Was wäre, wenn …


… Mark David Chapman sein Idol John Lennon nicht vor 30 Jahren niedergeschossen hätte? Der Beatle wäre heute 70! Ehefrau Gwyneth hätte ihm ein rauschendes Fest bereitet. Und alle wären sie gekommen: Obama, Bono, Gaga und auch Yoko. Unser Autor war dabei. Crazy! Aber lesen Sie selbst.

„Sweetheart, es ist gleich zwei Uhr, willst du nicht mal langsam aufstehen? Apple kommt bald aus der Schule, Moses aus dem Kindergarten. Willst du, dass deine Kinder ihren Vater so sehen?“

John öffnete die Augen, ganz langsam, die tiefe New Yorker Wintersonne schien direkt über den Central Park durchs Fenster hinein auf seine Frau, die schmollend in der Tür stand, die Hände in die Hüften gestemmt. Er blinzelte kurz, dann machte er die Augen wieder zu.

„Sweetheart, steh auf, bitte!“

Sie zerrte am weißen Bettlaken, er hielt es am anderen Ende fest, aber nicht mit letzter Kraft. Oder besser: dem, was er noch hatte an Kraft. Er ließ das Laken los, es rutschte über seinen nackten Körper, er drehte sich zur Seite, die Beine angewinkelt in Löffelchenstellung, öffnete abrupt seine Augen und schaute seine Frau grinsend an. Er hatte eine wirklich monströs gute Erektion. Kam nicht mehr oft vor.

„John, das ist ekelhaft, hast du wieder Viagra geschluckt? Und überhaupt: Ich verstehe diese Angewohnheit wirklich nicht, nackt zu schlafen. Muss das denn noch sein, in deinem Alter?“

„In meinem Alter?“

„Du bist vor zwei Monaten siebzig geworden, schon vergessen?“

„Wie könnte ich das vergessen? Du hast mit deiner Überraschungsparty doch dafür gesorgt, dass ich meinen Siebzigsten nie wieder vergessen werde. Es sei denn, die Altersdemenz erlöst mich irgendwann einmal gnädig von meinen Erinnerungen. Wäre eh ganz schön, würde das Leben einfacher machen.“

„Manchmal bist du ein Scheusal, John!“

„Hab gestern einfach bisschen viel getrunken bei Toms Geburtstag, sorry.“

„Ich verstehe nicht, warum du mit dem so gut befreundet bist. Er hat irgendwie eine seltsame Ausstrahlung, eine böse.“

„Tom Waits? Gwyneth, mit dir geht die Fantasie durch! Tom ist eine Seele von Mensch.“

„Du hättest dich trotzdem nicht so betrinken sollen. Alkohol ist nicht gut für dich.“

„Tom ist 61 geworden, er war zufällig in der Stadt, warum sollten wir nicht auf ihn prosten? Wegen unseres Karma? Apropos Karma: Soll dich übrigens von diesem Sänger grüßen, den du so magst. Schräger Vogel.“

„Chris Martin?“

„Genau, der Spinner war auch da. Weshalb trägst du eigentlich OP-Handschuhe?“

„Ich mache gerade den Sauerteig für das Vollkornbrot. Chad vom ‚Tartine‘ in Frisco hat mir dieses tolle Rezept für den Blog geschrieben.“

„Darüber wollte ich eh mal mit dir reden: Findest du es richtig, aller Welt auf diesem Blog zu verkünden, dass du nach der Geburt von Moses postnatale Depressionen hattest? Ist das nicht bisschen, na ja, intim?“

„Hör dir mal deine alten Platten an!“

„Danke für das Totschlagargument, Liebes. Wir sollten trotzdem mal über diesen Blog reden. Und über dieses merkwürdige Twittern auch. Aber später, ja? Lass mich doch noch ein wenig dösen.“

„Ich versteh dich in letzter Zeit nicht, John. Irgendwas läuft schief. Ich mache mir Sorgen.“

„Baby, später, ja?“

„Aber mach nicht zu lange.“

Und damit verzog sich seine Frau wieder in die Küche zum Sauerteig.

Sie hatte recht, irgendwas lief schief in letzter Zeit. Bei ihm. Wobei: eigentlich nicht erst seit letzter Zeit. Sondern von Anfang an. War es wirklich richtig, eine 32 Jahre jüngere Frau zu haben? Die Frage war nie aus seinem Kopf verschwunden. War diese Frau nicht das deutlichste Zeichen dafür, dass auch er bloß ein alter Sack geworden war?

Es war anstrengend. Als die Kinder gekommen waren zum Beispiel: Wie sie das erste unbedingt nach seiner Plattenfirma nennen wollte und das zweite unbedingt nach einer biblischen Gestalt, dem Mann, der die Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft geführt hatte. Fuck! Gab es denn irgendjemanden, der Gott mal besser beleidigt hatte als er, John Lennon? Nee, verdammte Scheiße.

Und es wurde ja nicht besser. Erst hatte sie aufgehört zu arbeiten und war zum Hausmütterchen mutiert, dann hatten sie keinen Sex mehr gehabt, und jetzt, wo sie endlich wieder arbeitete, fiel ihr nichts besseres ein, als eine Countrysängerin zu spielen. Und natürlich: alle Lieder selbst zu singen. In einem Film, der nichts anderes war als „Crazy Heart“ für Hausfrauen. John hätte nie gedacht, dass Paul und er auf ihre alten Tage ausgerechnet darin konkurrieren würden, wer die peinlichere Frau hatte.

Als John ihr gesagt hatte, dass er ihren Film doof fand, hatte sie ihm vorgehalten: „Wer hat denn mit Rick Rubin eine Hank-Williams-Platte aufgenommen, und zwar nachdem Rubin mit Johnny Cash gearbeitet hatte und mit, verdammt noch mal, Neil Diamond?“

Diese dämliche Rubin-Platte: Sie war noch nicht raus und schon bereute er sie fast so sehr wie Double Fantasy Doubled, die Fortsetzungsplatte, mit der er ernsthaft geglaubt hatte, Yoko zurückzukriegen, 1987 war das gewesen.

Ja, er dachte in letzter Zeit häufig an Yoko. Die ihn hochkant aus dem Dakota geschmissen hatte, 1985. Weil er zu Bob Geldof nicht hatte Nein sagen können. Aber was hätte er tun sollen? The Who, die Beach Boys, sogar Led Zeppelin traten bei Live Aid auf. „Ich hab nicht 15 Jahre Scheiße gefressen als ewig schuldige Hexe, damit du jetzt für einen erfolglosen Musiker die Beatles wiederauferstehen lässt“, hatte Yoko geschrien, und er hatte gefleht: „Yoko, bitte, für Afrika, für die Kinder, für eine bessere Welt.“ Wie hätte er da Nein sagen und je wieder „Imagine“ singen können? Yoko hatte ihn vor die Tür gesetzt mit den Worten: „Die Stones spielen auch nicht zusammen! Mick spielt mit Hall & Oates, Keith und Ronnie spielen mit Dylan, warum spielst du nicht mit, sagen wir: George Michael?“ Und das war es dann gewesen.

„Und was sollte das überhaupt heißen: dass du die Party zum Siebzigsten am liebsten vergessen würdest?“

Gwyneth stand schon wieder in der Tür, an den OP-Handschuhe klebte jetzt Sauerteig. „Baby, das war doch nur so dahingesagt. Es war reizend. Auch wenn es wirklich nicht nötig gewesen wäre, als Überraschungsgeschenk für mich eine Party von Truman Capote im Plaza nachzuspielen, sie den, Very White and Very Black Ball‘ zu nennen – und dazu den Präsidenten einzuladen, der, falls dir das entgangen sein sollte, nicht sehr schwarz, aber schon gar nicht sehr weiß ist.“

„Ich dachte, du magst Obama.“

„Das war so, als er noch nicht Präsident war. Aber, honey: Präsidenten haben es an sich, dass man sie nur liebt, wenn sie noch nicht oder nicht mehr Präsident sind. Amtierende hingegen sind eine einzige Enttäuschung.“

„Weil sie im Gegensatz zu dir mit der Wirklichkeit umgehen müssen?“

Der Satz war gar nicht so schlecht, dafür dass er aus ihrem Mund kam. Aber im Ernst: Die Geburtstagsparty war einfach unfassbar peinlich gewesen, von vorne bis hinten. Die Gästeliste allein: außer den Obamas hatte Gwyneth auch noch die Clintons eingeladen und die beiden Paare dann nebeneinander gesetzt, hätte Bill sich nicht ordentlich besoffen, wäre zwischen den Vieren kein einziges Wort gefallen, den ganzen Abend nicht. Bill: Was für ein toller Kerl. John hatte die durchzechten Nächten mit ihm im Weißen Haus immer sehr genossen, obwohl er ihn in der Zeit selbstverständlich aus Prinzip eigentlich nicht hätte mögen dürfen.

Außerdem waren bei der Party zugegen gewesen: Bono (extra aus Rom eingeflogen, wo er am Vorabend noch mit U2 gespielt hatte).

Steve Jobs (mit dem wegen Apple, der Computerfirma, und Apple, Johns Plattenfirma, also nicht dem Kind, gerade erst die letzten Rechtsstreitigkeiten beigelegt waren).

Mick Jagger (der allein schon deshalb nervte, weil er im Gegensatz zu John einmal spindeldürr sterben würde, ja, John war in letzter Zeit etwas aus dem Leim gegangen, lag bestimmt an Gwyneths verdammten Bio-Cupcakes).

Ringo Starr (der Gute, Brave, Arme).

Jay-Z und Danger Mouse (damit sie sich zu Dritt mal über Copyrights und Klauen unterhalten konnten, ganz tolles Thema, und außerdem erzählte Gwyneth ja jedem, dass Jay-Z ihr bester Freund sei; John hätte sich gewünscht, Beyoncé wäre seine beste Freundin).

Lady Gaga (weshalb auch immer, vermutlich wollte Gwyneth damit Apple und Moses eine Freude machen, die zusammen mit Julian und Sean am Kindertisch saßen; Gaga war zur Feier des Tages als gelbes U-Boot verkleidet – John verstand die Jugend wirklich nicht mehr).

Chris Martin (da hatte John nun überhaupt keine Idee, was der da sollte, Gwyneth hätte ja auch gleich noch die Gallagher-Brüder einladen können, deren Geschleime hatte John noch nie ertragen: Epigonen, pah).

Nicht erschienen freundlicherweise, trotz Einladung: der Papst (was dachte Gwyneth eigentlich?) und Paul McCartney (ganz miese Ausrede, irgendwas mit seiner neuen Freundin, Paul war wirklich unreformierbar, gut so).

Selbstverständlich auch ohne Einladung da: Yoko (der einzige Mensch, der an diesem Abend Schwarz trug außer John, alle anderen waren in Weiß gekommen, nein: „sehr Weiß“). Yoko sah alt aus. Aber irgendwie auch: schön.

Gwyneth hatte Yoko vor die Tür setzen wollen, was John gerade noch so verhindern konnte, aber die Sache auch nicht besser machte. Yoko hatte dann den ganzen Abend in der Ecke herumgestanden und jedem ungefragt erzählt, dass John seit dreißig Jahren keine anständige Platte mehr veröffentlicht habe, was, wie John zugeben musste, ein nicht ganz falsches, aber doch ziemlich hartes Urteil war. Yoko nervte an diesem Abend einfach bloß, alles nervte, und also hatte John beschlossen, sich anständig zu betrinken. Keine gute Idee, das.

Nach dem fünften Bier brach er einen Streit mit Mick vom Zaun, wer denn nun den besseren Song über Angela Davis geschrieben hatte, er oder die Stones. Es wurde hitzig, die Obamas entschuldigten sich rasch, Hillary verabschiedete sich gleich mit, Bill blieb natürlich, Ehrensache, und irgendwie kam es dann zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf Mick und John rangelnd in Gagas U-Boot landeten, Jay-Z Danger Mouse wegen des „Grey Album“ eine saubere Rechte mitten ins Gesicht schlug, und Bono erst Chris Martin wegen „Weltretter-Nachmacherei“ oder so eine etwas kindische Ohrfeige gab und dann Steve Jobs eine wegen des viel zu hohen Preises, den der Bono für das Apartment im „The San Remo“ oben an der 74. Straße abgeknöpft hatte. Bill beobachtete die ganze Szene vergnügt, Yoko klatschte frenetisch, und Ringo, der Gute, Brave, Arme, befreite schließlich John und Mick aus Gagas gelbem U-Boot.

Nur Gwyneth saß alleine da wie eine vergessene Ballprinzessin und fragte leise: „Bio-Cupcakes, irgendwer?“

Zwei Monate war dieser Abend nun her. Zwei Monate minus einen Tag.

„Was für ein Datum haben wir eigentlich heute genau, Gwyneth?“, murmelte John vom Bett her.

„Mittwoch, den 8. Dezember 2010.“

„Ach. Weißt du, was genau heute vor dreißig Jahren passiert ist?“

„Da war ich in der dritten Klasse, wie sollte ich wissen, was damals passiert ist?“

„Ein Mann, ich hab seinen Namen vergessen, hat unten vorm Dakota den Doorman erschossen, José Perdomo. Die Polizei sagte später, dass der Mann eigentlich mich hatte töten wollen, stell dir vor, mich! Dabei hätte er auch Paul Simon erschießen können, Lauren Bacall oder Mia Farrow, sie alle waren an diesem Tag an ihm vorbei ins Dakota gegangen oder dort herausgekommen, und sie alle hätte man sich doch auch prima als Attentatsopfer vorstellen können. Doch er wollte mich. Ausgerechnet mich. Wären Yoko und ich nicht viel später als eigentlich vorgesehen aus dem Record-Plant-Studio nach Hause gefahren, wer weiß, was passiert wäre. Der Mann hatte beim Warten die Geduld verloren. Peng. José Perdomo wurde von vier der fünf abgegebenen Schüsse getroffen, im Roosevelt Hospital konnte kurze Zeit später nur noch sein Tod festgestellt werden. Armer Mann.“

„Das ist ja furchtbar. Aber warum erzählst du mir so eine schreckliche Geschichte, John?“

„Ach, Gwyneth, ich weiß nicht“, sagte John, „in letzter Zeit fühle ich mich manchmal so alt.“

Dann zog er sich das Bettlaken über den Kopf und döste noch bisschen.