ende der sechsmonatigen Winternacht noch steht, stürzt sich von der nächstbesten Klippe: Finnland hat die höchste Selbstmordrate der Welt.

Ob die Air Guitar World Championship in Oulu harmlos oder düster ist, wird sich heute zeigen. An sich ist Oulu ein beschauliches Städtchen. Idyllisch an der Ostsee gelegen, kurz vorm Polarkreis und dicht neben Lappland. Knapp über 100.000 Einwohner, die eine Hälfte arbeitet bei Nokia, die andere in der in Finnland örtlichen Papierfabrik. Sie sind stolz auf ihren „Mieskuoro Huutajut“ (Männerchor „Schreihälse“), den „Urschrei aus Oulu“. Einmal im Jahr gibt es einen Eisfisch-Marathon, ein anderes Mal die Knoblauch-Nacht, in der sich die Ouluaner Knoblauchzehen um den Hals hängen und Knoblauch-Eiscreme lecken. Und einmal im Jahr steigt eben die Air Guitar World Championship. Die Teilnehmerliste der fünften Weltmeisterschaft verheißt nichts Gutes: ein Typ namens Black Raven wird auftreten, The Lobster, Mr. Gusbuster, The Bird, Carlos und eine ganze Air-Band namens Smell The Glove …

„Hi, ich bin Jeremy“, schnarrt hinter mir einer auf Schottisch. „Ich bin der Lobster …“ Es ist 18 Uhr, und im Jugendkulturzentrum Nukun trudeln die Teilnehmer des Wettbewerbes ein. Lobster (Beruf: Banker) ist noch in Zivil, eine Gestalt mittleren Alters, mittlerer Größe und mittelmäßigen Haarwuchses. Neben ihm steht sein Freund Noel (Beruf: Banker), Künstlername „The Cougar“, groß, dick, rothaarig und bleich. „Unsere Künstlernamen drücken Kraft aus, Energie… der Cougar, der Berglöwe, ist eine geschmeidige Raubkatze“, erklärt Jeremy mit Fingerzeig auf seinen dicken Freund, „… der Hummer- das bin ich kann mit seinen Scheren glatt deinen Finger durchtrennen! „Die anfängliche Angst vor einer apokalyptischen Nacht weicht dem beruhigenden Gefühl, es hier doch eher mit harmlosen postpubertären Wirrungen (also gutem, sauberen Spaß) zu tun zu haben. Der Eindruck bestätigt sich beim Eintreffen der restlichen Truppe: Gusbuster (Beruf: Banker), ein freundlicher Inder mit Wohnsitz in London, kommt nicht mehr aus dem Kichern heraus. Die holländische Air-Boygroup „Smell The Glove“ und ihr australischer Leader Anthony ->

Lee (Beruf: alles Banker) prallen Bier trinkend in weißen T-Shirts herum, Aufschrift „New Millenium … Same Idiots“. Carlos ist Finne und sieht aus wie Timothy Hutton in seinem schlechtesten Film. Black Raven ist ein finnischer Bubi, zart und blond. Dazu gesellen sich noch Rene, ein finnischer Student mit Rastalocken, Sari, ein unscheinbares finnisches Mädchen, Antti und Jere, zweimal Modell „Finnischer Dorftrampel“, und Matti, ein Knirps, der mit seinen „fast 75 Jahren“ bereits im letzten Jahr dabei war und somit der einzige Veteran ist.

Punkt 19 Uhr sind sie alle versammelt – elf Gestalten, mit denen man jederzeit ein Bier trinken würde. Und dann wird „The Compulsory Song“ gespielt, ein Pflichtstück, zu dem sie zusätzlich zu dem von ihnen gewählten Lied alle aufspielen müssen und von dem sie bis dahin noch nicht wussten, welches es sein würde. „… Anddon’tforgetihejoker…“‚ .JUsistLemmyf‘ Der Lobster schreit es als Erster heraus. Richtig, da wummert unverkennbar Motörheads „Ace of Spades“ durch die Boxen, und aus elf eben noch normalen Menschen wird ein elfarmiger, spastischer Riesenkraken, dessen Tentakeln alles zu greifen und in sein grässliches kilmisterisches Klauenmaul zu stopfen drohen, alles versinkt in einem Wirbel aus Rock, Ekstase und fröhlicher Gewalt.

21 Uhr, der Ort hat gewechselt, dieSam mung nicht. Die Wettkämpfer sammeln sich im Backstagebereich der Bühne am Marktplatz. Sie sind hippelig, heiß, die meisten angeschickert, kein Wunder, hatten sie sich doch die letzten zwei Stunden in Kneipen wie „Wingers“ und „Never Grow Old“ warmgetrunken oder sich bei der Lesbo-Show des Stripladens am Hauptbahnhof mental auf ihren Gig vorbereitet.

It’s Showtime! Moderator MC Havas röhrt oben auf Finnisch etwas, was übersetzt „Are you ready to rumfc/e“heißen muss, und die 2000 Zuschauer jubeln „Yeah! „zurück. Dann geht es los: Rasta-Rene vergeudet keine Zeit, reißt sich Sekunden nach dem ersten Lemmy-Akkord das Hemd von der Brust, pfeffert es in die Menge, springt auf einem imaginären Hip-Stick kreuz und quer und spielt dabei irgendwie weiter die Luftgitarre. Die zweiköpfige Jury, bestehend aus dem Festivalgründer Juha Torvinen und Kaisu Mikkola, einer lokalen Theaterkririkerin, belohnt Rene mit 5.2 und 5.3 Punkten. Ausgepumpt wischt er sich am Bühnenrand den Schweiß von der Brust und schaut der biederen, aber technisch eindeutig glaubwürdigeren Vorführung von Jere zu.

Nicht ganz eine Minute dauert jede Kür zu „Ace Of Spades“, und im Groben und Ganzen ähneln sie sich. Einzig The Lobster und Veteran Matti stechen heraus. Lobster kommt in schwarzer Lederkutte und Langhaarperücke auf die Bühne, öffnet seinen schwarzen (Luft-) Gitarrenkoffer und feuert mit seinem Instrument MG-Salven ins Publikum – this IS Spinal Tap! Matti dagegen verstört einfach mit seinem Accessoire, einer russischen Gasmaske aus dem Zweiten Weltkrieg, garantiert benutzt! „Dennoch: Nach dieser ersten Pflichtrunde sind alle dicht beieinander, jeder kann hier noch siegen.Vor der zweiten Runde, der Kür, holt MC Havas die Teilnehmer einzeln zu sich zum Smalltalk. Am Applaus wird dabei deutlich, dass das Publikum seine Favoriten gewählt hat: Matti, für sein begasmasktes, arrogantes Auftreten {„Ace Of Spades‘ war viel zu einfach. Ich bin ein richtiger Gitarrist!“),

The Lobster für sein Metal- Kostüm, Sari, weil sie in der harten Männerwelt der Airgitarristen die einzige Frau ist, The Cougar für seine rührende Ansprache („Luftgitarre spielen ist für mich die direkte Verbindung zu Gott…“) und Black Raven für sein Engelsgesicht. Diese Fünf werden es unter sich ausmachen.

The Lobster hat Pech: sein song,Ac/DCs „Whole Lotta Rosie“, kommt in jämmerlicher Qualität vom Band. Da nutzt es auch nichts, dass er seine Perücke in die Massen schleudert. Ergebnis: 5.1/5.0. Auch Cougars unbeholfener Bärentanz zu Iron Maidens „Run To The Hills“ bringt nur 5.0/5.0 Punkte: Er wird vom Australier Anthony Lee (5.0/5.2) und dessen Eddie-Van-Halen-Solo zu „Panama“ in Grund und Boden gespielt. Matti wird für sein allzu freches Auftreten und die Gasmaske mit 5.0/5.1 bestraft. Es bleiben das Mädchen und der schwarze Rabe. Sari versucht noch nicht einmal so zu tun, als ob sie Gitarre spielt. Zu Ricky Martins „Cup Of Life“ legt sie stattdessen eine einwandfreie Bodenturnübung hin. Sieht klasse aus und wird prompt mit 5.6/5.0 belohnt. Jetzt schwingt Black Raven seine Flügel. Sein Song: Deutoronomiums „Cross Hope“, der härteste Song des Abends von der finnischen Metal-Gospelband. Seine Kür: ein Wirbel aus blondem Haar und Gliedmaßen und Schweiß, das muß doch der Sieg sein, nein, 5.1/5.5, Gleichstand, Schiebung, Diskriminierung, die Masse johlt, buht, die Veranstalter sind ratlos, was tun – ein Stechen? Beim Showdown, wieder zu „Ace Of Spades“, schießt Black Raven seine Kontrahentin klar ab: Bodenturnen und Lemmy passen eben doch nicht zuZum Finale stürmen alle auf die Bühne:

„Smell The Glove“, die holländische Air-Band, spielt außer Konkurrenz in orangen Overalls, ehemalige Weltmeister torkeln sehr betrunken umher, die anderen nur wenig betrunkener, dazwischen bekommt Black Raven seinen Preis, eine weiße Stratocaster, natürlich zum An-die-Wand-Nageln und nicht zum Spielen, und über allem dröhnt Neil Youngs „Rockin In The Free World“, der Mottosong der Weltmeisterschaft. ,£0 sollte es sein, überall auf der Welt“, jubelt Veranstalter Juha. ,y/enn alle Menschen Airguitar spielen würden, dann wäre die Welt gerettet. Soldaten würden ihre Waffen niederlegen, es gäbe keine Verbrechen mehrunddurch die Luftverwirbelungen unseresSpiels auch keine Bakterien undViren mehr. Alle würden mit ihrem Spiel beschäftigt sein, die Welt wäre eine bessere.“

Sechs Stunden später ist die Welt wieder ganz die alte. Die Air-Gitarreros sind mit Air-Groupies auf ihren Hotelzimmern, nur zwei oranje Overalls sitzen noch betrunken auf Treppenstufen. Irgendein Teilnehmer soll sich in den örtlichen Knast geprügelt haben. Die letzte Pinte, das „45 Special“, spuckt ihre letzten Gäste aus. Um 6 Uhr morgens setzt „Northern Angst“ vehement ein, und sie tut weh. Das Knoblauchfest ist noch Monate entfernt, zum Eisangeln fehlt das Eis – also steht auf, ihr Finnen, greift zu euren Gitarren, greift in die Luft und spielt! –e www.omvf.net/en ilmakkara.html