Abschied von Rio


ME/Sounds-Autor Michael Fuchs-Gamböck erinnert sich an einen Mann, der für ihn nicht nur Künstler sondern Freund war.

Am Mittwoch, dem 21. August, um 20.13 Uhr, habe ich vor dem Fernseher während der ‚Tagesschau‘ hemmungslos geweint. Es war das erste Mal, das darf man mir glauben. Nein, ich heulte nicht wegen der x-ten Hungersnot in Afrika, nicht wegen neuer schwachsinniger Atomwaffentests, nicht wegen eines weiteren Skandals, den irgendein weiterer Scheiß-Politiker verursacht hatte. Wegen solcher Neuigkeiten habe ich schon vor Jahren aufgehört, Tränen zu vergießen. Das ist die Welt von heute, und die Welt von heute taugt in meinen Augen nicht viel.

Nein, die Meldung, die in meinen tiefsten Inneren einen Staudamm zum Einsturz brachte, war ganz schlichter Natur: „Der Sänger Rio Reiser ist tot, gestorben im Alter von 46 Jahren.“ Mehr habe ich von der Nachricht nicht registriert. Mein Herz blieb für einen Moment stehen. Denn Rio war ein Freund. Und Freunde verliert man nicht gerne. Schon gar nicht an den Tod.

Ich erinnere mich: Daß es mich in meinem alten VW-Käfer, der über und über mit eingekreisten „A“s beklebt war, einmal beinahe aus der Kurve getragen hätte, weil aus dem eingebauten Casettengerät dumpf ‚Keine Macht für niemand‘ schepperte, und ich so lauthals mitgrölte, daß ich mich nicht mehr auf die Straße konzentrierte. Und ich erinnere mich auch, daß ich bei der Abschiedstournee von Ton Steine Scherben während ihres Münchner Konzertes selbstverfaßte Flugblätter verteilte, auf denen ich der Menschheit zu erklären versuchte, was meiner Ansicht nach unter Anarchie zu verstehen ist.

Ein Jahr später startete Rio seine Solokarriere, zwei weitere Jahre später hatte ich – als junger Journalist – Gelegenheit, ihn zum Interview in einem schwäbischen Kaff zu treffen. Wir rauchten prima Shit, aus 30 Minuten Interview wurden zwei Stunden herrlichen Gesprächs. Am Nachmittag trafen wir uns in einem netten kleinen Biergarten und genehmigten uns dermaßen viel Sprit, daß die Veranstaltung am Abend ernsthaft in Frage stand. Natürlich zog er sie ganz Profi – durch, und im Anschluß daran bewies ich ihm, daß Augsburg nicht so langweilig ist, wie der Volksmund immer quäkt.

Ich erinnere mich auch daran, daß Rio der einzige deutsche Musiker war, der bei einer von mir organisierten Aktion der Zeitschrift ‚Wiener‘ inkognito und zwei Stunden lang solo und nur mit der Gitarre in der Hand als Straßenmusiker in der Hamburger Fußgängerpassage zugange war. Gegen 18 Uhr wurde er von einer Geschäftsfrau vertrieben, er hatte 34,10 Mark im Hut und blutige Finger vom Spielen.

Seitdem hatte ich immer wieder Kontakt zu ihm, ich verfolgte seine Karriere konstant, und dachte mir immer öfter: „Scheiße, hoffentlich geht es dem Kerl nicht so schlecht wie er aussieht.“ Mir war klar, daß Rio nicht richtig alt werden würde, weil es die Besten noch nie allzu lange auf diesem Planeten ausgehalten haben.

Aber als ich am Mittwochabend von der ‚Tagesschau‘ überrascht wurde, war das ein Vernichtungsschlag für die Psyche. Ich habe also geheult. Keine Ahnung, ob das irgendwie von Bedeutung ist. Aber wenn ich mir vorstelle, daß sich nur eine einzige meiner Tränen ihren Weg zu Rio nach oben auf den ‚Junimond‘ oder ins ‚Zauberland‘ (wo er sich jetzt zweifelsohne herumtreibt) findet, dann gibt mir diese Vorstellung merkwürdigen Trost. Und dann weiß ich auch, daß der Tod ein Idiot ist, aber gegen echte Freundschaft nichts ausrichten kann. Bye bye, Rio also und – auf ein Wiedersehen…