Tanz des Egos


Tanz des Egos Seattle, zehn Jahre danach: Der Hahn ist tot, es lebe das Ei. Denn aus jenem erwächst das, was man von PearlJam schon lange nicht mehr erwartet hätte, und zeigt: Die letzten Dinosaurier können es noch.

, Chris Wiesner De Generation X ist nicht nur tot, sie hat doch genau genommen nie existiert.“

Matt Cameron nimmt sich einen Keks.

„Das ist doch alles eine Erfindung von euch, den Medien. Genau wie der Irrglaube, Seattle sei eine Boom-Stadt. Schau Dich doch um!“ Es stimmt: Eine florierende New Media-Metropole sieht anders aus. Klar, es gibt sie, die schwarz beanzugten Hi-Tech-Gewinner, die ihre Lederköfferchen spazieren tragen und hektisch in Zweitausend-Dollar-Handys schnattern. Doch an bald jeder Straßenecke palavert ein halbes Dutzend erschreckend junger Obdachloser über vergangenen Bit- und Byte-Glanz. „Die Hälfte von uns hatte noch vor einem Jahr einen gut dotierten Job als Programmierer oder E-Commerce-Agent“, sagt einer von ihnen. Jetzt ist alles anders. Die Internet-Hysterie ist vorbei, der soziale Absturz geschieht im Zeitraffer, Seattle erlebt seine zweite Rezession.

Auch um die Musikszene ist es nicht mehr allzu gut bestellt. Die Clubs haben gleich reihenweise geschlossen. Die nationale Gitarren-Entourage, die sich im Gefolge der Grunge-Götter hier versammelt hatte, um abfallende Plattenvertrags-Brotkrumen aufzusammeln, ist nach L.A. weiter gezogen. Und selbst bei „Sub Pop“, dem Plattenladen-Mekka, findet man Soundgardens „Superunknown“ nur noch in der hintersten Ecke der Second-Hand-CDs.

In diese Szenerie hinein veröffentlichen Pearl Jam „Riot Act“, ihr siebtes Studio-Album – das überzeugendste seit einer langen Zeit, für manche sogar seit dem Debüt „Ten“. Anders als die letzten Langspieler setzt es nicht auf gewollte Erneuerung oder verzwickte Soundeigenheiten, sondern bietet zeitgemäße, stimmungsvolle Rockmusik der authentischen Sorte. Der Gegensatz zu dem also, was sonst so die globalen Massencharts beflügelt, Gitarren würgt, einen leidenden Sänger-Beau als Vorstand hat und den Menschen schlimmerdings als „Alternative Rock“, vulgo „Grunge“ verkauft wird.

„Was SOllen Wir daZU sagen?‘ ‚zuckt Stone Gossard die Schultern. „So ist es nun mal, wenn sich undergroundige Musik zum breitentauglichen Phänomen entwickelt und mit jeder Platte auch gleich das

neueste Pepsi-Produkt verkauft werden soll. Natürlich ist das nicht schön, und ja, die meisten aktuellen Bands mit diesem Sound gefallen uns nicht besonders. Aber das ist alles doch immer noch besser, als wenn uns noch mehr Britney- und Justin Timberlake-Dämonen befallen.“ Fakt ist aber: Die Top Ten fanden in den letzten Jahren meist ohne Pearl Jam statt. Die Verkäufe sanken mit unerbittlicher Konsequenz. Verkaufte „Ten“ damals noch an die neun Millionen Einheiten allein in den USA, so fand das letzte Studioalbum „Binaural“ nicht einmal ein Zehntel der Abnehmer. Erfolglosigkeit: Das perfekte Rezept für eine Rundum-Erneuerung. „Riot Act“ vollführt das Kunststück, all das fabelhaft miteinander zu verbinden, was Pearl Jam früher auszeichnete: Groove, Melancholie, Intelligenz, Humor, „und etwas, für das ich keinen konkreten Begriff benennen kann“, so Gossard. „Diesersubtile straight forward-Vibe, die Dinge laufen zu lassen.“

Wir befinden lins in der Pearl Jam’schenKreativ-Keimzelle. Eine liebevoll zum Loft umgebaute Lagerhalle am Washington Lake, voller warmer Lichtquellen und verschiebbarer Raumteiler aus roten Samtvorhängen. An den Wänden meterhohe Regale voller Gitarren, Amps, Mischpulte und Drumkits, am Ende eine offene Küche und in der Mitte das in einem Kreis aufgebaute aktuelle Rehearsal-Equipment.

Es gibt viel zu besprechen. Und eine exakt bemessene Zeit dafür: Drei Mal 25 Minuten, verteilt auf alle Bandmitglieder. Ein Luxus, der vor allem eines demonstriert: Sie wollen es noch mal wissen. Sich erklären. Der Welt mitteilen, dass es sie noch gibt, und vor allem, dass sie noch immer wichtig sind. Das zeigt schon das Video zur ersten Single „I Am Mine“, exklusiv für Europa zusammen produziert. Dort sieht man eine eingeschworene Männersippe, wie sie sich gemeinsam in den Himmel jammt – und dies von der Band, die sich im Lauf ihrer Karriere den Massenmedien stets verweigert hat. Nun also wieder Eierkuchen für alle und Pearl Jam auf der Mattscheibe.

Ihre neue Relaxtheit zeigt sich auch im Gespräch. Man ist offen, redet über Gott, die Welt und den Zustand der Rockmusik. Und darüber, dass jedes Album wie das erste ist. „Es ist immer wieder eine Herausforderung zu sehen, wie die Leute reagieren“, weiß Mike McCready. „Mal ist die Reaktion gut, wie bei Jen, mal beschissen, wie bei , Binaural‘. Aber immer spannend.“

So entwickelt sich auch die knappe halbe Stunde mit Berufs-Eigenbrötler Eddie Vedder. Er sitzt, ganz Old School-Philosoph, in seiner privaten Denker-Parzelle vor einer antiquierten Schreibmaschine und tippt Gedichte ab, kurze Haare, verkniffene Augen, eine „American Spirit“ im Mundwinkel. Er erhebt sich und macht erst mal ein Foto, als visuellen Tagebucheintrag quasi. Dann: Abschweifungen, Erklärungen, komplizierte Zusammenhänge im Monolog, so komplex, dass er selbst manchmal den Faden verliert. Dann schüttelt es ihn am ganzen Körper, es gibt komische Geräusche und einen zweiten Versuch.

o 1 Wie hier: Wie fühlt es sich an. seitmm1 mehr einem Jahrzehnt Sprachrohr, Ideengeber und ¿jj Leit wolf für eine ganze Generation zu sein? „Eines 2 hilft mir ungemein“, hebt er an. „Ich sehe mich selber £ nichtin dieser Position. Früherwar das anders, da habe ich mich immerzu damit beschäftigt, wie andere mich wahrnehmen. Inzwischen sehe ich mich einfach so, wie ich bin: Ein Typ, der vor seiner Schreibmaschine sitzt, neben sich eine Gitarre, um sich herum ein paar Menschen, die ihn so lieben, wie er ist. Ich würde nicht sagen, dass ich inzwischen ein in sich ruhendes Individuum bin. Ich denke weiter jeden Tag darüber nach, ob ich imstande bin, aus meinem Leben etwas Vernünftiges und Bleibendes zu machen. Sicher, einige meiner Träume sind wahr geworden, aber auch einige der schlimmsten Alpträume. Kurz: Ich bin auf dem Weg.“

Thema Alpträume: Roskilde, die Ticketmaster-Geschichte, temporäre Medienverachtung oder den Verlust enger Freunde, die nicht mehr klar kamen mit dem, was seines Erachtens die Kreativität tötet: Zu großer Erfolg. Das spricht auch aus den mal höchst fa-yptischen, dann wieder sehr deutlichen Lyrics der vorliegenden Platte. Vedder: „Die Pfirsiche wachsen überirdisch oderunterirdisch. Und wenn dir die Maden aus dem Ohr kriechen, kommen sie dir dann auch aus dem Hoden?“ Äh. Wie bitte? „Manchmal ist .anders‘ die Antwort auf alles. Oder auch nicht. Vielleicht ist es auch exakt anders herum. Keiner weiß nichts Genaues. Der Mensch ist der Wurmfortsatz der Evolution.“

Hier zeigt sich wieder, was sinngemäß eine Textzeile auf dem neuen Album sagt: „It’s not easy to dance with your ego.“ Ist es inzwischen einfacher als früher? „Zumindest ist es nicht mehr mein Ego, das den Tanz führt. Heute führe ich. Und die Musikist romantischer und schöner geworden. Auch wenn die Band immer mal wieder den Takt verliert. Immerhin: Ich beherrsche mittlerweile alle Schritte und Drehungen.“

ES Qeht nach HaUSe. Eddie springt in seinen feuerroten 74er Plymouth Fury Cabrio, während Mike mit seiner Freundin eine Toyota-Familienkutsche besteigt, Matt von seiner Mami in einem Ford-Jeep abgeholt wird und Stone in seinen Flip-Flops zu Fuß los marschiert. Nur Jeff bleibt noch und spielt ein bisschen Bass. Generation X hin, Grunge-Hype her, das ist alles Geschichte. Und dies hier die Wahrheit: Pearl Jam sind fünf ganz normale Männer. Ein Glück. www.pearliam.com —