Aufschwung


Videotheken müssen schließen. Aber Harriet Köhler will ihnen treu bleiben. Allerdings nur, wenn keine toten Vögel vor den Eingängen liegen.

Neulich lag bei mir um die Ecke ein toter Kanarienvogel auf dem Gehweg. Ich war mir nicht sicher, ob es überhaupt ein echter Vogel war, weil er auf dem Rücken lag und seine Beinchen wie Draht in die Höhe ragten, aber ich habe Angst vor toten Vögeln, das ist bei mir geradezu phobisch, darum wechselte ich auf die andere Seite der Straße. Nur deshalb fiel mir auf, dass die Videothek an der Ecke verrammelt war. Die Schaufenster waren mit Pappe verklebt, und in der Türe hing ein Zettel: „Zu vermieten“. Plötzlich fühlte ich mich sehr, sehr müde.

Zugegeben, die Videothek war eine Automaten-Videothek, die ich nicht einmal für Geld betreten hätte, aus lauter Angst, dass ich mir irgendeinen Godzilla oder eine Amélie einfange. Aber es schließen ja nicht nur die Automaten-Videotheken. Die Zahl der Leute, die abends noch mal rausgehen, um sich einen Film zu holen, hat sich seit der Jahrtausendwende halbiert, die Umsätze sinken, da nutzt auch die Erfindung solcher Spielereien wie Blu-ray nichts. Wer halbwegs bei Verstand ist, lädt sich seine Filme aus dem Internet herunter, statt eine Woche lang zu vergessen, eine DVD zurückzubringen und dann 20 Euro abzudrücken, nur weil man mal wieder Lust auf eine Klamotte mit Louis de Funès hatte. Die Videotheken sterben.

Und nicht nur die. Die letzte WOM-Filiale in Stuttgart wurde schon letztes Jahr geschlossen. Der Buchhandel bangt der Ablösung des gedruckten Buches durch das E-Book entgegen. Neulich habe ich mich mit einem Antiquar unterhalten, der sagte, dass es sich nicht mehr lohne, auf Kundschaft für gebrauchte Bücher zu warten, seit man bei Amazon alles für einen Cent bekäme. Er selbst könne sich nur über Wasser halten, weil er sich auf ornithologische Fachliteratur aus dem 19. Jahrhundert spezialisiert habe, die würde im Internet kaum gehandelt. Ein Freund von mir wollte neulich einen Teil seiner Plattensammlung an einen Händler geben, der aber so absurd wenig dafür geboten hat, dass er beschloss, das Zeug in Kisten auf die Straße zu stellen, gratis, zum Mitnehmen. Aber was kann einem ein Händler noch für eine Plattensammlung geben, wenn sich alle 30 Besitzer einer einst ultrararen Promo-Pressung auf Discogs gegenseitig unterbieten, so dass man Platten, für die man vor zehn Jahren noch einen Tageslohn hätte hinblättern müssen, schon für ein paar Euro kriegt.

Ja, ja, wird jetzt der Realist erwidern. Das ist doch alles nichts Neues! Das passiert doch nur, weil das Internet eben der bessere Plattenhändler ist. Du Ewiggestrige, du blöde! Mag ja sein, aber trotzdem. Außerdem find ich’s Scheiße, dass plötzlich wieder ganz Deutschland Aufschwung grölt und die Kleinen unbemerkt trotzdem Pleite gehen.

Ein paar Läden werden sich vielleicht halten, so wie es ja heute auch noch Kurzwarengeschäfte gibt, obwohl sich kein Mensch mehr selber Klamotten näht. Läden wie meine Lieblingsvideothek in München, in der ein schielender Mann wie ein Orakel hinter seinem Tresen sitzt und einem ohne Zögern sagen kann, welcher Hitchcocks erster Farbfilm ist oder in welchem Film der Held vor einem Coke-Automaten steht, aber eine Pepsi zieht. Bei ihm wird man mich dann finden. Wir werden uns den Kaffee mit Cognac aufpeppen, verträumt DVDs polieren und von dem haptischen Erlebnis schwärmen, wenn man eine in den Player schiebt. Vorausgesetzt, man hat ihn bis dahin nicht ersetzt, durch einen Computerapparat mit Internet drin.

Als ich neulich wieder die Straße entlang ging, lag der Kanarienvogel da immer noch, ein platt getretenes Wirrwarr aus Knochen und quietschgelben Federn. Und mir wurde plötzlich klar, dass ich gar nicht müde bin. Nur traurig, und wie.

Harriet Köhler

Die Schriftstellerin hat ihren letzten Roman „Und dann diese Stille“ bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht.

In der nächsten Ausgabe schreibt an dieser Stelle Ariadne von Schirach.