Überflieger


Drei Jahre nach dem Album „Pop starten die Megastars von U2 erneut durch. Die Richtung ist vorgegeben: Es geht wieder himmelwärts.

Eigentlich müsste er wissen, dass man so etwas nicht macht. Aber den 40-Jährigen kratzt das nicht: Er ignoriert das „Do Not Push“-Schild geflissentlich, stemmt sich mit beiden Armen gegen die gemächlich rotierende Drehtür und stolpert, als er den viergeteilten Kreisel schließlich verlässt, beinahe einem irritierten Fluggast vor die Füße. Sekunden später klemml sich unser übermütiger Freund im Vorbeigehen ganz lässig das Gepäck eines Wildfremden, um sich anschließend Apfel kauend auf das Rollband zu fläzen, auf dem normalerweise ausschließlich Koffer an den Mann bzw. die Frau gebracht werden. Dort genießt er rücklings eine alternative Form des Sightseeing. Keine Frage also, der Kerl ist gut drauf. Auffällig nur, dass man ihn so unbehelligt gewähren lässt. Mehr noch: Einige der Umstehenden scheinen hoch zufrieden zu sein mit dem, was sie da sehen. Allen voran jener Herr, der ganz offensichtlich eine nicht unbedeutende Rolle inmitten dieses herumwuselnden Clans von Geschäftigkeit vermittelnden Chargen spielt. Wenn er „Action, Action!“ fordert, dann kriegt er diese umgehend und sozusagen schon von Berufs wegen, denn Jonas Akerlund ist Filmemacher.

An diesem Augusttag hat der Schwede sein Handwerkszeug in der Ankunftshalle des Pariser Airports Charles de Gaulle installieren lassen. Nach mehrmonatigem Feilen am Konzept wird jetzt innerhalb von zwei Tagen umgesetzt, was sich mehrheitlich seine Auftraggeber da haben einfallen lassen. Einer von ihnen ist der eingangs erwähnte Flegel; die Welt kennt ihn als Bono. „Ist ein wunderschöner Tag…“ — der sonnenbebrillte Ire singt es in der Lounge und auf dem Rollfeld, während startende und landende Jets wenige Meter über seinem Kopf und den Häuptern seiner Kumpels hinwegdonnern, ohne dass einer von ihnen dabei auch nur eine Miene verziehen würde. Kein Wunder, dass sogar Mr. Akerlund später augenzwinkernd bilanzieren wird, es sei zwar auf jedem seiner Sets „dramatisch zugegangen, aber auf diesem ganz besonders. Die Jungs waren unheimlich mutig, das mitzumachen. Sie haben alles aufs Spiel gesetzt. Ich hatte Angst um ihr Üben.“ Was er nicht sagt, aber beim Dreh garantiert permanent im Hinterkopf hatte: Man ist von U2 Überdurchschnittliches gewohnt, also musste logischerweise gerade auch dieser Clip „knallen“. Immerhin soll er die erste Single aus dem lang erwarteten neuen Album visuell umsetzen, das ab 30. Oktober in den Läden stehen wird.

„Beautiful Day“, der ersten Auskopplung aus „All That You Can’t Leave Behind“, kommt dabei als Album-Opener eine Schlüsselrolle zu: „Die Nummer ist die beste von allen auf der neuen Platte – purer Rock n‘ Roll von einer Band, die nach vorne geht, aber auf der anderen Seite auch sehr innovativ. Dieser Sound ist mit nichts zu vergleichen, was wir bisher gemacht haben“, sagt Gitarrist The Edge. Und ergänzt: „Es ist nun mal diese Spannung zwischen verschiedenen, nicht miteinander harmonierenden Dingen, die für meine Begriffe immer einen Klassesound produziert.“ Der Text stammt von Bono und dreht sich um einen Typen, der alles verliert, von seinen Kindern angefangen bis hin zu seinen Freunden und der Dauerkarte für seinen Lieblings-Fußballverein – und sich trotzdem noch nie so gut gefühlt hat. Ganz unten zu sein, das berge ja schließlich immer auch die Chance in sich, einen erfolgreichen Neubeginn hinzulegen, kommentiert der Autor seine Zeilen: „The sky falls and you feel like it’s a beautiful day…“ (die kompletten Lyrics gibt es übrigens im Internet unterwww.u2.com und dort im „Green Room“).

Wer sich für Olympia 2000 interessiert, machte schon früh Bekanntschaft mit dem neuen U2-Werk: „Beautiful Day“ wurde nämlich vom Zweiten Deutschen Fernsehen umgehend als offizielle Titelmelodie für seine Berichterstattung aus Sydney ausgewählt. Zur Begründung hieß es, gerade dieser Song liefere „eine fantastische und emotionale Untermalung der großen Momente des Sports, die sowohl die Athleten als auch die Zuschauer., erleben Auf Wolke sieben

werden‘. Die Amerikaner hängten sich umgehend dran: NBC erkor die Nummer zum Background-Track für seinen täglichen 30-Sekunden-CIip vom aktuellen Olympia-Geschehen, weil – so Dick Ebersol, der NBC-Sportchef – „der Text den Wettbewerbsgeist und den Kern der Spiele in idealer Weise vermittelt“. Beinharte Fans haben sich die Single inzwischen garantiert längst doppelt ins Regal gestellt, denn U2 gingen mit zwei Versionen zeitgleich auf den Markt, packten auf die eine die beiden Bonustracks „Summer Rain“ und „Always“ und bestückten die andere mit zwei Live-Aufnahmen, „Discotheque“ und „ifYou Wear That Velvet Dress“. Das dafür verwendete Material war bei einem Gig in Mexico City mitgeschnitten worden, Abonnenten des U2-Magazins „Propaganda“ hatten es als Gratis-Longplay-CD mit dem Titel „Hasta La Vista Baby“ als Beilage in ihrer Lieblingslektüre gefunden.

Für „All That You Can’t Leave Behind“ komponierten U2 insgesamt an die 20 Songs. Von diesen Nummern fanden am Ende aber nur elf den Weg auf das neue Album. Produziert haben den Nachfolger von „Pop“, da 1997 entstandene Werk von Bono und seiner Bruderschaft, die alten 112-Weggefährten Brian Eno (David Bowie, Talking Heads) und sein Protege Daniel Lanois. Für den Mix zuständig war ihr Kollege Steve Lülywhite, der seinerseits die ersten drei US-Alben – „Boy“, „October“ und „War“ – produktionstechnisch betreut hatte.

Definitiv wird es auch von „All That…“ ähnlich wie von der Vorab-Single zwei Versionen geben. 112-Manager Paul McGuinness erzählte einem Radiosender schon frühzeitig, man wolle der im Vereinigten Königreich vertriebenen CD ebenso wie der japanischen einen Extra-Track hinzufügen. Das Besondere daran: Diese Nummer, „The Ground Beneath Her Feel“ betitelt, weist den vom Khomeini-Regime geächteten Schöpfer der „Satanischen Verse“, Salman Rushdie, als Co-Autor aus. Der Song war ursprünglich nur auf dem Soundtrack zu „The Million Dollar Hotel“ enthalten, Wim Wenders‘ Film nach einer Story von Bono. Hintergrund der Aktion: Man will die englischen Fans ebenso wie den Einzelhandel auf diese Weise dazu animieren, das Produkt aus dem eigenen Land zu kaufen, denn die importierte europäische Version von „All That…“ wird auf der Insel billiger sein als die reguläre britische.

Wer sich vorab schon mal einen vagen Eindruck von dem verschaffen will, was die zehnte LP der vier Megastars aus Dublin zu bieten hat, dem seien auch an dieser Stelle die Internetseiten von LI2 empfohlen. Neugierige Surfer werden’s bestätigen können, dass die Internet-Adresse „u2.com“ in der Tat eine geschmackvolle Visitenkarte für die Vorzeige-Band der 80er und 90er Jahre ist. Bono & Co. führen ihre virtuellen Besucher derzeit durch üppig ausgestattete Räumlichkeiten und lassen sich inzwischen auch schon mal von einer Studio-Webcam bei der Arbeit über die Schulter schauen – mit durchschlagendem Erfolg: Pro Tag wurden über 500.000 (!) Zugriffe auf die U2-Seiten registriert. Dass die Band erst relativ spät mit einer eigenen Adresse im Netz vertreten war, erklärt Gitarrist The Edge (39) unter Hinweis auf Tausende von qualitativ hochwertigen Fanseiten, die es inzwischen gebe. „Wir wollten so lange warten, bis wir dem etwas völlig Anderes hinzufügen konnten, jetzt können wir etwas Einmaliges anbieten.“

Das Quartett weiß also, was die Stunde geschlagen hat, und kennt keine Berührungsängste. Nochmal The Edge: „Es gibt da draußen in der Welt eine Menge Computer, und ich will Musik auf diesen Computern, weil ich glaube, dass das gut für die Musik ist.“ „Das Internet ist eine neue Form des Rock ’n‘ Roll“, sagt Webmaster Sebastian Clayton dazu, der jüngere Bruder von lU-ßassist Adam Clayton und Chef einer in Dublin ansässigen Firma, die auch schon den Web-Auftritt der Cranberries gestaltet hat. lind die vier von 112, betont er, seien allesamt Internet-Freaks mit unterschiedlichen Vorlieben, die aber durchaus zu „Hausaufgaben“ bereit seien, nämlich Ideen für die künftige Präsenz der Band im WorldWideWeb zu kreieren. Und das ist nun mal das beste Forum für jene Audio-Appetithappen, die man seit dem 15. September auf „u2.com“ serviert bekommt: Die beiden Tracks „Elevation“ und „Walk On“ machten den Anfang, wöchentlich kamen zwei neue Samples hinzu.

„Die neue LP wird härter als ‚Pop‘ werden“, hatte Bono schon im letzten lahr MTV gesteckt, nicht ohne im zweiten Atemzug abzuschwächen, dass es natürlich wiedei ein „klassisches“ H2-Album werde. Und Bandkumpel The Edge gab sich richtig euphorisch: „Was auf der Platte drauf ist, gehört zum Besten, was wir je gemacht haben.“ Man habe für die neue Platte einen sehr frischen Sound gewollt und so lange an den Titeln herumgedoktert, bis sie eine bestimmte Lebenskraft beinhaltet hätten: „Das ist es, worum es im Rock ’n‘ Roll geht.“ Umgekehrt lief es teilweise allerdings auch im Schnellverfahren. Den Titel „New York“ beispielsweise spielte die Gruppe ganze zwei Mal – zuerst wurden die Ideen gebündelt, bevor in einem zweiten Anlauf die Version entstand, die schließlich aufs Album kam.

Welche Folgen eine lange Nacht haben kann, ist auf „In A Little While“ unschwer nachzuhören: Bonos Stimme kratzt merklich. Ansonsten besticht die Nummer laut The Edge durch ihre „interessante Verbindung von Tradition und Moderne“, während sich das balladeske letzte Stück „Grace“ seinen Platz auf der CD erst habe verdienen müssen – „zu Recht“, wie der erfahrene Gitarrist anmerkt. Am leichtesten tat sich das Quartett mit „Wild Honey“. Als etwas arg „laid back“ anfänglich nicht sonderlich beachtet, ließ sich die Band erst von Dritten eines Besseren belehren, „denn jeder, der das Stück hörte, mochte es“. Und so gelangte „Wild Honey“ schließlich ebenso auf das Album wie „PieceOn Earth“, ein brillanter künftiger „Show Stopper“, wie The Edge findet.

Gelegentlich bewegen sich Ux auf „All That You Can’l Leave Behind“ auf für sie neuem Terrain, so etwa beim Song „Stuck In A Moment“. Das ist astreiner Philadelphia-Soul und wird schon jetzt als potenzielle zweite Single aus dem Album gehandelt, die angeblich im Januar 2001 auf den Markt kommen soll. „Da haben wir eine Art Klassik-Ding gemacht, aber auf neue Art und Weise“, so der Kommentar von The Edge: „Die Grundidee ging in Richtung Gospel, aber Bono hat die Nummer in eine ganz andere Richtung gedreht.“ Producer Brian Eno ist sich jedenfalls sicher, dass „Stuck In A Moment“ der größte Hit des Albums werden wird. Wenn er Recht behält, ist er um 100 englische Pfund reicher – er hat mit Bono um diesen Betrag gewettet.

Wetten kann man auch darauf, dass die Tickets wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln weggehen werden, wenn U2 im nächsten Jahr wieder auf Tour gehen werden. Wobei es dann nicht nur die ganz großen Stadien sein sollen – zum ersten Mal seit lahren will die Band auch wieder in Hallen spielen. „Wir haben ‚Zoo TV‘ und ‚PopMart‘ gemacht, das reicht erst mal“, meint The Edge: „Die Auftritte in Stadien fressen viel Energie, Zeit und Geld.“ Mehr als 8o Konzerte sind vorgesehen. Losgehen soll die Tour im März 2001 in Miami, Florida. Dass derzeit in Nordamerika so gegensätzliche Aas wie ‚N Sync und Limp Bizkit voll angesagt sind, lässt Bono übrigens völlig kalt: „Wir sind Männer. Das sind doch alles kleine Jungs.“ Sagt es und grinst.

www.u2.com