Campino: Mit neuen Songs machen sich die Toten Hosen auf den Weg ins nächste Jahrtausend. Im Interview erklärt Campino, was ihn auch nach 18 Jahren Punkrock noch antreibt.


14 Platten in 18 Jahren, das Millennium steht vor der Tür, das neue Hosen-Album heißt „Unsterblich“ – das wäre doch eine prima Gelegenheit, Euch endlich aufzulösen?

Das kann ich nur mit einer Gegenfrage beantworten: Warum sind die Leute von ME/Sounds noch in der Musikbranche? Warum machen sie noch immer eine Musikzeitung, anstatt sich zu verpissen und eine Briefmarkensammlerzeitung aufzumachen – oder was sie sonst noch interessiert?

Uns interessieren Musik und ihre Macher – und bei Euch speziell die Frage, wann man zu alt für Punkrock ist.

Es geht nicht um den Punkrock, sondern um die Toten Hosen. Es geht nicht um die neue Schallplatte für die Punk-Bewegung, sondern um die neue Schallplatte der Toten Hosen. Jede Tournee, jede Schallplatte spiele ich, als wär’s die Letzte. Ich genieße das in vollen Zügen und bin auch jetzt voll euphorisch. Wir haben eine Bestandsaufnahme gemacht mit dem Ergebnis: Wir sind gesund, wir sind noch da, und deshalb gibt es jetzt diese Platte und eine Tournee dazu. Iggy Pop, Rolling Stones, Aerosmith – es gibt eine Menge Leute, die wesentlich älter als wir und trotzdem nicht peinlich sind. Keiner von uns tut so, als ob wir noch 18 wären. Es ist ganz klar, daß wir nicht mehr die „Jungs von der Opel-Gang“ sind. Ich komme aus der Punkrock-Generation, muß aber nicht bis ins Grab irgendwelche Werte verteidigen, die nicht mehr zur Diskussion stehen, weil inzwischen ganz andere Wellen vorbeigezogen sind.

In Eurem neuen Song „Helden oder Diebe“ singst Du: „Auf dem Weg hierher haben wir mehr als nur die Unschuld verloren“. Was denn: Fans? Spielfreude? Geld?

Das ist vor allem ein Signal an unsere Fans: Wir sind uns bewußt, daß es manchmal schwer ist zu erklären, warum man ein Hosen-Fan ist. Ich erwarte auch von AC/DC heute nicht mehr, daß sie ein „Problem Child“ sind – aber ich erwarte, daß sie „Problem Child“ spielen. Die Frage, ob wir weitermachen sollen, beantworte ich jedenfalls nicht nach der Zahl der verkauften Platten oder Konzerttickets. Die Kernfrage ist doch: Habe ich Bock, diese Visagen der Band immer noch jeden Morgen im Proberaum zu sehen? Und solange ich diese Frage mit einem glasklaren „ja“ beantworten kann, mache ich weiter. Im Januar sind wir einen Monat lang mit der Band und ein paar Kumpels auf Motorrädern quer durch Indien – gefahren. Dabei ist nicht ein Wort über Musik ge-5 quatscht worden. Wenn du so eine Ebene auch i außerhalb der Musik hast ist Aufhören kein Thema.

Warum wirst Du – noch ein neuer Song – „Nie satt“?

Das war ja auch der Hintergrund Deiner ersten Frage: Wann werdet Ihr endlich satt? Ich für mich kann einfach nur sagen: Ich weiß nicht, warum ich an Lebenshunger nicht satt werde – und ich weiß auch nicht, wann das passieren wird. Kohlemäßig bin ich satt, aber es gibt eine Menge anderer Dinge, die ich noch erleben möchte. Man kann ja auf vieles gierig sein: Macht, Frauen, Exzesse, Extreme.

Worauf nun?

Auf Vieles. Das ist doch die große Gerechtigkeit im Leben: Keiner wird je diesen Zustand des Satt-Seins erreichen können. Und wenn, ist es Zeit sich aufzuhängen. Ich würde nie satt werden von solchen Dingen wie dieser Motorradtour zum Beispiel.

Man kann ja auch mal was spenden…

Das ist eine sauprivate Angelegenheit. Von mir gibt es keine Homestory, und ich werde den Teufel tun, zu erklären, inwieweit ich ein Gutmensch bin, oder wofür ich Geld spende. Die Liste mit den Dingen, die wir gemacht haben, ist lang: Wir sind in Behindertenheimen aufgetreten, in Suizid-Abteilungen im Knast und so weiter. Genug jedenfalls, um von den Medien vorgeworfen zu bekommen, wir würden uns damit ins Promotionlicht stellen. Wie du es machst, ist es verkehrt. Aber darüber denke ich nicht mehr nach, das ist mir scheißegal. Es gibt auch wichtigere Dinge, als über Sozialneid nachzudenken.

Das kannst Du Dir bei Deinem Kontostand doch wohl auch locker erlauben, oder?

Quatsch! Ab wieviel D-Mark Gehalt muß man nicht mehr auf wen neidisch sein? Wenn man die Veranlagung dazu hat, kann man aus den dümmsten Gründen heraus neidisch sein. Ich könnte ja auch auf jemanden neidisch sein, der eine Traumfrau hat, die ich begehre. Die Kohle hat doch mit dem Neid nichts zu tun. Im Moment gibt es keine andere Person, die bei den Toten Hosen singt – deshalb muß ich auch auf niemanden neidisch sein. Und wenn ich mir dann nach vier Stunden Probe meine Nudeln koche und mich vor den Fernseher setze, bin ich auf eine gute Art ausgelaugt.

Viele Songs auf „Unsterblich haben einen eher reflektierenden, nachdenklichen Tenor.

Keine Sorge – es sind auch reichlich Ballernummern drauf. Aber wir haben ein paar Stilmittel mehr als früher drauf. Eine Nummer zum Beispiel ist ausschließlich mit Streichern instrumentiert. Vor zehn Jahren hätten wir bestimmt Angst davor gehabt, das so konsequent durchzuziehen. „Unsterblich“ wird dennoch nicht als eine der ruhigsten Hosen-Platten in die Geschichte eingehen. Es ist doch gut, daß wir uns nicht auf unser bewährtes Kochrezept von Hosen-kompatiblen Liedern reduzieren.

Soll Euch das Album unsterblich machen?

Ach was – erstens fanden wir das Wortspiel „Tote Hosen – unsterblich“ witzig, und zweitens geht es bei den meisten Songs ja um das genaue Gegenteil von Unsterblichkeit: Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit, Endlichkeit. Bei „Opium fürs Volk“ war „Glauben“ der rote Faden, jetzt sind es diese Dinge.

Wie kam es zu dieser neuen Nachdenklichkeit?

Es wäre zu einfach, das an bestimmten Schicksalsschlägen oder Menschen, denen man begegnet ist, festzumachen. Die Tendenz ist aber tatsächlich, daß mir in der letzten Zeit ernstere Sachen viel leichter von der Hand gegangen sind. Das wird schon was mit meinem Leben zu tun haben. Aber der einzige Spiegel, in dem man mich öffentlich sehen kann, steht in meinen Texten. Alles andere möchte ich nicht zu Markte tragen.

Dennoch provozieren Deine Texte Fragen. Zum Beispiel, wenn Du in einem Song die Situation beschreibst, als Du Deinen Vater tot entdecktest.

Das ist so passiert, vor knapp zwei Jahren. Natürlich weiß ich selbst am besten, wie und mit welchem Wasser ich was gekocht habe.

Todesfälle in der nächsten Verwandtschaft können einen Menschen grundlegend ändern: sie markieren unter anderem das Ende der Kindheit.

Das sind Momente, durch die wir alle durchmüssen. Ich glaube, daß man nicht dann erwachsen wird, wenn man selber ein Kind macht, sondern dann, wenn deine Eltern sterben.

Bist Du dadurch endlich erwachsen geworden?

Die Welt besteht schließlich nicht nur aus Kindern und Erwachsenen, das ist zu schwarzweiß. Nur, weil ich mich erwachsen fühle, würde ich es mir noch lange nicht nehmen lassen, meine Flausen auszuleben. Erwachsen werden muß ja nicht heißen, das Genießen zu verlernen oder immer nur in Verantwortung zu schwelgen.

Wer sagt Dir rechtzeitig.daß Du ein alter Sack geworden bist?

Seit ich 20 bin, höre ich, daß ich ein alter Sack bin. Noch sind wir bereit, uns dem Duell zu stellen: Wer auch immer behauptet, er könne mehr Gas geben als wir, der soll ruhig kommen. Lind wenn der Tag kommt, an dem wir nicht mehr über die Bühne rennen können, werden wir uns halt ein paar Barhocker nehmen und politisch korrekte Lieder spielen.

Euer Drummer Wölli konnte am Schluß wegen seines Bandscheibenvorfalles die Schlagzeugstöcke kaum mehr harten, der Drum-Roadie vom Ritchie sprang ein. Das ist nun schon der dritte Drummer bei den Hosen – kehren langsam Spinal-Tap-Verhältnisse ein? Naja, denn es waren ja nur drei Schlagzeuger in knapp zwanzig Jahren.

Und keiner von ihnen ist auf der Bühne explodiert …

Wölli bleibt Mitglied in allen Bereichen, ist beim Mixen dabei, entscheidet weiterhin mit. Er hat beim neuen Album auch auf ein paar Nummern mitgespielt. Es ist ein superglücklicher Zufall, daß unser Roadie als Schlagzeuger nahtlos einspringen konnte. Jeder ist durch seinen Geschmack und seine Fähigkeiten limitiert. Da kann es schon was bringen, wenn von außen neuer Einfluß dazu stößt.

Wie der Liedermacher Funny van Dannen, mit dem Ihr ein paar Songs geschrieben habt?

Ein Stück, „Lesbische, schwarze Behinderte , ist ganz von ihm, drei weitere (Die erste Single „Schön Sein“, „Der Mond, der Kühlschrank und ich“ und ein Fußball-Song: Anm. d. Red.) haben wir gemeinsam mit Funny geschrieben. Rocko Schamoni wirkt auf einem Kurzhörspiel mit, und mit Frank Z. von Abwärts haben wir seine Nummer „Sonntag im Zoo“ gespielt.

Langsam scheinen auch ein paar zeitgemäße Techniken in die Hosen-Songs zu sickern?

Bei uns steht immer eine Frage im Vordergrund: Wie können wir den Song mit der Band spielen? Auch wir arbeiten wahnsinnig viel mit Elektronik, kriegen das aber so hin, daß es relativ traditionell klingt. Wenn ich selbst Musik höre, ist es mir völlig egal, auf welchen Instrumenten sie hergestellt wurde.

Ist es Dir denn auch egal, welcher Schwarzbrenner die CD hergestellt hat?

Das ist doch eine alberne Diskussion. Da wollen sich ein paar Leute verkrampft an ihrem Ast festhalten, der so oder so abgesägt wird, spätestens durdi das Internet. Andererseits haben die Menschen tatsächlich ein seltsames Verhältnis zur Musik entwickelt: Sie bezahlen zum Beispiel für Bücher, denken aber, Musik ist frei. Deshalb glauben sie, es sei in Ordnung, CDs zu kopieren und auf dem Schulhof zu verkaufen Verglichen mit dem, was bei Eurem 1000. Konzert im Düsseldorfer Rheinstadion passierte (ein Mädchen starb im Zuschauergetümmel, Anm. d. Red.), ist auch die schwärzeste CD-Brennerei PipifaX.

Der Tag war tatsächlich in allen Bereichen ein Schlüsselerlebnis, ein Knackpunkt und ein Wendepunkt – aber das wäre es auch gewesen, wenn das Mädchen nicht gestorben wäre, allerdings in anderer Hinsicht. Es war die 1000. Show, ein Höhepunkt: 65.000 Leute, die alle nur die Hosen sehen wollten. Damit war automatisch ein Kapitel beendet.

Wer hatte Dir die Nachricht überbracht?

Während der fünften Nummer ist unser Tourmanager zu mir gekommen und sagte mir, es sei etwas Schreckliches passiert. Es ist vielleicht jemand gestorben. Ich dachte, es ist vielleicht nur ein Gerücht und schickte ihn zu dem Arzt, der ihm das definitiv bestätigen kann. Zwei Lieder später kam er an und meinte, es ist tatsächlich ein Mensch gestorben.

Ihr habt das Konzert sofort abgebrochen, später aber weitergespielt. Warum?

Wir hatten eine Einsatzbesprechung mit dem Roten Kreuz, dem Katastrophenschutz, der Polizei und der Feuerwehr. Die haben auf uns eingeredet, daß wir weitermachen müssen, damit keine Panik ausbricht. Die haben uns gesagt: Wenn ihr jetzt aufhört und alle strömen nach draußen, worauf niemand eingerichtet ist, und wenn sich herumspricht, was passiert ist, und die Leute anfangen, in Panik loszulaufen, dann kann noch viel mehr passieren.

Wie kann man in so einer Situation noch Musik machen?

Es ging eine gute Stunde lang für uns durch die Hölle. Wir wußten, was los war, mußten die Sache aber so durchziehen, daß die Menschen nicht beunruhigt werden. Wir haben das Set umgestellt und die Sache irgendwie hinter uns gebracht.

Du bist ganz rauf auf das Zeltdach geklettert und hast einige Songs von da oben gesungen. War das Dein Opfer – Dich selbst in akute Lebensgefahr zu bringen?

Das war für mich noch die angenehmste Stelle: Ganz allein nur für mich. Es war wie Russisch Roulette. Mir war scheißegal, ob ich abstürze. Ich war in einem Stadium, in dem ich nicht mehr als zurechnungsfähig beurteilt worden wäre. Die normale Wertevorstellung, die einen davon abhält, Dinge zu tun, die vielleicht echt gefährlich werden könnten, war nicht mehr vorhanden. Du stehst unter Schock und reagierst nur noch in Teilbereichen so, wie man es von dir erwartet. Wie nach einem schweren Unfall auf der Autobahn, wenn Du Schwerverletzte aus einem Autowrack ziehen mußt.

Fühltest Du Dich schuldig?

Ein paar Tage später haben wir Videobänder von der Polizei und vom Fernsehen bekommen. Ich wollte sehen, ob wir etwas anders hätten machen können. Dieses Mädchen war jedenfalls gesund, hatte nichts getrunken und auch keine Drogen genommen. Sie ist an einer Stelle zu Tode gekommen, an der relativ wenig Menschen waren. Das Mädchen muß kurz vor Beginn der Show oder während der ersten Nummer gestorben sein. So ein Unglück kann auch in einem Club mit 100 Leuten passieren – es rutscht einer auf einer Bierlache aus und knallt tödlich auf den Hinterkopf. In dieser Nacht sind insgesamt 20 Menschen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Für ein Volksfest mit 65.000 Leuten ist das sehr ruhig.. wenn nur das Mädchen nicht gestorben wäre. Das Beschissene daran ist, daß es bei den Hosen ja immer vor allem um Leben ging – um Lebensfreude, Lebenshunger.

Was exakt war der Auslöser, das erste Mal nach dem Unglück die Instrumente wieder in die Hand zu nehmen?

Im Büro lag ein Fax aus Amerika von der „Warped Tour“ mit dem Angebot, in Australien mitzuspielen. Alle haben sofort gewußt: Am anderen Ende der Welt wieder vor vielen Leuten spielen zu können, ist die Möglichkeit, aus dieser Einbahnstraße rauszukommen. Als wir in Australien auf der Bühne vor stagedivenden Leuten standen, ist bei uns allen natürlich der Rheinstadion-Film im Kopf abgelaufen. Die Australien-Sache war ein Riesen-Glück. Ich weiß nicht, wie es sonst gekommen wäre. Wir hatten und haben sehr kontroverse Meinungen, wie mit Konzerten umzugehen ist, und einige von uns hatten definitiv keine Lust mehr, so zu spielen.

Soll das für die Hosen heißen, daß Ihr nie wieder eigene Stadion-Gigs spielen werdet?

Es ist auf jeden Fall noch immer wahnsinnig schwer, in der Band darüber zu reden. Bis heute gibt es Leute in der Band, die das nicht mehr wollen. Ich behaupte: Erst, wenn wir wieder eine Stadionshow gespielt haben, können wir diesen Geist austreiben.

Ist das der Punkt, an dem die Band vielleicht zerbrechen könnte?

Nein, notfalls werden die Stadion-Befürworter zurückstecken. Der einzige Grund, aufzuhören, wäre, daß wir uns verkrachen. Ich verspreche aber hiermit: Dann würde ich tausendprozentig keine neue Band mehr gründen wollen. Das letzte Konzert der Toten Hosen wird auch mein letztes Konzert sein.