ME-Porträt: Feist. Gefühl und Härte


Diese Frau ist ein Wunder. Mit feinen Melodien hat sie die Welt erobert und den amerikanischen Popsong in die Moderne geführt. Feist lebt in ständiger Bewegung und meidet das melanncholische Gejammer. Das bewahrt ihre Musik davor, einfach nur schön zu sein.

Wer im Netz ein wenig nach den frühen Bildern von Leslie Feist sucht, stößt unweigerlich auf einen homevideoartigen Clip, der sie in leierndem Tanktop und knappen Hotpants mit einem Bonanzarad zeigt, dessen Gestänge sie zu billig bouncender Elektronik expertenhaft umschmeichelt und beleckt. Wacklig bebildert das Filmchen den Track „Lovertits“, mit dem sich vor elf Jahren die provokante Achselhaar-Rapperin Peaches auf der Szene meldete. Feist gehörte damals zur 
Album- und auch zur Bühnenentourage ihrer kanadischen Landsfrau, bei welcher sie unter dem Namen Bitch Lap Lap wirkte, einem der vermutlich albernsten Pseudonyme der Popgeschichte.

Fast traut man sich nicht, sie heute darauf anzusprechen, während sie auf Gesprächstour durch die Welt reist, um ihr neues Album Metals zu promoten. Zum einen, weil man die zierliche Mittdreißigerin mit schicker Panto-Sonnenbrille und klassischem Tweed-Jackett im Berliner Park am Gleisdreieck nahe dem Potsdamer Platz abholt, wo sie im abendlichen Gegenlicht für Fotos posiert. Sie erinnert ein wenig an Charlotte Gainsbourg, mit deren Mutter Jane Birkin sie vor einigen Jahren einen Song aufnahm. In dieser pastellfarbenen Umgebung, mit der über den Schultern hängenden Jacke und hohen Schuhen zu engen Jeans, könnte sie auch durch einen Film der Nouvelle Vague spazieren, vage hip und zerbrechlich. Aber auch musikalisch scheint das aufgesexte Do-It-Yourself Universum Peaches’ weit entfernt. Schließlich stieg Feist spätestens 2007, mit ihrem dritten Album The Reminder, zur vermutlich allgegenwärtigsten Singer/Songwriterin der Welt auf. Vom bestgehütetsten Geheimnis des Pop zur griffigen Stilmarke, für die selbst ein Vorname nur überflüssiges Beiwerk wäre, wie der britische „Guardian“ 2008 schrieb.

Die zarten Songs von Gefühlsuntergängen und erinnerter Liebe verkauften sich mehrere Millionen Mal. Sie wurden für etliche Grammys und Brit Awards nominiert, in der kanadischen Heimat gewannen sie jeden der prestigeträchtigen Juno-Preise zwischen Bestem Video und Bester Künstlerin. Annie Leibovitz hat sie fotografiert, die Lifestyle-Technologen von Apple bewarben mit ihrem Song „1234“ den iPod-Nano und schließlich glänzte sie in einem unvergessenen Auftritt in der „Sesamstraße“.

Peaches wiederum gehörte als Feists Mitbewohnerin seit den späten Neunzigern zu ihrem engeren Umfeld in Toronto, wo Feist seit 1996 durch die aufblühende Musikszene zog, gemeinsam mit den Produzenten Jason „GonzalesBeck und Dominic „Mocky“ Salole, die nun, wie zuvor schon The Reminder, auch Metals wesentlich mitproduziert haben. „Natürlich war mir klar, dass Bitch Lap Lap nicht Feist werden würde“, lacht sie später im Hotel. „Ich hatte zwei Jahre zuvor schon mein erstes Feist-Album veröffentlicht, wenn auch recht unbemerkt und ohne ordentliches Label. Es ging mir mit Peaches vor allem darum, mit den ganzen Leuten abzuhängen. Andererseits war die Zeit natürlich hilfreich, weil damals alle meine guten Freunde – Peaches, Mocky, Gonz als Taylor Savvy – ihre musikalischen Figuren fanden. Wobei interessanterweise ausgerechnet Peaches vielleicht die Ehrlichste von uns allen ist, weil sie bei aller Konzeptualität von einem wahrhaftigen, ganz unverstellten Ort spricht. Sie zeigt ihre komplette Persönlichkeit ohne jede Furcht.“

Furcht wäre andererseits das Letzte, was einem zu Metals einfallen würde. Es wirkt nicht weniger sehnsüchtig und zärtlich, aber durchaus kraftvoller als der Vorgänger, kantiger, wie es der elementare Titel andeutet – und keinesfalls weniger abenteuerlich. Es entfaltet einen erstaunlichen Reichtum an musikalischen Farben und eine dynamische Bandbreite, die von gezupfter Akustik zu forschen Bläsern und wehenden Streichern bis schließlich zu unerwartet hart bratzenden Gitarren reicht. Das Ganze verpackt mit einem souveränen Gespür für Melodien und einem sicheren Sensor für die Grenze zum Sicherheits-Pop einer Norah Jones, mit der sie gelegentlich verglichen wird. Zu Unrecht, denn man sollte natürlich eine gewisse Zeitlosigkeit nicht mit flacher Harmlosigkeit verwechseln. Gut hörbar haben auch Mocky, der zum Beispiel als Produzent von Jamie Lidells Elektro-Soul auffiel, und vor allem Gonzales ihren Anteil. Zumindest vermutet man vor allem Letzteren hinter den komplexen Arrangements. Schließlich bewies er seine Kennerschaft gleichermaßen auf HipHop- wie Softrock-Alben, und er ist studierter Konzertpianist, der letztens in Wien sogar mit großem Orchester auf der Bühne stand.

„Tatsächlich hat mir Gonz mit seiner virtuosen Vielfalt einige Fel­der jenseits von Punk und Rock geöffnet. Diesmal hatten wir zu dritt schon vor den Aufnahmen alles grundsätzlich festgelegt“, sagt Feist. „Aber die Arrangements haben auf meiner Seite auch mit einer gewissen Furchtlosigkeit zu tun. Nicht als Reaktion auf Angst – ich konnte mir durchaus auch früher vorstellen, Bläser und Streicher zu arrangieren. Aber ich habe es vermieden, weil ich sie nicht schreiben wollte. Ich will mich nicht mit einem Arrangement verheiraten, es hören und mich dann anpassen müssen. Jetzt singe ich meine Arrangements ins Computerprogramm Garageband und arbeite mit Versuch und Irrtum. Irgendwann hole ich dann einen Bläser, dem singe ich es vor, der merkt es sich und so weiter. Die Breite der Arrangements kann man schon auf der grafischen Darstellung des Computerdemos sehen. Ich lasse gewissermaßen Löcher in diesen Demo-Skizzen aus Klavier, Gitarre oder Drums und höre dabei schon im Geist, wie brillant Gonz und Mocky sie ausfüllen werden. Und so kam es auch. Das funktioniert, weil sie mich so lange kennen, gerade auch all meine Rohrkrepierer und falschen Entscheidungen. Sie begreifen alles immer als ganz neue Richtung und bringen eine frische, überraschende Musikalität mit.“

Führt man sich Feists Karriere vor Ohren, wird man schnell überzeugt, dass ihre Behauptung ständiger Veränderung mehr als die übliche Künstlerfloskel ist. Schon mit fünfzehn spielte sie in Calgary, wo sie mit ihrer Mutter die späte Kindheit und Jugend verbrachte, in einer Punkband, die es immerhin ins Vorprogramm der Ramones und Radiohead schaffte. Anfang der Nullerjahre landete sie bei der kanadischen All-Star-Band Broken Social Scene (BSS), die mit wechselnd großen Besetzungen Songs aus ebenso lauten wie fein strukturierten Gitarrenwänden und wimmelnden instrumentalen Mustern schichtet. Mit Gonzales tourte sie als Vaudeville-Duo. Und natürlich ist es kein Zufall, dass sich ihr Song „Limit To Your Love“ problemlos ins schwermütig-basssatte Dubstep-Setting des diesjährigen Shooting-Stars James Blake umwidmen ließ. In den Solo-Alben bewegte sie sich vom spröden Indie-Folk ihres Debüts Monarch über den stark elektronisch gefederten Folk-Pop von Let It Die zur coolen Hipster-Landschaft von The Reminder. Auch Metals unterstreicht die musikalische Beweglichkeit, mit ihrer luftighohen und hellen Stimme und der klugen Songarbeit als wesentliche Konstante.

Sie sagt: „Im Grunde geschehen diese Veränderungen so, wie man nach dem Aufstehen Unterhosen aus einem prall gefüllten Schrank auswählt. Ich habe ja mein ganzes Leben extrem unterschiedliche Musik gemacht. Und auch wenn es nur ein, zwei Jahre waren, bis ich es als Irrtum erkannte oder sich die Band aufgelöst hat, habe ich es immer geliebt und etwas davon mitgenommen. So ziehe ich eben auf einer klanglichen Ebene etwas heraus, so wie man sich über einen halb vergessenen Lieblingspulli freut und einen Anlass zum Tragen sucht: Bitte, bitte, lass mich was finden, wo ich eine laute Gitarre spielen kann. Auf Let It Die ging es um Balladen wie ,Gatekeeper‘ oder ,Mushaboom‘ – also etwas Neues, um Ruhe. Statt 19 lauten, cinematischen Gitarren wie bei BSS. Zwischen diesen beiden Polen bewege ich mich immer hin und her.“

Für etwas neugierigere Indie-Hörer war Feist schon mit Let It Die zum Begriff geworden. Die erste Single, das sacht-melancholische, upliftende „Mushaboom“ über eine Kleinstadt in Nova Scotia, die Provinz, in der Feist geboren wurde. Es ist so ein Song, den jeder kennt, auch wenn er es nicht weiß, ein Lied zum ewigen ersten Semester, das als Werbemelodie für ein Lacoste-Parfüm ebenso funktioniert wie im Soundtrack zu einem lose erzählten, jugendlichen Beziehungsdrama wie Marc Webbs „(500) Days of Summer“ oder unter einer TV-Teen-Soap. Let It Die wurde einerseits auf Tour mit Gonzales konzipiert, dessen Kontakt zum Produzenten Renaud Letang andererseits auch dazu führte, dass es in Paris aufgenommen wurde und einen Major-Deal erhielt. Feist sieht darin ihren Durchbruch, viel mehr, als im späteren offiziellen Erfolg mit seinem enormen Aufmerksamkeitspegel und mächtigen Umsätzen. Ein Grund, meint sie, warum sie eigentlich keinerlei Erfolgsdruck vor dem neuen Album gespürt habe. „Vor Let It Die hatte ich ja nicht mal ein Label, geschweige denn einen Major. Ich bin auch live immer noch mit Gitarre aufgetreten, obwohl es auf dem Album kaum welche gab. Und dann traf das Album überall auf offene Ohren und gute Kritiken und es fühlte sich an wie ein Kick von null auf hundert.“

Immerhin beeindruckte sie der Trubel um The Reminder genug, um sich eine Auszeit von anderthalb Jahren zu gönnen, wenn andere flink versucht hätten, den Erfolg zu zementieren. „Das ständige Touren, die ständigen TV-Auftritte, die ganze Geschwindigkeit brachten die Standards, die ich mir im Leben vorstelle, aus dem Gleichgewicht. Ich bin kollabiert oder so was. Es war ein bewusstes Sabbatical. Schließlich wird man ja kein besserer oder stärkerer Mensch, wenn man die Balance in der Wirklichkeit verliert.“ Zudem habe sie Abstand gesucht zu ihrer eigenen Arbeit, weil sie Angst hatte, sich zu wiederholen: „Es war vermutlich eine recht natürliche Reaktion auf die Aberhunderte von Shows, die ich gespielt hatte. Du kannst gar nicht anders, als das, was du tust, etwas zu genau unter die Lupe zu nehmen. Alles bekommt gleich eine philosophische Dimension, du wirst abergläubisch, verlierst den Faden und wirst zur Kopie einer Kopie einer Kopie. Und plötzlich bin ich wieder neugierig geworden, als hätte ich die Lupe wieder­gefunden, mit der ich auf die Welt sehe.“

Sich selbst nicht zu verlieren, taucht als Thema immer wieder auf. Mehrmals betont sie, wie sie ihre Kunst im Grunde als ganz selbstsüchtiges Vergnügen versteht. Dabei driftet sie in den langen Antworten oft ins Abseits, entdeckt Nebenaspekte, bleibt an Ausschnitten hängen. Das kann natürlich daran liegen, dass sie am Ende eines langen Interview-Tages, dem zehnten in Folge, einfach erschöpft ist und gelegentlich auf den Autopilot schalten muss. Aber trotzdem scheint es, als bestimme ein zugleich zielgerichtetes und enorm offenes Streifen ihr Verhältnis zur Welt. In den letzten drei Jahren hat sie mit Wilco und Beck gespielt, mit den Avant-Folkies Grizzly Bear auf­genommen, mit ihren früheren Weggefährten Broken Social Scene und verschiedenen kanadischen Folksängern gesungen und noch ein paar TV-Auftritte absolviert und Kurzfilme angeleiert. Und dabei das neue Album in eine frische und schlüssige Form gebracht.

Natürlich findet man die Feist von The Reminder auch in Metals. Noch immer dominiert das Zwischenmenschliche ihre Texte, in zuweilen höchst ernüchternden Szenen. „Warum bin ich mit dir immer so allein“, meditiert sie in einem Song, „Deine Zärtlichkeiten tun mir eigentlich nicht mehr gut“, heißt ein anderer, und „Wie kann es sein, dass zwei tolle Menschen nur ihre Abgründe vertiefen“, fragt sie im wuchtig bluesrockigen Opener, in dem sie sich dennoch zu einem ihrer doch recht typischen, schmerzlich-hymnischen Refrains wendet. „Ich habe das Gefühl, dass ich erst jetzt zu meinem Stil gefunden habe. Und das werde ich hoffentlich auch von meinem nächsten Album behaupten“, sagt sie und lacht. „Verbindungen zu älteren Songs stelle ich mir eher wie eine Ahnenschaft vor – ganz anders, aber mit einem gemeinsamen Stammbaum, einer gemeinsamen DNA.“ So entdeckt sie dann im spannungsvoll getragenen „Caught A Long Wind“ den Enkel des karg verhaltenen „The Water“ von The Reminder; und wer ein neues „Mushaboom“ sucht, findet einen etwas wuchtig-schwermütigen Cousin im Klage-Chant des neuen „Graveyard“, der zögernd hoffnungsvoll in einen swingenden Chorus mündet.

Aufgenommen hat sie das Album in Big Sur, einem noch immer einsamen, beinahe mythischen Küstenstreifen an der kalifornischen Küste. „Ein gewaltiges unbekanntes Land, an der Kante des Kontinents, vor dem sich dann endlos der Pazifik dehnt“, schwärmt Feist von ihrem Arbeitsplatz. Henry Miller und Jack Kerouac haben dort gelebt, John Steinbeck, einer ihrer Lieblingsschriftsteller, schreibt darüber; die Beach Boys haben es besungen und von ’64 bis ’71 strömten die Leute jedes Jahr zum prestigereichen Big-Sur-Folk-Festival, bei dem Feists musikalische Ahnen, die L.A.-Songwriter der Sechziger-Wende von Carole King zu Neil Young und Joni Mitchell, die Szene beherrschten – die beiden letzteren Kanadier, wie Feist mit ironischem Lokalpatriotismus bemerkt. Sie markieren auch, nach den politisierten Anfängen des Folkrevivals, den Beginn eines Rückzugs in die Innerlichkeit im Folk­rock. Auch Feists Musik könnte ihren Appeal daher beziehen, dass ihre Hörer in einer unübersichtlichen, kommunikationswilden Zeit dankbar ihre Ideen zur emotionalen Inneneinrichtung aufgreifen. „Ich höre gerne alleine, ich schreibe alleine, und stelle mir dabei jemanden vor, der die Songs alleine hört: eine Stimme, ein Ohr – na ja,  vielleicht doch zwei“, sagt sie und kichert. „Ich konnte aber auch schon in Geschichte die abstrakten Zahlen und Daten und das Handeln von Menschenmengen nicht recht fassen. Aber wenn ich die Möglichkeit hatte, sozusagen aus erster Hand die Erfahrungen eines Zeitgenossen zu lesen oder zu hören, dann hat es etwas ausgelöst: Der Unterschied, ob man das Wort Holocaust hört oder Anne Franks Tagebücher liest. Das eine kann man sich ganz unmöglich vorstellen, das andere ist zwar subjektiv, aber im Kontext entsteht daraus dann eben ein viel greifbareres, kompletteres Bild.“

Und sie gerät kurz in einen schwärmerischen Exkurs über Autobiografien, erzählt vom barock-manieristischen Bildhauer und Goldschmied Benvenuto Cellini und von Klaus Kinskis wilder Sexploitation, und wie der Blick auf die eigene Geschichte gerade durch die Art, wie man sich selbst als Teil einer Gesellschaft inszeniert, eine historische Zeit erhellen kann.

Sich selbst zu schützen, während man die eigene Erfahrung in Songs legt, den subjektiven Blick bewahren und ihm zugleich eine allgemeinere Gültigkeit zu geben, ist natürlich der Grundstein für gelungenes Song-Handwerk. „Es ist interessant, wie sich Songs verändern. Manche meiner alten Sachen sind einfach irgendwann gestorben, andere, die ich eher routineartig im Programm hatte, begannen plötzlich wieder wunderbar zu leben und haben im Lauf der Zeit eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ich vergleiche heute meine eigenen Erfahrungen mit dem, was andere über die gleichen Situationen sagen oder schreiben. Und dann koche ich es herunter, bis etwas bleibt, das hoffentlich wahrhaftiger ist als nur mein eigenes Gejammer. Vielleicht bin ich daher heute etwas grundsätzlicher: Ich will meine Songs weiter singen können und von ihnen lernen, und dann werden sie vielleicht zu Brotkrumen im Wald, die mir helfen, meinen Weg zu finden.“