Winter Wonderland


Wenn es in Tucson, Arizona, schneien kann, dann ist auch alles andere möglich - sogar so etwas Schönes wie das neue Calexico- Album "Feast Of Wire". Zwei winterliche Begegnungen mit der Band aus der (bisweilen) sengenden Wüste.

Tucson, 30. Januar 2002. Für Joey Burns wie für die etwa 800.000 anderen Einwohner seiner Wahlheimatstadt im Herzen der Wüste von Arizona ist heute ein Tag, an den man sich noch länger erinnern wird. Nicht so sehr, weil heute der ME zu Besuch ist, sondern weil auf der Fahrt in die Stadt der Wind statt des gräulichen Nieselregens plötzlich kleine weiße Flocken durch die Luft weht. „Schnee“, ruft Burns, so euphorisch, wie es ihm seine unaufgeregte Art und seine leichte Erkältung erlauben, „es schneit. Es schneit nie in Tucson.“ Ein wenig weißlicher Matsch sammelt sich an den Scheibenwischern seines flossenselig ausladenden, vor allem im Innenausbau etwas aus dem Leim gegangenen 1956er-Chevrolet Impala. Dass das Gestöber bestenfalls einen leichten Graupelschauer vorstellt, mindert Burns‘ Freude nicht. „Unglaublich“, lacht er und parkt den Wagen vor einem großen blauen Gebäude, „das ist der erste Schnee seit Jahren! „

Im dem alten Lagerhaus ist das Wavelab Studio untergebracht, Dreh- und Angelpunkt der Indie-Szene von Tucson – so auch für Burns‘ Bands Giant Sand und Calexico – und gern gebuchte Anlaufstelle für Bands aus dem ganzen Land; erst gestern Abend spielte Burns hier in einer Session von Cowpunk-Legende Al Perry, in den letzten Wochen wurden hier erste basic tracks für das nächste Calexico-Album eingespielt.

In den Räumen im ersten Stock herrscht bemerkenswert geordnete Unordnung. Sie wird beherrscht von Craig Schumacher, Chef und Besitzer des Wavelab, Produzent und gelegentlicher Sideman in Personalunion. „Ich bin vor drei Jahren mit dem Studio hiereingezogen „, erklärt er, „die alten Räume waren zu groß. Hier ist es angenehmer.“

Der immer noch ziemlich stattliche Hauptraum des Studios sieht aus wie ein Museum. Entlang den Wänden steht, hängt, reiht sich musikalisches Gerät aus den letzten achtzig bis hundert Jahren. Gitarren und Mandonlinen in allen Erscheinungsformen, Bassgeigen, Blasinstrumente, ein unendliches Sammelsurium zum Teil kurioser Verstärker und Elektrogeräte, Boxen, Vibraphone, Tasteninstrumente von der kleinen Wurlitzer bis zur dreimanualigen Hammond-Kirchenorgel, Baujahr 1942. „Die klingt ziemlich spukig, nicht wirklich eine Rock’n’Roll-Orgel. Ist auf allen Calexico- und Giant-Sand-Platten zu hören „, erklärt Schumacher, der gleich eine kleine Führung durch sein Reich ansetzt. Er klappt ein rotes Köfferchen auf, darin liegt eine kleine, klapprige Lapsteel-Gitarre: „Die haben in den 30ern, als dieser Hawaii-Gitarren-Boom war, Vertreter an der Haustür als Set verkauft.“ Nach Schätzen wie diesem stöbert Schumacher bevorzugt ein paar Straßen runter im Chicago Music Store, einer über und über voll gestopften Fundgrube für antikes und abseitiges Instrumentarium, in der auch Burns Stammkunde ist.

Während der auf einer alten Danelecto-Gitarre versunken twangige Läufe vor sich hinspielt, zeigt Schumacher auf den alten Flügel, den er kürzlich angeschafft hat. „Bei der Platte von Steve Wynn hat Chris Cacauas Piano gespielt, und der drängte mich, den zu mieten. Da hab ich ihn gleich gekauft. Er hat das Howe Gelb seal of approval, das ist das Wichtigste.“

Howe Gelb, der enigmatische Kopf hinter Giant Sand, dessen musikalische Vision seit jeher von einer konventionellen Wüstenrock-Idee in dekonstruktivistisch-avantgardistische Gefilde davonspult, ist eine Eminenz der Tucson-Szene. Der wachsende Erfolg seiner Rhythmusgruppe Burns und John Converrino mit Calexico belaste das Gefuge von Giant Sand, hört man immer wieder. Burns tut das etwas ausweichend ab. Das neue Giant-Sand-Album ist vor ein paar Monaten fertig geworden, parallel zur Veröffentlichung im Sommer soll es eine Tour geben.

Momentan Warten ganz andere Probleme

Eine für das nächste Wochenende für eine Session gebuchte Kundin, offenbar eine Bekannte von Burns, deren Namen fallen zu lassen er und Schumacher vermeiden, hat die Anreise aus Seattle vermasselt und kann nun ihren Termin nicht einhalten. Schumacher ist sauer. „Ich schmeiße nicht meinen Zeitplan durcheinander“, schimpft er. „Das habe ich letztes Mal gemacht, das geht diesmal nicht. Zu viele Leute, zu viele Deadlines. Wie mein alter Drill-Sergeant-Boss zu sagen pflegte:, Diese schlechte Vorausplanung von deiner Seite wird auf meiner keinen Notfall auslösen. Wenn sie nicht mit euch tauschen kann, ist sie raus.“ Burns beugt sich über den Computer: „Ich bin ja mit ihr die Daten durchgegangen. Am fünften geht’s bei mir nicht, da hab ich ein Meeting. Christoph Ellinghaus kommt rüber.“ Und den stets recht beherzt auftretenden Chef seiner deutschen Plattenfirma City Slang/Labels kann und will er nun auch nicht versetzen. Burns seufzt und verabschiedet sich von Schumacher.

Draußen ist der Schnee wieder in Nieseln übergegangen. Wir fahren los in Richtung Barrio Viejo, eines der älteren Wohnviertel von Tucson, etwa 15 Minuten vom Studio. Hier wohnt Burns in einem relativ neuen, aber etwas auf klassisch getrimmten Haus, zusammen mit seiner Freundin; momentan ist aber nur die Katze Koge („Kodschie“) daheim. In dem kleinen Wohnzimmer steht ein hohes Regal voller Bücher, CDs und Platten. Burns legt eine CD-R mit handgeschriebenem Tracklisting in die wenig repräsentative Kompaktanlage: Die Roh-Tracks des neuen Albums. Das Stück, das einst „Quattro (World Drifts In)“ werden wird, puckert mit trickigem Beat los, noch ohne Gesang; über die Texte muss sich Burns erst Gedanken machen. „Da gibt’s noch viel Arbeit“, lächelt er und setzt Tee auf. Eventuell im August soll die Platte rauskommen – oder eben irgendwann später, „wenn wir unser Zeug beisammen haben „, sagt Burns, Druck gibt’s keinen. In den USA veröffentlichen Calexico auf Quarterstick, einem Unterlabel von Touch And Go. „Touch And Go sind absolut strikt independent, keinerlei Verbandelung mit großen Konzernen.“ Man wird von Burns keine flammenden Reden gegen multipel fusionierende Majors hören, aber er glaubt fest an funktionierende und ausbaubare Indie-Strukturen. „Man muss in jedem Aspekt des Musikmachens kreativ sein. Beim Spielen selbst und auch bei der Wahl der Leute, mit denen man arbeitet.“

Wenige Unbehagliche Erfahrungen als Teilzeit-Mitglied der Friends Of Dean Martinez, während die Mitte der 90er auf dem Warner-Sublabel Sub Pop waren, haben ihm gereicht. „Man merkte, dass Sub Pop Druck bekam, und der setzte sich auf die Band fort. Das konnte man in ihren Gesichtern sehen. Aber sie hatten den Deal gemacht, sie hatten ihren Vorschuss -jetzt mussten sie mit dem Druck umgehen“. Christoph Ellinghaus‘ City Slang gehört mittlerweile zu Labels und damit zum Major Virgin. „Ja, da gibt es eine Verbindung, aber sie scheinen mir sehr frei zu sein in dem, was sie tun. „In Europa, wo Calexico mitunter 1500er-Clubs spielen, während in den USA 600 Leute schon ein großes Publikum für sie sind, ortet Burns generell größere Offenheit Musik gegenüber. „Man wird so nett behandelt. Schöne Venues, tolles Equipment, großartiges Publikum, Leute, die neugierig sind auf andersartige Musik.“ Hier in den USA weniger? Burns lacht. „NO. Schrottige PAs, Leute,die nur auf Konzerte gehen, um sich zu unterhalten… na ja, nicht immer. Aber es ist schwieriger. Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht sind die Leute übersättigt …Ah! Hör dir das mal an!“ Ein Jazz-Track rumpelt aus den Boxen. „Das ist unsere Charlie-Mingus-Adaption.“ Burns hält ein paar Sekunden inne und grinst dann zufrieden. „Haha. Da brauchen wir ein paar Bläser. Ich kenne gar nicht so viele. Muss mal rumtelefonieren.“ Er erzählt weiter, wie wichtig er es findet, seine Musik „geerdet“ zu halten, „sich mit Leuten mit ähnlichen Interessen zusammenzutun, damit die Community wächst und die Gelegenheiten für alle, ihre Liebe zur Musik zu teilen „und von interessanten Begegnungen auf einer kurzen Japan-Reise und der Südamerika-Tour, aus der leider noch nichts geworden ist. „Ich möchte expandieren. Und reisen. In einer Band zu sein ist eine gute Entschuldigung dafür, viel zu reisen.“ Jetzt rattert ein hektischer Offbeat-Rhythmus los; Burns skippt weiter. „Dieses Stück wird definitiv nicht passieren.“ Und was ist das hier? „Stevie Nicks“, steht da. Burns lacht. „Das ist das mit der Fleetwood-Mac-Gitarre, drum ist der Arbeitstitel,Not Even Stevie Nicks Could Save Him‘. Warte auf die Gitarre“, grinst er. „Wir mussten Lindsay Buckingham einfliegen, um das richtig hinzukriegen. Noch eine Tasse Tee, dann fahren wir los. Burns will irgendwo eine Platte von den Shins auftreiben, „tolle Band“, als Geschenk für einen Freund, der zu Besuch kommt. Durch die Türritzen des Impala zieht es feucht. Es ist saukalt in der Wüste.

Es ist nicht viel wärmer in Berlin, zehn Monate später. Joey Burns und John Convertino sitzen in einem Cafe und geben Interviews zum Anfang 2003 erscheinenden neuen Calexico-Album „Feast Of Wire“. Im Rahmen der Promotour spielen sie ein paar Showcases über Europa verstreut, sie sind mit voller Bandbesetzung unterwegs, auch die beiden assoziierten deutschen Mitglieder Volker Zander und Martin Wenk sind dabei, und sogar die Mariachi-Truppe Luz de Luna reist wieder mal mit. Gestern Abend im kleinen Magnet-Club konnte man Calexico aber ganz abgespeckt erleben, in einem seltenen Duo-Auftritt stellten Burns und Convertino da die neuen Songs vor. Burns sorgte mit trickreichen Gitarrenloops für atmosphärische Dichte; Convertino, dem man gut und gerne auch zwei Stunden lang solo zuschauen könnte, schien regelrecht in sein Schlagwerk hineinzukriechen – jeder Tick, jedes Klack, jeder Wirbel Teil eines organischen Flusses. Bei der Zugabe „Crystal Frontier“ standen dann plötzlich in vollem Ornat die Mariachis am Bühnenrand, späteram Abend gab es vorn in der Bar mexikanische Weisen zu Tequila.“Das ist Josef“, sagt Burns zu Convertino, „er war im Frühjahr in Tucson. An dem Tag, als es schneite.“ Convertino hebt etwas verschlafen die Augenbrauen. „Ah, DER Tag! Es schneit NIE in Tucson“. Das beschäftigt euch immer noch? „Das nächste Mal komm im Sommer“,sagt Burns. „Das ist dann eine völlig andere Welt. Wir hatten mal einen Sänger aus Frankreich zu Besuch, im Herbst, als es schon angenehm und kühl war. Und der meinte:“Ich verstehe nicht, wie ihr hier auf so düstere, melancholische Musik kommt, wo’s draußen so wunderschön ist. Alles ist so happy hier. Das Leben hier ist zu gut!“ Und ich sagte nur: Komm im Sommer wieder.“ Convertino nickt: „Im Sommer sind alle Häuser abgedunkelt, die Leute kommen nur im Dunkeln raus. Und viele verlassen die Stadt, die Stadt leert sich.“ Hat die extreme Sonne also einen ähnlich deprimierend-anregenden Effekt wie, sagen wir mal, der englische Klischee-Dauerregen? „Da kommen sie alle raus, wenn mal die Sonne scheint. In Tucson ist es umgekehrt: Wenns endlich mal regnet, rennen alle raus und freuen sich. Die Sonne kann dich fertig machen. Deswegen tragen wir diese Dinger hier“, lacht Convertino und tippt sich an seine Cord-Baseballkappe. Hat ja nun doch etwas länger gedauert mit der neuen Platte, „Feast Of Wire“ kommt Anfang Februar 2003 anstatt im August 02. „Wir haben uns Zeit gelassen“, sagt Burns. „Ich musste mich mal ein bisschen zu Hause einleben. Und im Sommer waren wir dann auf Tour, mit Calexico und mit Giant Sand.“ Das im Sommer 2002 erschienene Giant Sand-Album „Cover Magazine“ trägt den Untertitel „The Retirement Issue“. Ist die Band-Tour hin oder her – nun doch Geschichte? Howe Gelb äußerte sich jedenfalls in diese Richtung. Burns und Convertino bleiben vage. „Howe ist eine starke Musikerpersönlichkeit, er hat eine sehr kraftvolle Präsenz“, sagt Convertino, „Darum ist er der Leader von Giant Sand. Er ist der Steuermann. Aber … ich weiß auch nicht…“

Mittlerweile haben Burns und Convertino jedoch wohl ihr eigenes Boot zu steuern. „Wir haben ja noch dieses andere Projekt“, springt Burns ein, „OP8, bei dem wir drei gleichberechtigte Mitglieder sind. Ich hoffe, damit passiert mal wieder was.“ Das erste und bisher letzte OP8-Album mit Lisa Germano als Sängerin erschien 1997. „Wir haben Aufnahmen mit Juliana Hatfield und Evan Dando“ erzählt Burns, „und jetzt die Sachen mit Neko Case. Sie wollte uns erst nur als Backing Band für eine E.P., das dann aber doch richtig Band-mäßig machen. Ich schlug vor, das könnte doch das neue OP8-Album werden, aber sie nannte es dann Lady Pilot. Und dann gefiel dem Label die Platte nicht. Jetzt liegt sie auf Eis.'“War Neko Case, deren Album „Blacklisted“ im Herbst erschienen ist, die unzuverlässige Kundin vom Januar? „Ja“, nickt Burns, „das war sie. Jetzt hat sie ein paar Songsvon dem Lady-Pilot-Album für ihr Soloalbum verwendet, Howe hat ein paar für seine Platte genommen. Lady Pilot hat momentan nicht mehr viele Lieder übrig. Aber vielleicht wird das ja nochmal was. „Sehr überzeugt klingt er nicht, aber die nächsten Monate haben jetzt ohnehin Calexico Priorität. Im April kommen sie auf Europa-Tour, und natürlich geht’s dieses Jahr auch wieder knapp einen Monat lang durch die USA. Haben Calexico eigentlich jemals die Fühler jenseits die Grenze ausgestreckt, die sie in ihrer Musik so fasziniert, nach Mexiko? „Ja, das ist so eine Sache“, sagt Burns. „Ich habe diesen Traum, eine Tour entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze zu machen, mit den Mariachi Luz de Luna und vielleicht dem Nortec Collective, das sind DJs aus Tijuana, mit denen wir mal gespielt haben. Aber das wäre enorm viel Papierkrieg. Könnte also eine Weile dauern.“ Apropos Mexiko: Was ist der „Güero Canelo“ im Titel des seltsamsten Songs auf „Feast Of Wire“? „Das heißt übersetzt etwa ,Blondie‘, blond, rothaarig“, sagt Convertino. „Es bezeichnet eine Art keltischstämmigen Albinotyp“, erklärt Burns. „Es gibt diese Legende in Mexiko von französischen Einwanderern, die zur Zeit der Kolonisation ins Land kamen, mit heller Haut, hellen Augen und hellem Haar. Deren Nachkommen sollen abgeschieden weit draußen in der Wüste leben. Keiner wusste mehr genau, ob es sie wirklich gibt oder ob das nur eine Legende ist. Bis sich vor einiger Zeit jemand auf die Suche machte. Und sie haben sie tatsächlich gefunden. Ich wünschte, ich wünschte, ich hätte da jetzt mehr Details im Kopf.Ich könnte dir eine E-Mail schicken.. .“ Alles der Reihe nach. Übermorgen, nach einem Zwischenstopp in Köln, fahren Calexico nach Frankreich. Vielleicht findet Burns ja da mehr raus über seine keltischen Albinos und warum sie einst aus dem angenehm kühlen Europa nach Mexiko auswanderten. Auf jeden Fall hat er jetzt wieder eine gute Entschuldigung zu reisen. www.casadecalexico.com